DEBATTE IM BUNDESTAG : Linke und Grüne wollen Rechte von benachteiligten Kindern stärken

19. Juni 2020 // Ulrike Günther

Die Corona-Krise hat den Alltag von Kindern verändert: Kontaktsperren, geschlossene Schulen und Jugendhilfe-Einrichtungen haben ihre Rechte massiv eingeschränkt. Besonders Kinder aus ärmeren Familien sind von den ungünstigen Folgen betroffen, und die Bildungschancen sind noch ungerechter verteilt als vorher. Linke und Grüne haben sich heute (19. Juni) im Bundestag für stärkere Rechte von Kindern eingesetzt, die SPD hat eine Kindergrundsicherung für alle vorgeschlagen.

Kinder lernen in der Grundschule. - Bild: PxHere
Kinder lernen in der Grundschule. - Bild: PxHere

zwd Berlin. Die am Anfang der Krise von der Politik getroffenen Entscheidungen zum Eindämmen der Epidemie haben nach Ansicht der Linken „verheerende Folgen“ gehabt, besonders Kinder aus unterprivilegierten Elternhäusern hätten darunter gelitten. Daher möchte die Linksfraktion dafür sorgen, dass die „Schere zwischen Arm und Reich“ durch die Krise nicht noch größer wird, wie der kinder- und jugendpolitische Sprecher Norbert Müller betonte. Laut einer von dem Linken-Politiker vor dem Parlament zitierten aktuellen Studie des Kindheitswissenschaftlers Prof. Michael Klundt hat sich gezeigt, dass „die soziale Polarisierung deutlicher als vorher hervorscheint“.

Linke: Kindergipfel für mehr gesellschaftliche Teilhabe von Kindern

In mehreren, dem Bundestag zur zweiten und dritten Lesung vorgelegten Anträgen (Drs. 19/18941, 19/19145) fordert die Linksfraktion u.a. „kindgerechte Pandemiepläne“, welche die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes beachten, und einen Rettungsschirm für benachteiligte Familien mit einem monatlichen Zuschuss von 200 Euro für Empfänger*innen von Arbeitslosengeld (ALG) II sowie einem unabhängig von der Eltern-Kind-Konstellation gezahlten „Corona-Elterngeld“. Ein Kindergipfel im Kanzleramt soll es Kindern und Jugendlichen, insbesondere Vertreter*innen von Kinderparlamenten, Jugendhilfeausschüssen und Jugendverbänden, im Beisein der Familienminister*innen der Länder sowie Fachleuten ermöglichen, ihre während der Krise weitgehend vernachlässigte Sichtweise einzubringen, und ihnen gesellschaftliche Teilhabe gewähren.

In zwei weiteren Anträgen (Drs. 19/20025, 19/20029) entwerfen die Linken ein „Kitaqualitätsgesetz“, das bessere Ausstattung, Betreuungsverhältnisse und höher qualifizierte Fachkräfte in Kindergärten sicherstellen soll. Das Konjunkturprogramm sollte nach Auffassung der Linken Angebote der Kinder- und Jugendhilfe mit Investitionsmitteln in Höhe von 2 Milliarden Euro stärken. Beschäftigten in Horten, Kitas und anderen sozialen Diensten sollte man nach dem Willen der Linksfraktion einen „Pandemiezuschlag“ von 25 Prozent ihres Bruttolohnes zahlen, der ihren erhöhten Arbeitsaufwand sowie gesundheitliche Risiken während der Epidemie ausgleicht.

Union: Kindertagesbetreuung wichtige politische Aufgabe

Union und SPD verteidigten in der Debatte die von der Koalition bisher zum Auffangen finanzieller Zwangslagen von Familien ergriffenen Maßnahmen, wie den Lohnersatz in Höhe von 67 Prozent des Nettogehaltes und eine mehrtägige Lohnfortzahlung für Elternteile, die wegen der Betreuung eines Kindes in der Krise nicht arbeiten gehen können. Darüber hinaus lobten die Koalitionspartner den für 2020 bis 2021 auf 4.008 Euro mehr als verdoppelten Entlastungsbetrag für Alleinerziehende und den nicht auf Sozialleistungen anzurechnenden Notfall-Zuschlag für Familien mit geringen Einkommen. Weiterhin erwähnten sie die ergänzend zum DigitalPakt in die digitale Technik an Schulen investierten 500 Millionen Euro sowie den im Konjunkturpaket vorgesehenen Kinderbonus von 300 Euro pro Kind, der gerade sozial benachteiligten Familien zugutekommen soll.

Kinderrechte im Grundgesetz (GG) sollten aus Sicht der Union sowohl für Kinder als auch für Familien einen Mehrwert bieten. Der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion Markus Weinberg nannte Teilhabe und Schutz von Kindern als wichtige Rechte, die im GG zu verankern seien, empfahl aber beim Bekämpfen von häuslicher Gewalt gegen Kinder auch Prävention, gezielte Ausbildung von Richter*innen und verbesserte Betreuung von Opfern als wichtige Maßnahmen. Die Politik müsse Kinder „auf allen Ebenen, mit allen Möglichkeiten in ihrer Positionierung stärken“, erklärte Weinberg. Das soll nach Angaben des Unions-Sprechers bis spätestens nach der Sommerpause geschehen. Eine Qualitätssteigerung bei der Kindertagesbetreuung, wie sie die Linken anstreben, nannte Weinberg „eine der wichtigsten politischen Aufgaben“ der Zeit.

SPD will Kindergrundsicherung für alle einführen

Familien hätten in den vorausgegangenen Wochen „Unglaubliches geleistet und durchstehen müssen“ unterstrich der SPD-Politiker Stefan Schwartze. Er sieht neben Ängsten um Gesundheit und den Erhalt des Arbeitsplatzes die Sorge von Familien um ihr Einkommen als eine der drängendsten Herausforderungen während der Krise. Das Mitglied im Familienausschuss Schwartze hob die für die Dauer der Epidemie getroffene Kurzarbeiter-Regelung, welche seine SPD-Fraktion gegen erhebliche Widerstände aufseiten der Union durchgekämpft habe, als einen „Erfolg für die Familien“, da sie „Millionen von Jobs“ und damit auch die Lebensgrundlage von Eltern mit Kindern rette. Arbeitnehmer*innen erhalten demnach, gestaffelt nach Bezugsmonaten, 60 bis 80 Prozent, Erwerbstätige mit Kind 67 bis 87 Prozent ihres Netto-Gehaltes.

Mit den im Konjunkturpaket veranschlagten zusätzlichen Fördermitteln für den Ausbau der Kita- und Ganztagsbetreuung von insgesamt 3 Milliarden Euro erreiche die Regierung nach Aussagen von Schwartze eine „wirkliche Verbesserung“ für das Vereinbaren von Familie und Beruf und schaffe für Eltern und Kinder eine „dauerhafte und gute Infrastruktur“. Als ein durch die Corona-Krise umso wichtiger erscheinendes Anliegen der SPD-Fraktion bezeichnete es Schwartze, einen „eigene(n) Leistungsanspruch für Kinder“ einzuführen, und warb für den Vorschlag einer „Kindergrundsicherung“ für alle. Damit ließe sich laut Schwartze das „Drei-Klassen-System“ aus Sozialleistungen, Kindergeld bzw. steuerlichen Freibeträgen abschaffen. Mit Blick auf die gemäß Koalitionsvertrag im GG festzuschreibenden Kinderrechte machte der SPD-Abgeordnete seine Auffassung deutlich, dass „Kinder in unserer Gesellschaft gar nicht genug Rechte haben können“, wie die Ereignisse der vergangenen Wochen gezeigt hätten.

Grüne: Gerechtigkeitspaket soll faire Bildungschancen gewährleisten

Die Grünen-Fraktion will mit einem eigenen, vom Bundestag ebenfalls in zweiter und dritter Lesung debattierten Antrag (Drs. 19/19146) die Rechte der Kinder während der Krise schützen und fordert die Bundesregierung auf, ihre Bedürfnisse und Perspektive zu berücksichtigen. Die Grünen-Politikerin Charlotte Schneidewind-Hartnagel wies auf die „massiven Auswirkungen“ der Schutzmaßnahmen auf die Rechte von Kindern hin. Inzwischen hätten sich die familiären Konflikte durch die Krise verschärft, und aktuelle Daten belegten, dass die Gefahr häuslicher und sexualisierter Gewalt gestiegen ist. Sie stellte heraus, dass die Gesundheitsvorsorge den Schutz von Kindern nicht beeinträchtigen dürfe, ebenso wie ihr Anspruch auf gerechte Bildungschancen erhalten bleiben müsse.

SPD, Grüne und Linke für starke Kinderrechte im Grundgesetz

Das Mitglied in der Kinderkommission Schneidewind-Hartnagel kritisierte, dass in den bisherigen Entscheidungen der Politik die Interessen von Kindern kaum vorgekommen seien und verlangte, dass man „nicht nur über, sondern mit den Kindern“ sprechen solle. Daher befürwortete sie den Linken-Vorschlag eines Kindergipfels, der es erlauben könne, „dem Wohl und den Rechten von rund 13 Millionen Kindern gerecht zu werden“. Kinder hätten Schneidewind-Hartnagel zufolge neben dem Recht auf Schule und Bildung auch Rechte auf Spielen, Freizeit und Bewegung, die man nicht außer Acht lassen dürfe. Wie SPD und Linke machen sich die Grünen dafür stark, Kinderrechte in umfassender Form in das GG einzuschreiben. Über ein „Gerechtigkeitspaket für faire Bildungschancen“ wollen die Grünen Kinder aus benachteiligten Elternhäusern u.a. mit ergänzender Lernförderung, aufsuchender Schulsozialarbeit bis hin zu Freizeitangeboten in der Krise unterstützen.

„Wir müssen verhindern, dass Kinder vom digitalen Lernen ausgeschlossen werden“, bekräftigte Schneidewind-Hartnagel den Standpunkt ihrer Fraktion, dass Kinder trotz schlechterer Startbedingungen die gleichen Rechte auf Schulbildung haben. Für Kinder mit besonderem Förderbedarf sollte es gemäß dem Grünen-Antrag ein „pädagogisches Präsenzangebot“ geben. Um die finanzielle Situation von Familien zu verbessern, sollten anspruchsberechtigte Kinder aufgrund des Wegfalls von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket automatisch einen Zuschlag von 60 Euro erhalten. Schon im April hatten die Grünen einen Antrag (Drs. 19/18710) ins Parlament eingebracht, in dem sie die Regierung auffordern, die Lohnfortzahlungen zu einem „Corona-Elterngeld“ zu erweitern, bei dem u.a. Home-Office nicht als eine Option der Kinderbetreuung gewertet wird.

Liberale fordern, Beruf und Ausbildung von Erzieher*innen aufzuwerten

Nach Meinung des Vorsitzenden der Kinderkommission Matthias Seestern-Pauly (FDP) sind die von Familien und Fachkräften erfahrenen enormen Belastungen nicht allein auf die Vorsorgemaßnahmen in der Corona-Krise zurückzuführen. Stattdessen erkennt er in ihnen u.a. die Folgen von „strukturellen Versäumnissen“ der Koalitionsregierung. Er wandte sich gegen ein „schlecht gemachte(s) Kita-Gesetz“, welches nicht gezielt mit entsprechenden Regelungen die Qualität der Betreuungsangebote steigere. Vor dem Parlament legte Seestern-Pauly einen Schwerpunkt auf die Arbeit im Bereich der frühkindlichen Erziehung und zählte „ernüchternd(e)“ Fakten, wie hohen Krankenstand unter den Fachkräften und geringe Verweildauer in Jobs, auf. Um dem entgegenzuwirken, rief er die Regierung dazu auf, „verbindliche Maßnahmen“ zu ergreifen und den Erzieherberuf aufzuwerten.

Dazu gehört wie für SPD, Grüne und Linke auch für die Liberalen einerseits eine vergütete, bundesweit an einheitlichen Standards ausgerichtete Ausbildung ohne Schulgeld. Andererseits hält es Seestern-Pauly zugunsten verbesserter Rahmenbedingungen im Arbeitsalltag für unerlässlich, Fachkräfte z.B. durch das Einsetzen „multiprofessioneller Teams“ von Verwaltungsaufgaben zu entlasten und die Erziehertätigkeit durch ein vielseitiges Angebot von Weiterbildungen attraktiver zu machen. Die beiden erstgenannten Anträge der Linken sowie der Grünen-Antrag wurden vom Parlament gemäß Beschlussempfehlung (Drs. 19/19548, 19/19819) abgelehnt, wobei sich abwechselnd Liberale, Grüne und Linke der Stimmen enthielten. Die beiden anderen Linken-Anträge wurden zur weiteren Beratung an den federführenden Familienausschuss überwiesen.

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