DIE MEINUNG VON ERNST DIETER ROSSMANN : Der Nationale Bildungsbericht gehört auf die Agenda der Landtage

18. Januar 2023 // Ernst Dieter Rossmann

Am heutigen Mittwoch wird der Bundestag den Nationalen Bildungsbericht 2022 und die zugehörige Stellungnahme der Bundesregierung diskutieren. In einem Beitrag für das zwd-POLITIKMAGAZIN hat der SPD-Bildungspolitiker Dr. Ernst Dieter Rossmann, in der letzten Legislaturperiode Vorsitzender des Bundestagsausschusses Bildung und Forschung, die Länderparlamente aufgerufen, diesen Bericht auch dort auf die Agenda zu nehmen. Den Beitrag veröffentlichen wir für unsere Abionnent:innen vorab.

Ernst Dieter Rossmann

Der Bildungsbericht 2022 – ein Schatz an Bildungsdaten und einige Gedanken für die Zukunft

(zwd). Die Einführung des sogenannten Kooperationsverbots von Bund und Ländern bei der Gestaltung und Finanzierung von wesentlichen Bildungsbereichen im Zuge der großen Föderalismusreform 2005/ 2006 war „ein schwerer Fehler“. Das haben Frank Walter Steinmeier und viele andere später dann eingeräumt. Die als Kompensation gedachte Erweiterung des einschlägigen Grundgesetzartikel 91 um einen Nationalen Bildungsbericht, für den die damalige SPD – Bildungsministerin Edelgard Bulmahn mit Verve und dann auch Erfolg maßgeblich gekämpft hat, hat allerdings durchaus Wegweisendes ermöglicht. Seitdem wird alle 2 Jahre eine vom Bund und den Ländern geförderte empirische Bestandsaufnahme entlang vereinbarter und möglichst stringent durchgetragener Indikatoren über alle Abschnitte der gesamten Bildungsbiographie vorgelegt. Der Autor:innengruppe gehören alle Leitinstitute der deutschen Bildungsforschung an. Der Bericht dieser wissenschaftlich geprägt Autor:innengruppe wird unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit in Abstimmung mit einer Steuerungsgruppe aus der Bildungspolitik von Bund und Ländern erarbeitet, die ihrerseits von einem wissenschaftlichen Beirat beraten wird.

Dynamisch, orientierend, wirkungsstark

Diese doppelt und dreifache Rückversicherung der Systeme von Wissenschaft und der Politik hat sich in der Durchsicht der bisher vorliegenden neun Berichte vom Ergebnis her dann aber durchaus als dynamisch, orientierend und wirkungsstark erwiesen. Waren die ersten Berichte noch durch eine sehr große Zurückhaltung bei der Entwicklung von Perspektiven zur weiteren Bildungsentwicklung und den politischen Konsequenzen gekennzeichnet, haben sich die jüngsten Berichte wie auch der aktuell vorgelegte zu „Bildung in Deutschland 2022“ immer „lockerer“ machen können. Was im Bericht 2022 als zentrale Herausforderungen herausgearbeitet wird und auf die drei Leitmotive „Zusammenarbeit und Verbindlichkeit“, Digitalisierung“ und „Personalgewinnung und -qualifizierung“ zugespitzt wird, hat ohne Zweifel eine politische Qualität, die jenseits der klassischen parteipolitischen Auseinandersetzungen liegt, aber umso mehr ins fachlich begründetet Zentrum zukünftiger Gestaltung von Bildungspolitik führt.

„Lockerer“ ist auch die editorische Anlage des Berichtes geworden, z.B. mit graphischen Schaubildern, mit Symbolen zur leichteren Auffindung von bestimmten Befunden und einer Auslagerung des Tabellenanhangs auf die Homepage. Gerade letzteres war auch notwendig, denn wies der erste Bericht 2006 noch 203 Seiten Text aus, ist der neunte Bericht 2022 mittlerweile bei 358 Seiten Text und einem umfangreichen Literaturverzeichnis angekommen.

Mehr Ehrgeiz bei der Rezeption bitte!

Der Bildungsbericht könnte in seinem ganzheitlichen Ansatz natürlich noch gehaltvoller und komplexer werden, aber er würde dieses „opulente Buffet“ an Bildungsdaten zugleich deutlich schwerer verdaulich machen. Der Fokus sollte sich zum nächsten, dem 10. Bericht, deshalb auch auf die kritische Reflektion dessen richten, wie bisher die Bildungsberichte rezipiert worden sind. Diese ist nicht nur in den Medien noch sehr ausbaufähig, und das kontinuierlich und nicht nur aus Anlass der jeweiligen Veröffentlichung. Mehr Rezeption muss mensch dem Bildungsbericht vor allen Dingen auch bei den politisch Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen wünschen.

Konkret: Zur Debatte im Bundestag am 18. Januar 2023 müssten doch auch 16 Debatten in allen Landesparlamenten gehören. Und zu der pflichtweise vorgelegten Stellungnahme der Bundesregierung, vom 5.12. 2022 wären doch auch – entsprechend der politischen Logik des Nationalen Bildungsberichts – 16 Stellungnahmen von Landesregierungen zu erwarten, wie diese denn die Ergebnisse des Nationalen Bildungsberichtes einordnen und welche Maßnahmen sie ergreifen wollen. Dass so etwas bisher noch nicht geschieht, nährt den Verdacht, dass fast mehr Wert auf die „sanfte“ Steuerung und Kontrolle der Ergebnisse als auf die Entwicklung von politischen Schlussfolgerungen und konsequente Umsetzung von gemeinsamen erkannten Bedarfen und Maßnahmen in 16 Bundesländern und dem Bund gelegt wird. Der Nationale Bildungsbericht als Bund-Länder Projekt hat eine solche Selbstbescheidung und politische Kastration jedenfalls nicht verdient, wenn sein Anliegen wirklich ernst genommen werden soll.

Zum 10. Bildungsbericht 2024 sollte deshalb in einem kurzen Abschnitt und einer tabellarischen Übersicht eine Information gehören, was im Bund und in den Bundesländern durch die Regierungen und die Parlamente an Rezeption, Reflektion und Innovation zum 9. Bildungsbericht erfolgt ist. Und auf der Homepage www.bildungsbericht.de sollten Dokumente und Debatten in vollem Umfang zu finden sein. Gute Vorbilder können zur Nachahmung führen, um an ein klassisches pädagogisches Prinzip zu erinnern. Das wäre nicht zuletzt eine positive Form des Wettbewerbs-Föderalismus. Die vergleichende Lektüre von Parlamentsdebatten würde dann zugleich transparent machen, welchen Stand die Bildungskooperation von Bund und Länder tatsächlich schon erreicht hat oder noch erreichen muss.

Dazu muss auch gehören, dass Mitglieder aus der Autor:innengruppe nicht nur im Bildungsausschuss des Bundestages im Fachgespräch zu Wort kommen, was bereits regelmäßig der Fall ist, sondern genauso in den Bildungsausschüssen aller 16 Länder. Wenn die Länder in der Bildungsrepublik Deutschland gemeinsam das Zentrum der Bildungspolitik bilden wollen, müssen sie auch für die von ihnen selbst mit angestoßenen Trendberichte und Evaluationen Zeit für kritische Rezeption und Aussprache haben. Hic Rhodus, hic salta!

Die Chancengleichheit in den Fokus

Anlass dazu ist wahrlich genug da: Die fehlende Chancengleichheit schon beim ersten Lernen in Familie, Kita und Grundschule ist in Deutschland nach wie vor ein großes, wenn nicht das zentrale Problem. Das Niveau des rezeptiven Wortschatzes weist nicht nur im Alter von drei Jahren, sondern auch noch zu Beginn der Grundschulzeit ein deutliches Gefälle nach höchstem Bildungsabschluss der Eltern auf. Schüler:innen aus sozial schwächeren Elternhäusern besuchen nach der Grundschule deutlich seltener höher qualifizierende Schularten und Bildungsgänge als Gleichaltrige mit hohem Sozialstatus. Bereits im Grundschulalter bestehen Leistungsrückstände von bis zu einem Jahr. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund sind dabei deutlich überproportional von Risikolagen betroffen.

Die gläserne Decke, die schon viel zu lange auf den Bildungschancen für viele Kinder und Jugendlichen lastet, bleibt also genauso festgefügt wie schon in den letzten 20 Jahren, nur dass sie erkennbar „bunter“ geworden ist. Hier muss es jetzt endlich einen wirklich großen Sprung nach vorn geben: Das heißt:

  • Abbau der Risikolagen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt insgesamt,
  • aber auch gezielte Investitionen in die Förderung der betroffenen, weil benachteiligten Kinder,
  • beste Kitas und beste Grundschulen und gute Ganztagsschulen sind hier die Essentials.

Drei „Beckmessereien“ dürfen hierzu sein.

1) Als der Verfasser exemplarisch mit einer Praktikerin über den Personalschlüssel in den Tageseinrichtungen der Kitas gesprochen hat, der für das Jahr 2020 im Bericht eine Vollzeitkraft für unter 3-jährige rechnerisch von 3,8 und für Kita-Gruppen von 8,1 ausweist, kam diese Praktikerin aus dem leichten Erstaunen und dann Aufstöhnen nur mühsam heraus. Nur wenig konnte dann der Hinweis auf das Wort „rechnerisch“ beruhigen, wo doch die Differenz von Brutto an Stunden und Netto mit den Kindern angesichts von Vorbereitung, Weiterbildung, Elterngesprächen und Krankheitszeiten nur allzu groß ist. Pars pro toto: Auch an anderen Stellen möchte mensch dem Bildungsbericht noch stärker den Blick auf die Details der konkreten Praxis in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen und in den Grundschulen wünschen, um auch die Menschen, die unmittelbar in der pädagogischen Arbeit stehen, besser anzusprechen.

2) „Für die Gestaltung gelingender Bildungsprozesse nimmt das Personal eine Schlüsselrolle ein.“ Diese Kernaussage in der Stellungnahme der Bundesregierung endet dann aber schnell bei dem Hinweis auf die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung und schiebt damit letztlich den Ländern die Verantwortung für das dringend benötige Personal in den Kindertagestätten und den Ganztagsgrundschulen zu. Wie dramatisch sich hier die Lücken auftun werden, hatte vorher der Nationale Bildungsbericht sehr eindeutig herausgearbeitet. Das Problem schreit förmlich nach einer gemeinsamen partnerschaftlichen Aktion von Bund, Ländern und Kommunen, von Universitäten, Fachschulen und der Bundesagentur für Arbeit. Wir brauchen hier einen gemeinsamen Masterplan „Bildungspersonal 2030“. Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat in ihrer Neujahrsbotschaft für das Jahr 2023 hierzu das Notwendige gesagt. Hoffen wir, dass sie es 2024 nicht noch einmal sagen muss.

3) Das dritte Anliegen fordert ein endlich vernetztes Denken und Handeln in der Bildungsförderung ein. Es ist doch immer noch richtig: Die eigenen Eltern und Familienangehörigen sind für Kinder wichtige, wenn nicht die wichtigsten Vorbilder und Anreger für das eigenen Lesen und Schreiben. Darum stellt sich erst recht die dringende Frage, wie wir vorankommen in der Hebung der Grundbildung für die über 6 Millionen Menschen in Deutschland im berufsfähigen und das heißt doch auch eltern- und erziehungsfähigen Alter, die nur unzureichend lesen und schreiben können. Ein Nationaler Bildungsbericht, in dem die Entwicklung von Grundbildung und Alphabetisierung sich auf drei Zeilen und eine Tabelle im Kontext von Integrationskursen abgehandelt findet, hat hier seine Aufgabe verfehlt. Auch der einzeilige Verweis auf die Alpha-Dekade in der Stellungnahme der Bundesregierung macht dieses Desaster nicht besser. Das muss für den 10. Bericht im Jahr 2024 dringend nachgeholt werden und darf nicht noch einmal vorkommen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann war in der 19. Legislaturperiode Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenab-schätzung. Der SPD-Politiker aus Elmshorn zählt seit 1987 zu den profilierten Bildungs- und Weiterbildungsexperten seiner Partei. Im Mai 2019 wurde er nach zwölf Jahren als Vorsitzender zum Ehrenvorsitzenden des Deutschen Volkshochschul-Verbandes gewählt. Er schreibt regelmäßig für das zwd-POLITIKMAGAZIN.

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