HILDA LÜHRIG-NOCKEMANN. KOLUMNE ZU „100 JAHRE GRUNDSCHULE" : Brennpunktschulen und Privatschulen – eine Blockade für „eine für alle gemeinsame Grundschule“?

21. März 2020 // Hilda Lührig-Nockemann

Eine Schule für alle Kinder – ohne Klassenschranken! Darauf drängten im Kontext der Novemberrevolution 1918 sozialdemokratische und linksliberale Kräfte. Ihr Bestreben war, die Standesbildung des wilhelminischen Kaiserreichs ad acta zu legen und durch neue Volksbildungskonzepte wie die Einheitsschule zu ersetzen. Schließlich wurden mit der am 14. August 1919 verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung im Artikel 146 Abs. 1 „Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf“ die Weichen dazu gestellt. Diese Geburtsstunde der für alle gemeinsamen Grundschule vor 100 Jahren war in den Worten des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) „eine demokratische Revolution in der Schulpolitik“.

zwd.-Chefredakteurin Hilda Lührig-Nockemann
zwd.-Chefredakteurin Hilda Lührig-Nockemann

Eine Schule für alle Kinder – ohne Klassenschranken! Da-rauf drängten im Kontext der Novemberrevolution 1918 sozialdemokratische und linksliberale Kräfte. Ihr Bestreben war, die Standesbildung des wilhelminischen Kaiserreichs ad acta zu legen und durch neue Volksbildungskonzepte, wie die Einheitsschule, zu ersetzen. Schließlich wurden mit der am 14. August 1919 verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung im Artikel 146 Abs. 1 „Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf“ die Weichen dazu gestellt. Diese Geburtsstunde der für alle gemeinsamen Grundschule vor 100 Jahren war in den Worten des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) „eine demokratische Revolution in der Schulpolitik“.

Wohl wahr! Dennoch gelang mit diesem sogenannten Weimarer Schulkompromiss die Installation der Einheitsschule, die Durchsetzung einer Schule für „alle“ Kinder, nicht hundertprozentig. Als Zugeständnis an die Zentrumspartei, auf deren Stimmen man angewiesen war, wurde den Eltern mit Artikel 147 ein Antragsrecht auf Konfessionsschulen zugestanden. Kinder, die einer Religion angehörten, konnten also dem Besuch einer gemeinsamen Grundschule entzogen werden. Ebenso wurde Kindern aus privilegierten Elternhäusern ein Sonderstatus zugestanden Sie durften weiterhin öffentliche und private Vorschulen besuchen. Denn wie das „Gesetz, betreffend die Grundschule und die Aufhebung der Vorschulen“ vom 28. April 1920 festlegte, mussten diese erst mit Beginn des Schuljahres 1924/25 beziehungsweise 1929/30 aufgehoben sein. Dennoch schloss die Weimarer Verfassung nicht aus, dass diese weiterhin mit staatlicher Genehmigung gegründet werden konnten – aber unter dem Vorbehalt, dass „eine Sondierung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird“.

Ausgenommen von der schulischen Gesetzgebung waren Kinder mit Migrationshintergrund. Als „fremdsprachige Volksteile des Reichs“ sollten sie in ihrer volkstümlichen Entwicklung nicht beeinträchtigt werden (Artikel 113 der Weimarer Verfassung). Auch für Kinder mit körperlichen oder Lern-Beeinträchtigungen – oftmals aus sehr armen Elternhäusern – galten die Regelungen des Reichsgrundschulgesetzes nicht. In Paragraf 1, Absatz 2 wurde festgeschrieben, dass das Gesetz für „Hilfsschulklassen“ nicht gelte. Fakt ist somit, dass mit diesem Schulgesetz einerseits Kinder mit einer fremden Sprache oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf vom gemeinsamen Anfangsunterricht per Gesetz ausgeschlossen wurden, andererseits privilegierten oder konfessionell gebundenen Elternhäusern die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihre Kinder einer „für alle gemeinsamen Grundschule“ zu entziehen.

Konnte auch die angestrebte Einheitsschule nicht in aller Konsequenz durchgefochten werden, war der Weimarer Nationalversammlung dennoch der Spagat weg von der Spiegelung des vordemokratischen Ständesystems in der Bildungslandschaft hin zu einer umfassenden Neuordnung des Bildungssystems gelungen. Erstmals besuchten Kinder – Mädchen wie Jungen – unabhängig vom sozialen Status ihrer Eltern und deren Religionszugehörigkeit eine gemeinsame Schule – nicht sechs, auch nicht acht wie von der SPD gefordert, aber immerhin vier Jahre konnten politisch durchgesetzt werden. Vier Jahre gemeinsamen Lernens aller Kinder, das Tor zur Chancengleichheit!

Wie weit ist das Tor zur Chancengleichheit in der Grundschule heute geöffnet? Wieder werden Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit diskutiert. Das damalige Ziel, mit „einer für alle gemeinsamen Grundschule“ getrennten Bildungswegen zumindest in der Schuleingangsphase ein Ende zu bereiten, steht an ihrem 100. Geburtstag wieder auf dem Prüfstand. Und das zu Recht. Denn zwar nicht in allen Grundschulen, aber doch bemerkenswert häufig, ist die damals abgeschaffte Trennung der Bildungswege nach Herkunft wieder Realität. Brennpunktschulen und Privatschulen stehen jeweils für die „abgehängten“ beziehungsweise die „privilegierten“ Schülerinnen und Schüler – eine soziale Selektion ab dem ersten Schultag! So wurde trotz aller pädagogischen Innovationen in den letzten Jahrzehnten, trotz gelungenem konstruktiven Umgangs mit Heterogenität an bestimmten Schulen und trotz der angestrebten Inklusion die Chance auf gemeinsames Lernen für alle Kinder im Grundschulsystem reduziert.

Prof´in i. R. Dr. Margarete Götz und Prof. Dr. Marcel Helbig legen den Finger in die Wunde. Beide sehen, falls dieser Trend anhalten sollte, den – so Götz in GS aktuell, Heft146 – „historisch errungenen Stellenwert der Grundschule als erste und einzige gemeinsame Schule für alle Kinder bedroht“. Der merklich steigende Privatschulsektor im Primarbereich leiste der sozialen und ethnischen Segregation Vorschub, ist das Fazit der beiden Wissenschaftler*innen. Vor allem in westdeutschen Universitätsstädten liege der Anteil privater Grundschulen bei 25 Prozent, in größeren Städten Mecklenburg-Vorpommerns sogar bei bis zu 40 Prozent, konkretisiert Helbig diesen Trend im selben Heft (zuvor in WZB- Mitteilungen vom Dezember 2018). Basierend auf den von Helbig genannten absoluten Zahlen lässt sich ein Prozentanteil von 32,5 Bekenntnisschulen in Nord-rhein-Westfalen errechnen, in Münster beträgt der Anteil nach seinen Angaben sogar 70 Prozent. Immer mehr Eltern würden für ihre Kinder Bekenntnis- oder Privatschulen nutzen, um sie „von Schülerinnen und Schülern mit anderen ethnischen oder weltanschaulichen Wurzeln abzugrenzen“. Neben der von Helbig am Wissenschaftszentrum Berlin geleiteten Studie belegen auch andere, dass zwischen öffentlichen und privaten Grundschulen eine soziale Spaltung besteht. Die größte Ungleichheit im Grundschulbereich ergibt sich jedoch, so der Sozialwissenschaftler, aus der wohnräumlichen Segregation. Mittlerweile gebe es Bezirke, in denen auf der einen Seite kaum noch arme Kinder lebten, auf der anderen Seite mehr als die Hälfte aller Kinder in Familien mit Hartz-IV-Bezug aufwüchsen.

Homogene Wohnviertel führen also in der Konsequenz zu homogenen Schulen, in seiner negativen Ausprägung zu Brennpunktschulen. Deren Schülerschaft stamme zu 80 Prozent, wie SPIEGEL-ONLINE im Januar 2019 am Beispiel Berlin darstellte, aus Familien, die Sozialleistungen bezögen. Armut also ein Indikator für die Verringerung von Bildungschancen! Da – und das ist nichts Neues – Brennpunktschulen als Schulen mit Verhaltensproblemen von Schülerinnen und Schülern, schlechten Lernbedingungen und mangelnden Arbeitsbedingungen bekannt sind, bieten finanzstarke Eltern ihren Kindern verständlicherweise bessere Chancen. Sie melden diese auf Privatschulen an und entziehen sie so der sozialen Durchmischung. Auch wenn festgelegt ist, dass – wie beispielhaft im Bremer Privatschulgesetz §5 im selben Wortlaut wie in der Weimarer Verfassung – „eine Sondierung der Schüler nach Besitzverhältnissen der Eltern“ nicht gefördert werden darf, ist diese Sondierung aufgrund des Einzugs von Schulgeld vorgegeben.

Schulpolitisch wird die Option der Weimarer Verfassung „einer für alle gemeinsamen Grundschule“ nicht in Frage gestellt. Mitte der 60er Jahre wurde in den Bundesländern – ein Quantensprung zu Artikel 113 der Weimarer Verfassung – sukzessiv die Ausdehnung der Schulpflicht auf ausländische Kinder, die Kinder der sogenannten Gastarbeiter, eingeführt. Für Kinder von Asylbewerbern trat sie erstmals 2005 in Nordrhein-Westfalen, von der rot-grünen Landesregierung 2002 auf den Weg gebracht, in Kraft und schwankt in den verschiedenen Bundesländern bis heute zwischen Schulbesuchsrecht und Schulpflicht. Die kulturelle Vielfalt gehört seitdem zum Schulalltag. Aber Chancengleichheit für alle Kinder hat das nicht bedeutet, wie Studien belegen. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hatte sich Deutschland zu einem inklusiven schulischen Bildungssystems verpflichtet. Damit sollte den – 1920 aus dem Reichsgrundschulgesetz noch ausgeklammerten – Kindern mit sonderpädagogischem Förderdarf der Zugang zu allgemeinbildenden Schulen gewährt werden. Sollte, denn nur Hamburg hatte 2012 mit der flächendeckenden Einführung der inklusiven Bildung Zeichen gesetzt. Ein Rechtsanspruch auf gemeinsame Beschulung ist jedoch bis heute nicht in allen Bundesländern verankert und erst recht nicht sind die dafür notwendigen Rahmenbedingungen gegeben.

Heterogenität und Diversität in den Eingangsstufen stehen weder bei Bildungspolitiker*nnen (ausgenommen einer Partei) noch bei Pädagog*innen zur Disposition. Doch die Praxis zeigt, dass an vielen Grundschulen Homogenität anstatt Heterogenität eingekehrt ist. Das kann nicht ohne Folgen bleiben, denn Gene und Umwelt interagieren, wie heute niemand mehr bestreitet. Spielt sich jedoch das Grundschulsys-tem immer mehr auf „gleich und gleich gesinnt sich gern“ ein, geht ein wichtiger Faktor – die Erfahrung von und das Lernen durch Heterogenität – für die Entwicklung des genetischen Potenzials, der kognitiven und der sozialemotionalen Kompetenzen verloren.

Höchste Zeit für Bildungsforschung und Politik dem Trend zu homogenen Schulen gegenzusteuern! Auf die Regulierung durch den Wohnungsmarkt zu warten, wäre Verschenken wertvoller Zeit. Die Kinder brauchen eine schnelle Antwort für Chancengleichheit in einer für alle gemeinsamen Grundschule. Da die Grundschule das Eingangstor zur Bildung ist, muss schon hier der Weitergabe von sozialer Ungerechtigkeit an die nächste Generation ein Riegel vorgeschoben werden. Mit Vorschlägen wie der des Christdemokraten Carsten Linnemann, Schülerinnen und Schülern, die kaum Deutsch verstehen – gemeint waren geflüchtete Kinder –, von der Einschulung zurückzustellen anstatt sie in der Schule zu fördern und zu fordern, würde wohl eher bedeuten den Klassenschranken der Kaiserzeit nun in moderner Form – ­geflüchtete und bildungsferne Kinder betreffend – durch die Hintertür Einlass in die Grundschule zu gewähren.

Die Grundschule muss in der sie kennzeichnenden Heterogenität so positiv gestaltet werden, dass nicht nur die 100 Jahre alte Option „einer für alle gemeinsamen Grundschule“, sondern auch die zeitgemäße Option „einer für alle Bildungsgerechtigkeit bietenden Grundschule“ gesichert wird. Wenn das gelingt, würden Privatgrundschulen ihre Attraktivität verlieren und Brennpunktschulen von der schulischen Landkarte verschwinden. Oder gilt die umgekehrte Reihenfolge: Müssen Brennpunktschulen wie auch Privatschulen als Blockade „einer für alle gemeinsamen Grundschule“ aus dem Grundschulsys-tem verbannt werden, um für alle Kinder Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten? n

(Lesen Sie dazu die Debattenbeiträge in der Ausgabe 376 des zwd-POLITIKMAGAZINs auf den Seiten 18-20)

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