KOMMENTAR: zwd-HERAUSGEBER HOLGER H. LÜHRIG : 23 Regionalkonferenzen ohne ein klares Ergebnis – Wer kann die SPD in eine neue Ära führen?

17. Oktober 2019 // Holger H. Lührig

Über volle Häuser hat sich die SPD-Parteispitze bei ihren 23 Regionalkonferenzen, auf denen sich die Kandidat*innen für den SPD-Parteivorsitz vorstellen durften, wirklich nicht beklagen müssen. Trotz des engen, auf zweieinhalb Stunden begrenzten Korsetts erlaubten die Veranstaltungen eine gewisses Bild davon, was die am Ende nur noch zwölf übrig gebliebenen Frauen und Männer bewogen hat, sich für den Parteivorsitz zu bewerben.

Holger H. Lührig, zwd-Herausgeber
Holger H. Lührig, zwd-Herausgeber

zwd Berlin. Zu wenig wurde dabei deutlich, von wem erwartet werden darf, dass er/sie das Zeug haben, die Sozialdemokratie zu neuer Stärke zu führen, und wie sie das erreichen wollen. Natürlich schreibe ich diese Bemerkung subjektiv gefärbt durch die Brille eines langjährigen politischen Beobachters wie auch als ebenso langjähriges Mitglied der SPD. Ich habe viele Höhen und Tiefen der Partei erlebt und nicht selten auch mit meiner Partei gehadert, wenn etwa der Parteivorsitz von einigen wie eine Wegwerf-Ware behandelt wurde (Lafontaine, Schulz, Nahles). Ich glaube zwar nicht, dass der SPD-Vorsitz das „schönste Amt nach dem Papst“ ist, wie Franz Müntefering einmal gesagt hat. Aber als ehrenvolle Aufgabe sollte es schon begriffen werden, an der Spitze dieser 150 Jahre alten Traditionspartei zu stehen. In der Vergangenheit mussten SPD-Vorsitzende oft einen dicken Panzer haben, um angesichts von Sticheleien aus den Hinterzimmern sozialdemokratischer Funktionsträger oder nach kräftigen Schienbeitritten, zuweilen auf offener Bühne, nicht die Balance zu verlieren.

Nun also ein neuer Anlauf, verknüpft mit dem Versprechen, nie wieder Parteivorsitzende vom Hof zu jagen, sondern ganz schön solidarisch mit der neu zu wählenden Führung umzugehen. Der gute Vorsatz ist leicht formuliert, zeigt sich in seiner Tragfähigkeit aber erst nach den nächsten (verlorenen oder zumindest nicht siegreichen) Wahlen.

Selbst ein mit historisch einmaliger 100-prozentiger Zustimmung ausgestatteter SPD-Chef (Martin Schulz) hat erfahren müssen, wie schnell das Vertrauen wegbröckelte, als die Wahlen im Saarland und in NRW den Himmel vor der Bundestagswahl verdunkelten. Dabei trug Schulz letztlich wenig Verantwortung für die Ergebnisse in den Ländern. Aber selbst dann noch, als er ein Bundestagswahlergebnis von 20,5 Prozent – das bisher schlechteste Ergebnis der SPD bei Bundestagswahlen überhaupt, wenngleich nach aktuellen demoskopischen Umfragen ein Traumergebnis – einfuhr, hat er die Chance verspielt, als Parteivorsitzender den Neuanfang zu organisieren. Stattdessen ließ er sich auf die Verlockung des machtvolleren Außenministeriums ein und warf den Parteivorsitz hin. Auch seine Nachfolgerin Andrea Nahles stellte den Vorsitz-Stuhl vor die Tür, als sie erkennen musste, dass die geballte Machtkonzentration des Partei- und Fraktionsvorsitzes für sie eine Bürde wurde, die nicht zu bewältigen war: Sowohl die Partei erneuern als auch in der Groko Kurs halten, das konnte nicht gelingen.

Wenn die Sozialdemokratie nicht noch tiefer in den Abgrund rutschen soll, ist mehr notwendig, als in einer 23-maligen Castingshow ein neues Führungsduo auszugucken. Erst einmal müsste die Partei in schonungsloser Selbstkritik wirkliche Lehren aus den Wahldesastern der vergangenen Jahre ziehen. Zu schnell sind die jeweiligen Parteiführungen zur Tagesordnung übergegangen. Verantwortlichkeiten wurden mit der Behauptung, man(n) habe gelernt und verstanden, beiseite gewischt. Die tatsächliche strukturelle Krise der Sozialdemokratie wurde nicht ernsthaft aufgearbeitet, sondern dem Tagesgeschäft untergeordnet. Nicht wenigstens parteiöffentlich wurde ausreichend hinterfragt,

  • warum der SPD die Kampagnenfähigkeit und -kompetenz verloren gegangen ist und wie sie wiederhergestellt werden kann,
  • warum es nicht gelungen ist, Mitglieder in qualifizierter Form anzusprechen und in eine Mitarbeit einzubinden.

Einerseits dürfte das daran liegen, dass die Parteiführung zu sehr um sich selbst gekreist hat statt den Dialog mit der eigenen Basis zu suchen. Es blieb eher bei Ankündigungen wie „Raus an die Basis, da wo Debatten geführt werden und die manchmal weh tun“. Andererseits hat die Partei die Meinungsführerschaft in der Demokratiedebatte wie auch beim Klimaschutz und der Digitalisierung anderen Parteien überlassen, geschweige denn, sich als sprachfähiges Bollwerk gegen den Rechtspopulismus profiliert.

Die Partei muss aus diesen Tatsachen Konsequenzen ziehen, aber auch wahrnehmen, dass wir in einer Mediokratie leben. Das heißt: Programme allein können nicht überzeugen, sondern dies gelingt nur mit Personen, die solche Programme glaubwürdig, authentisch, mit Mut und Konsequenz vertreten. Vor diesem Hintergrund sind die Kandidaturen für die Parteispitze zu beurteilen. Nach meiner Einschätzung ist auch das Vorhaben, lediglich die beiden Teams mit den besten Stimmergebnissen in einer Stichwahl antreten zu lassen, kein zu Ende gedachter Plan. Was wäre, wenn der Abstand zwischen den Teams sehr gering sein sollte und jeweils weit unter 50 Prozent bliebe? Auch die Zusammensetzung der jetzt freiwillig gebildeten Teams muss nicht zwingend so bleiben, denn der Parteitag ist an diese personellen Vorgaben der Teamkandidaturen nicht gebunden. Die Eine mag überzeugen, der Andere nicht – oder umgekehrt. Was dann? Mindestens sollten sich manche Bewerber*innen im nächsten Parteivorstand wiederfinden können.

Meine Überzeugung ist, dass die Ausrichtung der Partei auf digitale Kommunikation zwar für die Gewinnung von Neumitgliedern im Juso-Alter nützlich und kostengünstig ist, aber unbeachtet lässt, dass ein nicht geringer Anteil der über 60 Jahre alten Parteimitglieder mit dem Umstieg auf digitale Kommunikation wenig anzufangen weiß. Darüber dürfte das Abstimmverhalten – wer online und wer mit Brief abstimmen wird – Aufschluss geben. So oder so sind aus dem Kommunikationsdesaster, das dem Wahldesaster voranging, keine Konsequenzen für die SPD-interne wie -externe Kommunikation gezogen worden. Den „Vorwärts“ demnächst aus Kostengründen nur noch digital anzubieten, ist der falsche Weg. Statt als Verlautbarungsorgan der Parteiführung sollte das Blatt als schlagkräftiges Nachrichtenmagazin ausgestaltet werden. Aber dazu bedarf es Mut und Phantasie einer neuen Parteiführung.

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