KRITIK AN LEOPOLDINA-PAPIER ZU CORONA : Allmendinger: Empfehlung nimmt jungen Berufstätigen ein Stück Zukunft

15. April 2020 // Holger H. Lührig

Von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Vorfeld der heutigen Beratung der Regierungschef*innen als "sehr wichtig" und von Bundesforschungsministerin Anja Karliczek als "exzellent" hoch gelobt, mehren sich inzwischen kritische Stimmen zu der Ad hoc-Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Bezweifelt wird die einseitige virologische Ausrichtung der Empfehlung und die mangelhafte Interdisziplinarität. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin Prof. ´in Jutta Allmendinger, bemängelt zudem die Zusammensetzung der Leopoldina-Arbeitsgruppe: nur zwei Frauen unter 26 Mitgliedern.

Hauptgebäude der Leopoldina in Halle (Foto: Markus Scholz für die Leopoldina)
Hauptgebäude der Leopoldina in Halle (Foto: Markus Scholz für die Leopoldina)

zwd Berlin (ig). In Berliner Senatskreisen wird das Leopoldina-Papier als ein "Meinungsbild" von Forschern bewertet, das nicht als Stufenplan wissenschaftlich unterlegt sei. Vor allem wird klargestellt, dass eine schrittweise Lockerung der Ausgangsbeschränkungen, wie dies von der Leopoldina im Hinblick auf eine partielle Öffnung von Schulen, Kindertagesstätten und Kleinbetrieben und kleinen Einkaufsläden angedacht wurde, nicht kurzfristig gestartet werden könne. Wesentliche Voraussetzungen dazu müssten zuvor sorgsam bedacht werden.

Prosessorin Jutta Allmendinger (Foto: WZB)

Prof. in Allmendinger (Bild), die der Experten-Task force zur Bekämpfung des Corona-Virus des Berliner Senats angehört, bemängelte in einem am heutigen Mittwoch erschienenen Interview im Berliner "Tagesspiegel", dass die Leopoldina-Wissenschaftler in der Vorbereitung ihrer Stellungnahme die Expertise aus dem Kreise ihrer 1600 Mitglieder nicht genutzt habe, insbesondere auch nicht Spitzenforscherinnen wie Cordula Artelt (Nationales Bildungspanel) oder Petra Stanat (Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen). Für die Professorin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin Sabine Hark ist die Empfehlung der Leopoldine Ausdruck der Männersicht in diesem Wissenschaftsgremium. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Doris Achelwilm wundert sich in einem Twitter-Beitrag nicht darüber, dass geschlechterrelevante Auswirkungen der Corona-Krise im Text und in der Empfehlung kaum vorkommen. Für Allmendingen ist es an der Zeit, dass solche Wissenschaftskommissionen sich nicht nur nach dem Geschlecht, sondern darüber hinaus auch bezogen auf die Vielfalt der Wissenschaftsdisziplinen die Diversität der Gesellschaft abbilden. Dazu sei aber eine klare Vorgabe der Politik gefordert.

Giffey: Leopoldina-Empfehlungen auf Alltagstauglichkeit prüfen

Mit deutlichen Worten hat sich auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD von der Jubelbotschaft ihrer Kabinettskollegin Karliczek (CDU) abgesetzt. In einem Pressestatement, das von ihrem Haus verbreitet wurde, plädiert sie dafür, die Leopoldina-Empfehlungen erst einmal auf ihre "Alltagstauglichkeit zu prüfen", Es nütze niemandem, die Regeln an einigen Stellen zu lockern, aber damit an anderer Stelle die Probleme zu verschärfen. Das gelte zum Beispiel für die Frage, wann und wie Kitas wieder öffnen könnten. Nach den Worten der Ministerin muss unbedingt mitbedacht werden, "dass Eltern bei der Betreuung von kleinen Kindern zuhause zusätzlich zum Homeoffice zunehmend an ihre Grenzen stoßen". Gerade Alleinerziehende könnten das nicht länger ohne Entlastung von außen leisten. Deshalb müsse bei weitergehenden Maßnahmen das Thema Vereinbarkeit eine Rolle spielen. "Wir brauchen jetzt Szenarien, die beispielsweise die Größe von Räumen oder die notwendige Anzahl von Erzieherinnen und Erziehern berücksichtigen. Und natürlich müssen hygienische Schutzmaßnahmen getroffen werden. Es ist auch ein pädagogischer Auftrag, Kindern zu vermitteln, wie wichtig Händewaschen und Hygiene sind."

Unter den Länderministerpräsident*innen herrscht offenbar bis zur für heute (14.00 Uhr) angesetzten Videokonferenz der Bundeskanzlerin Uneinigkeit darüber, in welchem Umfang und wann Schulen wieder geöffnet werden sollten. Bliebe es bei einer Verlängerung der Kontakteinschränkungen, müssten Länder wie NRW und Brandenburg die für die Zeit nach den Osterferien angesetzten Abiturprüfungen mindestens in den Mai verschieben. Die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) wird mit den Worten zitiert, entweder blieben die Schulen weiterhin geschlossen, dann hätten die Abiturient*innen ihre Schule ganz für sich allein oder die Schulen seien generell wieder geöffnet, dann sei es ebenfalls gerechtfertigt, die Abiturklausuren nach dem 19. April schreiben zu lassen.

In der nächsten Ausgabe des zwd-POLITIKMAGAZINs (378): Deutschlands Wissenschaftsexpertise auf Corona-Virologie verkürzt.

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