DIE REFORM-KOALITION : Aufbruch in eine neue Ära: Das Menetekel von 1982 mahnt

14. Februar 2022 // Holger H. Lührig

Mit den Reformperspektiven der Koalition von SPD, Grünen und FDP beschäftigt sich der Kommentar des Herausgebers Holger H. Lührig im zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 389. Er mahnt aufzupassen, dass der neue Geist, der Bundestag und Kanzleramt beherrscht, nicht verweht oder gar verspielt wird. Lührig erinnert an 1982, als die FDP den Bruch der damaligen sozialliberalen Koalition herbeiführte.

Es durfte nicht erwartet werden, dass die übliche Schonfrist, die einer neuen Regierung üblicherweise eingeräumt werden sollte, auch im Falle der Ampel akzeptiert würde. Trotzdem erstaunt schon, dass die Mehrzahl der Medien, namentlich auch ZDF und teilweise ARD, mit der neuen Kabinettsriege nicht nur wenig zimperlich umgegangen ist, sondern vielmehr wiederkehrend die Parolen von der „Spaltung der Gesellschaft“, von der Unzufriedenheit mit dem neuen Kanzler („Wo ist Scholz?“) und von dem „chaotischen“ Corona-Management verbreiteten, ohne auf die ursächlichen Zusammenhänge mit dem Handeln der unionsgeführten Vorgänger-Regierungen einzugehen. Sie übernahmen damit den Part, solange sich die Union nicht hinter Friedhelm Merz versammeln konnte, der neuen Regierung am Zeuge zu flicken. Das scheint sich zu ändern, denn in den Unionsparteien wächst das Bewusstsein, dass Opposition „Mist“ ist (Ex-SPD-Chef Franz Müntefering) und viele zu vergebende Posten und Gestaltungschancen nun von den Regierungspartnerinnen SPD, Grüne und FDP genutzt werden.

Wie in den ersten 50 Tagen die Regierung und die sie tragenden Fraktionen agierten und wie sich die „Neuen“ (häufig jungen Abgeordneten) in das parlamentarische Geschehen eingebracht haben, ist ein zentrales Thema der Ausgabe des zwd-POLITIKMAGAZINs Nr. 389. Dabei zeigte sich bei den Fachdebatten im Bundestag zur Frauen- und Gleichstellungspolitik ebenso wie in der Bildungs- und Kulturpolitik, dass der Ampel-Koalitionsvertrag zwar einige Fragen offengelassen hat (wie Jutta Allmendinger bemängelt), insgesamt aber eine gute Voraussetzung für einen neuen Aufbruch bietet. Unser Land wird, wie es die SPD-Bundestagsabgeordnete Carmen Wegge ausdrückte, nun auch rechtspolitisch endlich im 21. Jahrhundert ankommen. Das gilt nicht nur für die Abschaffung des unzeitgemäßen § 219a oder die Reform des tradierten, lange auf die christliche Ehe ausgerichteten Familienbildes. Auch das neue Einwanderungsrecht und das geplante Demokratiefördergesetz werden das Land verändern. Hier, wie in der Bildungs- und Kulturpolitik, wird spürbar werden, dass und wie aus der Zeit gefallene Traditionen einem modernen staatlichen Handeln weichen.

Dabei ist die neue Koalition ohnehin schon vor enorme Herausforderungen gestellt – nicht nur durch die Ukraine-Krise und die Pandemie (einschließlich Bewältigung der Schuldenlasten), sondern auch angesichts des erheblichen Modernisierungsstaus auf vielen gesellschaftlichen Feldern. Das verlangt entschlossene Regierungsarbeit und eine gute Kommunikation darüber (was bisher zu wenig erkennbar war). Wir lernen: Investitionen sind überall überfällig, ob bei der Digitalisierung, der Modernisierung der Infrastruktur in Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und zur Bewältigung des Klimawandels, um nur einige Felder zu benennen.

Die Ampel hat ein Jahrzehnt der Gleichstellung versprochen (liefern muss nicht nur Ministerin Anne Spiegel, sondern müssen alle Kabinettsmitglieder), beste Bildung für alle (liefern muss Bettina Stark-Watzinger, die dabei auch noch schaffen muss, die Länder ins Boot zu holen), eine nationale Weiterbildungsstrategie, die angesichts des wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Wandels den Qualifikationsansprüchen an die Arbeitnehmer:innen für die nächsten Jahrzehnte Rechnung trägt (liefern muss hier vor allem Hubertus Heil) und eine Reform des Familienrechts (liefern müssen Marco Buschmann und Anne Spiegel).

Ein Scheitern der Reformen verbietet sich für die Ampel-Parteien, denn ein Rückfall in Denkmuster der letzten 16 Jahre der Merkel-Ära wäre für Deutschlands Zukunftsperspektiven eine Katastrophe. Dazu wird es nicht kommen, weil auch die Unionsparteien sich moderner aufstellen und auf manche lieb gewonnenen Anschauungen verzichten müssen, wenn sie wieder regierungsfähig werden wollen. Auch wenn in unserer schnelllebigen und vergesslichen Zeit niemand mehr von den Spahns, Scheuers oder Seehofers mehr spricht: Vergessen wird das nicht – das Chaos in der Pandemie-Bewältigung, die Versenkung von Steuermilliarden (Verkehr, Verteidigung) oder die langanhaltende Verharmlosung der Feinde unserer grundgesetzlichen Ordnung (durch Innenministerium und Verfassungsschutz). Insofern haben die Ampel-Parteien gute Chancen, vieles besser zu machen.

Bedeutsam scheint dabei, dass sich vor allem die Freien Demokraten auf ihre Rechtsstaatsprinzipien im Sinne eines Freiheitsbegriffs besinnen, der bei aller Wahrung individueller Freiheiten die Verantwortung des Einzelnen für die Gesamtheit stärker gewichtet als die lautstarken Stimmen einer kleinen, nur auf sich selbst bezogenen Minderheit. Gerade jetzt, wo sich die Erinnerung an die Reformen der Willy-Brandt-/ Walter Scheel-Ära zum 50. Male jährt (1969/72), wäre es fatal, nicht gleichzeitig an ein anderes Ereignis vor 40 Jahren zu denken – an den Bruch der Sozialliberalen Koalition durch die FDP im Jahr 1982. Damals bescherten die FDP-Politiker Genscher und Graf Lambsdorff der Union die Machtübernahme und dem CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl die Kanzlerschaft an der Spitze ­einer „christlich-liberalen“ Bundesregierung. Trotz des in diese Ära fallenden Geschenks der deutschen Wiedervereinigung (1990) ist die CDU/CSU-FDP-Koalition 1998 krachend abgewählt worden. Am Ende der 2. Merkel-Koalition (mit der Neuauflage des Bündnisses von CDU/CSU und FDP) sind die Liberalen 2013 aus dem Bundestag geflogen. Sie sollten das stets im Auge behalten und gerade – mit Blick auf die Ressortverantwortung für Bildung und Forschung – an den von den Liberalen mitgestalteten bildungspolitischen Aufbruch der 60er und 70er Jahre denken. Daran ließe sich gut anknüpfen.

In jedem Fall bleibt wichtig, dass die neuen Regierungspartner:innen – unbeeindruckt von kurzlebigen Meinungsumfragen und einer überwiegend in die Lust am Scheitern verliebten Medienlandschaft – klaren Kopf und Kurs behalten. Last but not least: Viele, nicht nur junge Abgeordnete brennen darauf, zur Neuausrichtung der Republik ihren Beitrag zu leisten. Und das allein schon macht Mut und Hoffnung.

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