DEBATTE DEMOKRATIEBILDUNG : Demokratie-Lernen in der Schule - aber wie?

24. Juli 2019 // Hilda Lührig-Nockermann

Stand in den 70er Jahren das „soziale Lernen“ als das Aneignen gesellschaftlicher Werte auf der Agenda ­aufgeschlossener Pädagog*innen, verschwand es um die Jahrtausendwende in einer der vielen pädagogischen Schubladen. Grund war der sogenannte Pisa-Schock. Beim weltweit größten Schüler*innentest in 32 Staaten, 2000 erstmals durchgeführt, hatten die deutschen Teilnehmer*innen gerade einmal die Plätze 21 bis 25 ­belegt.

Hilda Lührig-Nockemann, Chefredakteurin
Hilda Lührig-Nockemann, Chefredakteurin

wd Berlin. Zugunsten der durchaus notwendigen Förderung von Lesekompetenz und mathematischem Verständnis gerieten jedoch die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates von 1970, die Schüler*innen auf das „Leben in einem demokratischen Staat“ vorzubereiten und ihnen „demokratische Primärerfahrungen“ zu ermöglichen, in Vergessenheit. Knapp 50 Jahre später erklärte 2018 zum ersten Mal ein Präsident der Kultusministerkonferenz das Thema ­Demokratie-Lernen zum Schwerpunkt seiner Amtszeit. An dessen Ende – bei der offiziellen Übergabe dieses Amtes an seinen Nachfolger Prof. Alexander Lorz (CDU) aus Hessen – unterstrich der thüringische Bildungsminister Helmut Holter (Die Linke) erneut: „Es ist wichtig, dass die Staatsbürger von morgen heute Demokratieerfahrungen machen“ und verband das mit dem Aufruf an die Lehrer*innen, im Unterricht Demokratie zu leben.

In der jetzigen Schulrealität stößt dieser Anspruch ­­jedoch an Grenzen. Hierarchische Strukturen in unserem ­Bildungssystem stellen sich sowohl dem Demokratie-Lernen als auch Demokratie-Leben in den Weg. Schule als ein Ort, auf deren Agenda nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch Demokratiekompetenzen stehen, darf vor einem Paradigmenwechsel nicht zurückschrecken. Der Autoritätsbegriff, der so ausgelegt wird, dass Lehrkräfte „autoritär“ Unterrichtsgeschehen und Meinungsbildung vorgeben, muss überdacht werden. Denn Demokratiekompetenzen prägen sich nur ein, wenn auch die Meinung des Kindes zählt. Partizipationsmöglichkeiten für Schüler*innen gehören sowohl in die Schul- wie Unterrichtsorganisation. Im Klartext bedeutet das: ­Mitsprache- und Gestaltungsrecht der Kinder und Jugendlichen in den schul- und klassenorganisatorischen Belangen sowie die Verabschiedung von rezeptiven Unterrichtsmethoden, lehrer*innenzentriertem Unterricht und kollektivem Lernen! Nur wenn Kinder in der Schule lernen mitzudenken und mitzugestalten, können sie für die Herausforderungen unserer Gesellschaft gewappnet und zu mündigen Bürger*innen herangebildet werden. Natürlich bedarf Demokratie-Lernen eines Fachwissens, bleibt aber eine leere Hülse, wenn demokratische Werte in der Schule nicht gelebt werden (können). Dass sowohl die Kenntnisse über Demokratie wie auch das Erfahren von Demokratie im Schulalltag ein Schattendasein führen, haben Studien wie zum Beispiel die der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Reinhold Hedke und Mahir Gökbudak (Universität Bielefeld) ergeben. Würden jedoch die mit der ­Schule betrauten Minister*innen der Länder genauer hinsehen, welchen Stellenwert dem Demokratie-­Lernen an den Schulen ihres Bundeslandes ­eingeräumt wird, und auf ­deren Umsetzung pochen, ­hätte der notwendige Paradigmenwechsel längst verwirklicht ­werden können. Denn in ­ihren Reihen ­wurde vor zehn Jahren der Beschluss mit dem Titel ­„Demokratie als Ziel, ­Gegenstand und Praxis ­historisch-politischer Bildung und ­Erziehung in der Schule“ gefasst und im Oktober 2018 unter der KMK-Präsidentschaft von Holter auf 13 Seiten in neuer Fassung aktualisiert. Darin erklären die Bildungsminister*innen die „demokratische Schul- und Unterrichtsentwicklung als ­Querschnittsaufgabe“ und definieren die „gelebte Demokratie [als] ein grundlegendes Qualitätsmerkmal unserer Schulen“. Ein eindeutiges Signal der Kultusministerkonferenz, Demokratie-Lernen in der Schule zu gewährleisten.

Doch Absichtserklärungen auf dem Papier reichen nicht aus. Solange – sicherlich nicht nur in Nordrhein-Westfalen – Politikunterricht in der Sekundarstufe I bedeutet „17 Minuten Politik, 20 Minuten Redezeit“ (Mahir Gökbudak; Prof. Reinhold Hedke), driften der Soll- und der Ist-Zustand weit auseinander. Solange Partizipation von Schülerinnen und Schülern, die die KMK als „wesentlichen Bestandteil des Bildungs- und ­Erziehungsauftrags“ hervorhebt, nur in Ansätzen realisiert wird, entspricht die Schulpraxis vom Demokratie-Lernen noch der Note „mangelhaft“. Die Wahl von Klassensprecher*innen und die bisherige Form der Schülermitverwaltung sind nicht ausreichend. Ein Mitspracherecht bei der Auswahl von Lerninhalten, zum Beispiel welche Themen im Sach- oder Politikunterricht behandelt, welches Buch oder Gedicht für ­Textanalysen herangezogen werden soll, müssen zur Selbstverständlichkeit werden. Selbst bei der Gestaltung der Lehrpläne können Präferenzen der Schülerinnen und Schüler einfließen, damit deren Lebenswirklichkeit aufgegriffen wird.

Zum Demokratie-Leben gehört das Einüben von ­Sozialkompetenzen. Solange sich Kinder und Jugendliche vor Mobbing und Gewalt an Schulen fürchten, liegt hier im Sozialverhalten etwas im Argen. Demokratische Werte – wie die Würde des Menschen nicht verletzen, Respekt gegenüber anderen bezeugen, Meinungsvielfalt und -freiheit zulassen, Gleichberechtigung und Gleichstellung ­akzeptieren, Solidarität mit Schwächeren üben, ­Mehrheiten akzeptieren und Minderheiten respektieren – müssen einen Platz in der Schulrealität haben. Denn die Forschung belegt, dass sich Demokratiekompetenzen nur einprägen, wenn sie auch dauerhaft gelebt werden. Und vielleicht bedarf es zum ­Erlernen von demokratischen Spielregeln auch eines neuen Lehrer*innentyps und eines neuen Rollenverständnisses, das wiederum eine Reform der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften erfordert.

Einigkeit besteht: ein Ja zum Demokratie-Lernen in der Schule! Offen bleibt die Frage, die wir zum Thema unserer Debatte gemacht haben: Wie wird es umgesetzt?

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