GAST im zwd-POLITIKMAGAZIN : Ernst Dieter Rossmann: "Bildung muss sich entwickeln können"

16. September 2021 // Ernst Dieter Rossmann

Der SPD-Bildungsexperte Ernst Dieter Rossmann hat für das zwd-POLITIKMAGAZIN eine bildungspolitische Bilanz gezogen.

zwd Berlin.. Dr. Ernst Dieter Rossmann ist in der 19. Legislaturperiode des Bundestages (seit Januar 2018) Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Der 1951 in Elmshorn (Schleswig-Holstein) geborene Diplom-Psychologe und promovierte Sportwissenschaftler war zunächst Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in seiner Heimatstadt, bevor er von 1987 bis zu seiner Mandatsniederlegung am 6. Oktober 1998 dem Landtag von Schleswig-Holstein angehörte. Seitdem war er Mitglied des Bundestages, langjähriger bildungspolitischer Sprecher seiner Fraktion und wurde in der laufenden Legislaturperiode Ausschussvorsitzender. Auf eine neuerliche Kandidatur für die 20. Bundestag hat der Elmshorner Abgeordnete verzichtet. Rossmann ist nach zwölfjähriger Tätigkeit als Vorsitzender des Deutschen Volkshochschulverbandes 2019 zu dessen Ehrenvorsitzenden gewählt worden. Er ist seit vielen Jahren dem zwd-POLITIKMAGAZIN als Autor verbunden und Mitglied im Herausgeberkreis der Gesellschaft Chancengleichheit e.V.


10 Jahre Bildungspolitik in der Kommune, 11 Jahre im Land und dann 23 Jahre im Bund - da ist in diesen 44 Jahren einiges zusammengekommen an Beobachtungen, Erfahrungen und Einsichten über Bildungspolitik in den letzten fünf Jahrzehnten.

Hierzu ein paar Schlaglichter: 1988 gab es in meinem bis dahin stramm konservativ geführten Heimatland Schleswig – Holstein in einem streng dreigliedrigen Schulsystem gerade vier Gesamtschulen. Die Einrichtung von Ganztagsschulen war ein ideologisch hoch besetztes Kampffeld..

Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung musste erst durch die SPD ins Schulgesetz gebracht werden. Fremdsprachen an der Berufsschule waren verpönt, Wege zum Abitur außerhalb des Gymnasiums eine Seltenheit. Ein Studium war ohne Abitur nicht denkbar, die Fachhochschulen führten ein Schattendasein, die Ordinarienuniversität stand noch in Blüte und in Deutschland gab es 1987 gerade 1,4 Millionen Studierende. Die Beschäftigten hatten kein Recht auf Bildungsurlaub in der Weiterbildung wie auch die berufliche Weiterbildung überhaupt nicht entwickelt war. So viel Erinnerung muss denn auch sein dürfen.

Die sozialdemokratische Prägung und der lange Atem

Der weite Blick zurück zeigt: Veränderungen in der Bildung brauchen einen langen Atem und nur diese Beharrlichkeit hat dazu geführt, dass sich von der Sache her so etwas wie eine sozialdemokratische Prägung in der Bildungspolitik aufgebaut hat, um nicht zu sagen, eine sozialdemokratische Hegemonie. Deren Leitgedanken tragen noch heute: Ganzheitlichkeit in der Persönlichkeitsentwicklung und Freude am Lernen und Leisten; Chancengleichheit und möglichst gute Bildung für alle; abgesicherte persönliche Bildungsrechte, ausgleichende Bildungsförderung und öffentliche Verantwortung für das Bildungswesen; Gemeinsamkeit, Durchlässigkeit und Aufstieg im Bildungssystem; Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung und keine Bildung ohne Weiterbildung; Weltoffenheit, Internationalität und Vielfalt als Bereicherung. Um auf die Gegenwart und die Zukunft zu kommen: Zu sicher sein dürfen wir uns nicht, dass diese sozialdemokratische Grundkonsens auch für die Zukunft bestimmend bleibt. Da gibt es die Angriffe von der national – elitären AfD, die auch manchen reaktionären Konservativen nicht fremd sind. Kräfte mit einem starken Bedürfnis nach Distinktion und Staatsferne setzen auf Privatisierung und Exklusivität und stellen die öffentliche Verantwortung für das Bildungswesen in Frage. Und schließlich ist auch der konkurrenzorientierte neoliberale Ansatz noch nicht überwunden, bei Erzföderalisten von den Grünen in Baden – Württemberg und anderswo genauso wie in manchen Wirtschaftskreisen und Interessenverbänden. Für alles hat es im gesellschaftspolitischen Diskurs wie auch in der Vielgestaltigkeit der Bildungspolitik auf allen Ebenen in unserem Land, aber auch im internationalen Vergleich in den letzten vier Jahren Beispiele gegeben. Wir dürfen uns hier nicht in Behaglichkeit einrichten. Im Übrigen: Die Globalisierung macht auch vor dem Bildungswesen nicht halt, im Guten wie im Schlechten, und verdient Aufmerksamkeit und politische Gestaltung.

Die Notwendigkeit von Konsens und der Bedarf an Alternativen

Eine Partei alleine wird diesen mühsam erkämpften weitreichenden Konsens der letzten Jahrzehnte nicht halten können. Dazu braucht es parteiübergreifende Grundlinien, nicht zuletzt weil sich auch nur so die notwendigen Bündnisse für eine starke gestaltende Bildungspolitik zusammenführen und zusammen sichern lassen. Bei aller Kritik im Einzelnen: Als Sozialdemokrat freue ich mich, dass dieses auch in der Bildungspolitik des Bundes in den letzten vier Jahren in vielen Bereichen mit einem breiten politischen Zentrum möglich gewesen ist. Die Stimmenthaltungen und gar die Zustimmung der meisten Oppositionsparteien jenseits der AfD bei wichtigen Reformen sind hierfür ein Beleg, dass mit Strukturen und Reformen sorgsam – planvoll und nicht disruptiv – experimentell umgegangen worden ist. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes mit Mindestausbildungsvergütung und Qualifizierungsstufen ist hierfür genauso ein Beispiel wie es die umfassenden Verbesserungen im Gesetz zur Aufstiegsfortbildung und der Rechtsanspruch auf Ganztag in der Grundschule sind. Nicht zuletzt zeigen die milliardenschweren Programme, mit denen der Bund im Zukunftsvertrag „Studium und Lehre“ die Hochschulen dauerhaft unterstützt, den Bund genauso als starken Partner im kooperativen Bildungsföderalismus wie es auch der Digitalpakt und die Corona – Sofortmaßnahmen getan haben und tun.

Umso unverständlicher bleibt, dass der Nationale Bildungsrat von Ministerpräsidenten der Grünen und der CSU torpediert worden ist und um jede Verfassungsänderung für mehr gemeinsame Gestaltungsmöglichkeiten in der Bildungspolitik von Bund, Ländern und Kommunen immer wieder neu gerungen werden muss. Dabei ist doch klar: Soll die Digitalisierung die Lernwelten in der gesamten Bildungsbiographie erweitern, braucht es keine Kleinstaaterei, sondern eine neue Gemeinschaftsaufgabe Digitalisierung im Grundgesetz. Wenn wirklich ein neues integriertes Angebot von Weiterbildung für Qualifizierung und Teilhabe ein Leben lang entstehen soll, müssen alle politischen Ebenen und die Sozialpartner kooperativ zusammenwirken wollen und können. Der Europäische Bildungsraum 2025, wie er in den nächsten vier Jahren und darüber hinaus als Kraftzentrum von Demokratie und Nachhaltigkeit, von Wohlstand und Zusammenhalt entstehen soll, organisiert sich nicht von selbst und im Gegeneinander, sondern nur mit mehr Zusammenarbeit der Staaten in der EU miteinander und der Länder und des Bundes auch in Deutschland selbst. Natürlich braucht es politische Alternativen, wenn es um solche Zukunftsfragen geht wie z.B. die Lernmittelfreiheit angesichts von wachsenden persönlichen Schulkosten, die soziale Absicherung von Ausbildung und Studium in diverser werdenden Lebensumständen und das Recht auf eine vollwertige Ausbildung und eine kontinuierliche qualitätsvolle Weiterbildung, um nur drei Zukunftsthemen zu nennen. Der Streit hierüber wird in den nächsten vier Jahren notwendig und klärend sein. Genauso wie dann auch wieder Konsens notwendig und fördernd ist, damit sich das überaus komplexe Bildungssystem mit seinen langen Vorlaufzeiten von den Investitionen in Infrastruktur und vor allen Dingen in die Aus- und Weiterbildung der Menschen, die das Bildungswesen tragen, wirklich weiter entwickeln kann.

Ganztagsgrundschule als maßgebliche Wegmarke

Eine Nagelprobe hierfür wird der langfristige Aufbau der größten Bildungsreform für die Grundschule seit 100 Jahren, der qualitätsvollen Ganztags-Grundschule sein. Auch die Digitalisierung muss in den nächsten vier Jahren aus dem Corona–Krisen–Reaktions– Modus in eine planvolle Gestaltung von neuen erweiterten Lernwelten an Schulen, Hochschulen und in der Aus- und Weiterbildung überführt werden. Und schließlich braucht es Konsens in der Absicherung und dem Ausbau der öffentlichen Bildungsfinanzen. Was für die Forschung gelungen ist, in den letzten Jahren systematisch auf über 3 % des Bruttosozialprodukts plus x gehoben worden ist, muss für die Bildung nachgearbeitet werden. Wovon die Bundeskanzlerin Merkel nur geredet hat, wird von einer neuen Regierung systematisch und systemisch anzugehen sein. 7 % für die Bildung bis 2025 sind ein überfälliges und zugleich starkes Ziel. Eine neue Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird dem öffentlichen Bildungswesen allerdings nur dann helfen, wenn sie an strikte Ausgabenverpflichtungen, gemeinsame Programme und sozial gerechte Kriterien gebunden ist. Der Königsteiner – Schlüssel als deutsche Umsetzung des Matthäus – Prinzip mag die finanzstarken Bundes - Länder zufrieden stellen, bedarfsgerecht in der Bekämpfung von Bildungsarmut und nach dem Prinzip von Chancengleichheit ist er nicht. Das wird zu ändern sein.

Blinde Flecken und neue Ideen

In der langen Zeit in der Bildungspolitik ist mir immer wieder aufgefallen, dass es auch blinde Flecken gibt, wenn es um die Wahrnehmung von Stärken und Schwächen in der Struktur des Bildungswesens wie in den konkreten Problemlagen geht. Wie lange hat es gedauert, bis das Problem des Analphabetismus und der fehlenden Grundbildung in Deutschland politisch erkannt und ernst genommen wurde. Die laufende Alpha– Dekade ist immerhin ein Anfang, wenn auch noch kein durchschlagender Erfolg. Weshalb gibt es nicht ein ausgebautes

Prämien- und Anerkennungssystem für Menschen, die durch eigene Lernanstrengungen ein höheres und ausreichendes Alpha– Niveau erreichen?

Das duale System in Deutschland wird hochgelobt. Mit einem Berufsschulpakt soll der schulische Teil der Berufsausbildung deutlich verbessert und modernisiert werden. Dabei sind die Ausbilder im Betrieb deutlich länger, konkreter in der Praxis und prägender im sozialen Umgang mit den Auszubildenden zusammen als die Berufsschullehrer. Es gibt auch schätzungsweise drei Mal so viel betrieblich qualifizierte Ausbilderinnen und Ausbilder als Berufsschullehrkräfte. Wie können diese Menschen im Zusammenwirken von Wirtschaft und

Öffentlicher Hand noch besser in die Lage versetzt werden, junge Menschen so in die Ausbildung hineinzuführen und zu begleiten, dass diese zu einem erfolgreichen Abschluss kommen? 1,5 Millionen junge Menschen ohne einen Berufsbildungsabschluss dürfen jedenfalls niemanden ruhen lassen. Eine Politik für mehr Chancengleichheit und mehr Bildungsgerechtigkeit muss hier deutlich aktiver werden. Und ein drittes Beispiel für blinde Flecken und neue Ideen. Es irritiert mich schon lange, dass die Beteiligung von Menschen an Bildungsangeboten für die Zeit nach dem Eintritt in das Rentenalter nicht differenziert beobachtet und gefördert wird. Die ökonomische Rendite wurde und wird immer noch offensichtlich als zu gering eingeschätzt. Bildung im Alter ist dann Privatsache und kein öffentlicher Auftrag mehr. Dabei wird Bildungsteilhabe in den 20 bis 30 Jahren nach dem Berufsleben mehr gebraucht denn je für die Anschlussfähigkeit an den technologischen Fortschritt, zur Teilhabe an den gesellschaftlichen Veränderungen, als Gesundheitsprävention und als Mittel gegen Vereinsamung. Aber fürs Lernen ist es nie zu spät, auch nicht für das Lernen in der Bildungspolitik. Setzen wir uns also dafür ein, dass die Bildungspolitik mehr Chancen bekommt, sich zukunftsgerecht entwickeln zu können.

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