AUFARBEITUNG NS-GESCHICHTE : Erweiterte Gedenkkultur: "Asoziale" und "Berufsverbrecher" als NS-Opfer anerkannt

18. Februar 2020 // Ulrike Günther

Alle demokratischen Fraktionen im Parlament sind sich darüber einig, dass als sogenannte Asoziale oder Berufsverbrecher vom nationalsozialistischen Regime Verfolgte als NS-Opfer anzuerkennen sind. Die Abgeordneten stimmten am 13. Februar mit breiter Mehrheit für einen entsprechenden Antrag von Union und SPD.

Gedenkstätte Sachsenhausen. In dem KZ waren u.a.
Gedenkstätte Sachsenhausen. In dem KZ waren u.a. "Asoziale" und "Berufsverbrecher" inhaftiert. - Bild: Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

zwd Berlin. Darin fordern die Koalitionsfraktionen (Drs.19/14342), die genannten Opfergruppen verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und sie in die staatliche Erinnerungskultur in angemessener Weise einzubeziehen. Die von den Nazis als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ stigmatisierten Menschen, seien „Opfer, und sie verdienen es, rehabilitiert und öffentlich anerkannt zu werden“, sagte die Obfrau im Kulturausschuss des Bundestages Melanie Bernstein (CDU) in der Sitzung des Parlaments. Mit ihrem Antrag beabsichtigen die Koalitionsfraktionen, die Gedenkkultur auf die Personengruppen der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ zu erweitern. Sie sollen laut dem Vorschlag nun offiziell Anerkennung finden, und überlebende Betroffene werden ausdrücklich berechtigt, Entschädigungen nach der Härterichtlinie des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes zu erhalten. Die Fraktionen der Koalition, von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke votierten für den Antrag, die AfD enthielt sich.

Erstmalig hatte die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im April 2019 einen Antrag (Drs. 19/7736) zur Anerkennung der Opfergruppen der sog. Asozialen und Berufsverbrecher in den Bundestag eingebracht und damit die politische Diskussion angestoßen. Mit ihrer Vorlage greifen Union und SPD ein bereits im Koalitionsvertrag von 2017 formuliertes Vorhaben auf, wonach sie sich verpflichtet hatten, „bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus an(zu)erkennen und ihre Geschichte auf(zu)arbeiten“. Der Antrag geht auf einen Vorschlag des Beirats der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zurück, der seit ca. zehn Jahren die Anerkennung der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten fordert.

Keiner war zu Recht im Konzentrationslager inhaftiert

„Niemand saß zu Recht im KZ“, betonte die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion Marianne Schieder, eine Aussage, die in ähnlicher Form in den Koalitionsantrag Aufnahme fand und über die bei sämtlichen, sich zur Demokratie bekennenden Abgeordneten im Bundestag Konsens herrschte. „Aufgeklärte Demokraten erkennen alle Menschen, die in den KZ gequält und gemordet wurden, als Opfer des NS-Unrechtsstaats an“, bekräftigte Schieder in der Sitzung diesen Standpunkt mit einem Zitat des Sozialwissenschaftlers Prof. Frank Nonnenmacher, der bei der Anhörung vor dem Kulturausschuss im November 2019 als Sachverständiger auftrat.

Zu den in der NS-Diktatur sog. „Asozialen“ zählten u.a. Obdachlose, Prostituierte und Wanderarbeiter. Die sog. „Berufsverbrecher“ waren Personen, häufig Kleinkriminelle, die mindestens dreimal meist für Eigentumsdelikte eine Haftstrafe verbüßt hatten. Die von den Nazis zu Zehntausenden in KZs verschleppten Menschen wurden dort an ihrer Kleidung mit dem schwarzen bzw. grünen Winkel gekennzeichnet. Viele von ihnen wurden ermordet oder, wie die „Berufsverbrecher“, durch die sog. „Vernichtung durch Arbeit“ zugrunde gerichtet.

Auf vernachlässigte Opfergruppen erweiterte Erinnerungskultur gefordert

Die Forderungen aus dem Grünen-Antrag, Forschungsarbeiten zu den Schicksalen der Verfolgten zu fördern und spezifische Bildungsprojekte zu entwickeln, sind in den Koalitionsvorschlag eingeflossen. Über die genannten Punkte hinaus fordern Union und SPD die Regierung auf, eine modular angelegte, fortlaufend weiterzuentwickelnde Wanderausstellung einzurichten. Diese soll über das Schicksal der NS-Opfer informieren und Ergebnisse historischer Forschung öffentlich zugänglich machen. Weiterhin ist nach dem Willen der Antragsteller*innen die Kooperation von Gedenkstätten mit lokalen Akteur*innen wie Archiven, Schulen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu intensivieren, um die Lebenswege der Betroffenen zu erkunden und das an den Betroffenen begangene Unrecht aufzuarbeiten.

Es sollte „eine Selbstverständlichkeit sein, allen Opfern des Nationalsozialismus Gerechtigkeit zukommen zu lassen“, unterstrich der kulturpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Hartmut Ebbing. Auch die Vizepräsidentin des Bundestages Petra Pau (Die Linke) begrüßte, dass mit dem Koalitionsantrag die Erinnerung an die sog. Asozialen und Berufsverbrecher in der Bildung, durch Anerkennung und Leistungen zur Entschädigung „praktisch gestaltet“ werde. Erhard Grundl. Kulturpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, stellte vor dem Parlament heraus, dass der „Maßnahmenstaat“ der Nationalsozialisten als „Werkzeug zur sozialen Ausgrenzung“ bestimmter gesellschaftlicher Gruppen fungiert habe. Zahlreiche der auf diese Weise Verfolgten seien Frauen gewesen.

Fraktionsübergreifender Antrag an Blockade der Union gescheitert

Die Abgeordneten von SPD, FDP, Grünen und Linken kritisierten in der Sitzung übereinstimmend, dass ein von ihnen angestrebter, interfraktioneller Antrag zu dem schwerwiegenden Thema an der fehlenden Bereitschaft von CDU/CSU scheiterte, mit der Linken-Fraktion zusammenzuarbeiten. Stattdessen lägen neben dem Koalitionsvorschlag drei weitere Anträge der, Grünen sowie der Linksfraktion (Drs. 19/14333) und der Liberalen (Drs.19/8955) mit ähnlicher Zielrichtung und nur geringfügig verschieden gesetzten Schwerpunkten vor. Der Grünen-Sprecher Grundl erklärte dazu, der von seiner Fraktion seit der Debatte im April initiierte, aber durch die Union blockierte fraktionsübergreifende Antrag hätte „als klares Zeichen an die Opfer und ihre Hinterbliebenen, (…) gegen Hass und (…) Menschenverachtung“ wirken sollen.

Wie die Koalitionsparteien, die FDP und Linken hatten die Grünen verlangt, die Anerkennung bisher weitgehend vernachlässigte Opfergruppe sicherzustellen und überlebende Verfolgte würdevoll zu entschädigen. Die Linken und Liberalen unterstreichen in ihrem Antrag das an den NS-Opfern der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ verübte Unrecht, in KZs inhaftiert worden zu sein Die Linksfraktion verlangt zusätzlich von der Bundesregierung, ein Gesetz für eine Entschädigung der Betroffenen zu entwerfen. Außerdem solle die Regierung bis zum 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der NS-Herrschaft am 09. Mai 2020 ein auf diese Opfergruppe bezogenes erinnerungspolitisches Konzept vorlegen. Die zur Koalitionsvorlage alternativen Anträge der Linken-, Grünen- und FDP-Fraktion wurden gemäß Beschlussempfehlung (Drs. 19/16826) vom Bundestag abgelehnt.

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