GASTBEITRAG: HANS JÜRGEN KUHN | Dr. MICHAEL VOGES : Blindflug beenden und stark aus der Krise kommen

3. Mai 2021 // Kuhn und Voges

Deutschland braucht ein passgenaues und angemessen ausgestattetes Förderprogramm von Bund und Ländern, um die pandemiebedingten Defizite auszugleichen und die Bildungschancen der Benachteiligten nachhaltig zu verbessern. Mit dieser Forderung haben sich die ehemaligen Staatssekretäre Hans-Jürgen Kuhn (Grüne) und Dr. Michael Vogel in einem Positionspapier an die Öffentlichkeit gewandt. Der im zwd-POLITIKMAGAZIN veröffentlichte Gastbeitrag basiert auf einem Positionspapier, das die beiden Bildungsexperten als Mitglieder der Fokusgruppe Bildungspolitik für die Heinrich Böll-Stiftung verfasst haben.

Hans-Jürgen Kuhn | Dr. Michael Voges
Hans-Jürgen Kuhn | Dr. Michael Voges

Bildungschancen für Benachteiligte müssen jetzt gesichert werden!

von HANS-JÜRGEN KUHN und Dr. MICHAEL VOGES

1. Wir brauchen dringend gesicherte ­Erkenntnisse über die kognitiven, sozialen und psychischen Auswirkungen der ­pandemiebedingten Schulschließungen!

Vor einem Jahr, am 16. März 2020, wurden pandemiebedingt Kitas und Schulen in Deutschland geschlossen. Ein Jahr liegt hinter uns, das erhebliche Auswirkungen hatte für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Familien. Schon vor Corona hatte unser Bildungssystem ein Gerechtigkeitsproblem, trotz Präsenzunterricht für alle. Es gibt bis heute in Deutschland keine gesicherten Kenntnisse über die Auswirkungen der Pandemie auf die Schüler:innen der verschiedenen Altersgruppen: Welche kognitiven Lernlücken und sozialen Defizite, welche Brüche sind entstanden, was bedeuten zerbrochene Alltagsstrukturen, Brüche in Beziehungen zwischen Schüler:innen und Lehrkräften, Schüler:innen untereinander, Abbrüche in Lernverläufen, extremer Medienkonsum, Bewegungsmangel, problematische Ernährung, Verlust von Selbstvertrauen und zunehmende Isolation? Bis heute gibt es keine repräsentative Studie für Deutschland, die die Auswirkungen der Schulschließungen auf die kognitive Kompetenzentwicklung beim Einsatz von Fern- und/oder Hybridunterricht nach Alterskohorten differenziert und belastbar beschreibt und längsschnittlich angelegt ist, um Veränderungen im Zeitverlauf messen zu können.

Was die tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie auf Schulen, Schüler:innen, Lehrkräfte und Familien angeht, befinden wir uns noch immer im Blindflug: Es bedarf dringend eines umfangreichen und koordinierten Forschungsprogramms, das systematisch und längsschnittlich die verschiedenen Aspekte der kognitiven und sozialen Kompetenzentwicklung der Schüler:innen und der sozioökonomischen Lage der Familien in den Blick nimmt.

Der IQB-Bildungstrend 2021, der im Mai 2021 die Lernstände aller Viertklässler:innen in den Bereichen Deutsch und Mathematik auf der Basis einer repräsentativen Studie erfassen soll, bietet die erste Möglichkeit, die Kompetenzstände der vermutlich besonders stark betroffenen Grundschüler:innen bundesweit zu untersuchen. Außer einer Zusatzstudie im Nationalen Bildungspanel (NEPS), die im Frühjahr 2021 die Lernstände und Lernzuwächse von Neuntklässler:innen in Mathematik erfasst, gibt es derzeit für die Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I und die Jugendlichen im Übergang in die Berufsausbildung keine Pläne, ihre Entwicklungen ebenfalls mit empirischen Erhebungen umfassend in den Blick zu nehmen.

Um die Schulen nicht mit vielen unkoordinierten Einzel-Untersuchungen zu überlasten, sollte die empirische und pädagogische Forschungskompetenz in Deutschland gebündelt und koordiniert eingesetzt werden. Bund, Länder und ggf. auch die im Bildungsbereich tätigen Stiftungen sollten diese Fragen vordringlich miteinander abstimmen und zügig zu Entscheidungen kommen.

2. Wir brauchen dringend diagnosebasierte, wissenschaftlich fundierte Förderkonzepte und auf dieser Grundlage verbindliche zusätzliche Fördermaßnahmen! Deshalb keine Diagnostik ohne Förderung! Keine Förderung ohne Diagnostik!

Die gegenwärtig von Bund und Länder geplanten Maßnahmen für zusätzliche Lernangebote, müssen die von Defiziten betroffenen Schüler:innen auch tatsächlich erreichen und ihnen eine passgenaue, verbindliche Förderung ermöglichen. Um Umfang und Inhalt der tatsächlichen Defizite zu erfassen, müssen die aktuellen Lernstände systematisch erfasst werden. Zentraler Maßstab sollten dabei die in den Bildungsstandards beschriebenen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen sein. Daher sollten in den ersten vier Wochen des neuen Schuljahres bundesweit vorhandene und ergänzend länderspezifische Instrumente eingesetzt werden, um für alle Schüler:innen eine verlässliche Einschätzung zu möglichen Förderbedarfen zu gewinnen. Die Länder sollten sich darauf verständigen, gemeinsam nach dem Vorbild NRW die zentralen Vergleichsarbeiten VERA 3 und VERA 8 verbindlich auf den Beginn des Schuljahres 2021/22 zu verlegen und auf diese Weise eine Lernausgangslage für die Klassen 4 und 9 zu gewinnen. Die Durchführung auszusetzen oder freiwillig anzubieten, verhindert eine flächendeckende, systematische und belastbare Basis, der zwingend verbindliche Fördermaßnahmen folgen müssen.

Monitoringstudien geben noch keine Hinweise auf individuelle Förderbedarfe, dazu braucht es andere Instrumente und Verfahren einer aussagekräftigen Individualdiagnostik. Zusätzlich braucht es eine konzertierte Aktion aller Länder, die zahlreichen vorhandenen, qualitätsgesicherten Diagnoseinstrumente zur klassenbezogenen oder individuellen Lernstandsdiagnostik für andere Jahrgangsstufen und Fächer auf einer digitalen Plattform für alle Schulen in Deutschland verfügbar zu machen.

Entscheidend wird sein, im Anschluss an die Diagnose wissenschaftlich fundierte Förderkonzepte und -maßnahmen umzusetzen. Zusätzliche Angebote, im Rahmen des Ganztags, aber auch an Sonnabenden oder in den Ferien, müssen geeignet und nachweisbar wirksam sein, um festgestellte Lernlücken und Versäumnisse anzugehen. Die öffentlichen Schulen allein können dies nicht auffangen, die Angebote privater Nachhilfeinstitutionen und freier Jugendhilfeträger verfügen über die notwendige Expertise, Infrastruktur und Ressourcen und sollten regional in entsprechende für die Nutzer kostenlose Angebote einbezogen werden. Die BuT-Lernförderung bietet hier eine gute Ressource, die bedarfsgerecht ausgeweitet werden müsste. Bei Bedarf müssen Möglichkeiten gefunden werden, den Eltern, die BuT-Lernangebote für ihre Kinder nutzen wollen, aber nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten gehören, die Selbstzahlerkosten zu ersetzen.

Viele Bundesländer unterbreiten bereits heute zusätzliche kostenlose Bildungsangebote in den Ferien. Für viele Schüler:innen ist der Erfolg bei der kognitiven Leistungssteigerung davon abhängig, dass ihr Selbstvertrauen, ihre Lernmotivation und ihre Lernkompetenzen gestärkt werden. Bei der Förderung der Basiskompetenzen sollte fachliches Lernen mit überfachlichen Zielen verbunden werden, die Stärkung der personalen und sozialen Kompetenzen muss im Mittelpunkt stehen, um wieder Freude am Lernen zu ermöglichen und Selbstvertrauen aufzubauen.

Die Zeit bis zum Beginn des kommenden Schuljahres ist knapp bemessen, sie muss gut genutzt werden, um über kurzfristige Maßnahmen hinaus zu kommen. Wir müssen vor allem die Kinder und Jugendlichen, die am stärksten von der Krise getroffen wurden, auffangen, unterstützen und ihnen wieder eine Perspektive geben.

3. Stark aus der Krise – innovative Strategien und zusätzliche Mittel sind erforderlich!

Um die pandemiebedingten Defizite auszugleichen und die Bildungschancen der Benachteiligten nachhaltig zu verbessern, brauchen wir ein passgenaues und angemessen ausgestattetes Förderprogramm von Bund und Ländern. Das Recht auf Bildung erfordert einen bundesweit geltenden Anspruch auf Mittel aus dieser zusätzlichen Förderung. Als Zeithorizont für zusätzliche stützende Maßnahmen muss man dabei von mindestens zwei Schuljahren ausgehen.

Die jetzt zu entwickelnden Konzepte und Maßnahmen sollten auch künftig eine gute Basis dafür bilden, Bildungsbenachteiligungen früh zu erkennen und ihnen kompensatorisch entgegenzuwirken. Schließlich könnten die angestrebten Ziele durch eine aktive Einbeziehung des Sozialraumes über Bildungsbündnisse mit den dort vorhandenen Akteuren der Zivilgesellschaft und die Nutzung der vor allem in städtischen Räumen vorhandenen vielfältigen Lernorte (Jugendverkehrsschulen, Gartenarbeitsschulen, Museen, Bibliotheken, außerschulische Lernorte, Schullandheime u.a.). schneller und nachhaltig erreicht werden. So könnte in der Krise auch eine Chance liegen, unser Schulsystem sozial gerechter weiterzuentwickeln. n


Die Autoren:

Hans-Jürgen Kuhn (68) ist ein Politiker (AL, später Bündnis 90/Die Grünen). Er war von 1987 bis 1989 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und von 1989 bis 1990 Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Schulwesen, Berufsbildung und Sport. Danach wechselte er als Referatsleiter in das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport im Land Brandenburg. Zwischenzeitlich war er zudem Gründungsgeschäftsführer des Instituts für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg. Hans-Jürgen Kuhn ist Mitglied der Fokusgruppe Bildungspolitik der Heinrich Böll Stiftung.

Dr. Michael Voges (69), Doktor der Philisophie, ist ein politischer Beamter (ehemals SPD). Er war in Hamburg von 2006 bis 2008 Staatsrat der Behörde für Bildung und Sport, von 2008 bis 2010 Staatsrat der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, von 2010 bis 2011 Staatsrat der Finanzbehörde und von 2011 bis zu seiner Pensionierung am 31. Dezember 2016 Staatsrat der Behörde für Schule und Berufsbildung. Michael Voges ist Mitglied der Fokusgruppe Bildungspolitik der Heinrich Böll Stiftung.

Hinweis der Redaktion:

Der vorstehend publizierte Text ist eine von den Autoren für das zwd-POLITIKMAGAZIN stark verkürzte Fassung eines E-Papers, das auf Diskussionen der Fokusgruppe Bildungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung beruht. Das E-Paper ist kostenfrei zum Download verfügbar unter

https://www.boell.de/sites/default/files/2021-03/Stark%20aus%20der%20Krise_0.pdf?dimension1=division_bw.

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