zwd Berlin. In der Bundesrepublik würde „die Situation von Kindern (…) nicht besser, sondern schlechter“, erklärte die Vorsitzende der Linksfraktion Heidi Reichinnek zum UNICEF-Bericht über die Lage von Kindern in Deutschland in einem Kommentar für den zwd am 28. November. Das Resultat wertete sie für die weltweit drittgrößte Volkswirtschaft als schändlich und eindeutiges Indiz dafür, dass “Einkommen und Vermögen in ganz erheblichem Maße ungleich verteilt“ seien. Zu den vielfältigen, bereits bekannten Folgen der Kinderarmut gehören laut Reichinnek mangelnde vollwertige Ernährung, äußerst beengte Wohnverhältnisse, unterschiedliche Bildungschancen sowie soziale Isolation.
Die Linken: Bei Kinderarmut gibt es ein Handlungsdefizit
Es gebe „kein Erkenntnisdefizit, (…) einzig ein Handlungsdefizit“, betonte die Linken-Politikerin, gleichzeitig kinderpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Sie kritisierte, es lägen zahlreiche Lösungsansätze vor, wie Kindergrundsicherung, kostenfreies Mittagessen in Schule und Kita, verbesserte gesundheitliche Versorgung, höhere Investitionen in Bildung und Kinder- und Jugendhilfe. Dennoch stünde keine der Maßnahmen für die Koalition auch bloß zur Debatte. Als ein Gegenargument gegen diese ihrer Ansicht nach sich möglichen Herangehensweisen verweigernde Haltung führte Reichinnek – neben dem selbstverständlichen Ziel, Kinder gut aufwachsen zu lassen – wissenschaftliche Berechnungen an, wonach die Konsequenzen von Kinderarmut den Staat jährlich mehr als 100 Mrd. Euro kosten. D.h. auch wenn sich Politiker:innen, wie viele Liberale und Konservative, bevorzugt an Wirtschaftsinteressen orientieren, sei es „schlicht und ergreifend unsinnig“, soziale Benachteiligung von Kindern nicht entschlossen zu bekämpfen, „nicht in Bildung zu investieren oder Jugendtreffs (…) immer erneut kaputtzusparen“.
SPD-Fraktionsvize: Kinder ärmerer Familien brauchen adäquate Angebote
Für die Vize-Vorsitzende der SPD-Fraktion Dagmar Schmidt belegt der UNICEF-Report, dass Teilhabe über die Zukunft entscheide. Kinder bräuchten Orte, wo sie sich entwickeln und sich ausprobieren könnten. Darüber hinaus werde aus der Studie ersichtlich, wie stark Kinder und Heranwachsende immer noch gesundheitlich unter Pandemie-Folgen, wie fehlenden Sozialkontakten und Bewegungsmangel, zu leiden hätten. Schmidt setzte sich dafür ein, Gesundheitsfürsorge in der Kinderpolitik zu verankern. Insbesondere Kinder ärmerer Familien bräuchten „passgenaue Angebote und Unterstützung“. Die SPD-Fraktionsvize berief sich auf den Koalitionsvertrag, in dem die Regierungsparteien in Aussicht gestellt haben, die frühen Hilfen auszubauen, quartierbezogene Kinder- und Jugendhilfe zu fördern und Kinder wie Jugendliche psychotherapeutisch besser zu versorgen. Sie drängte darauf, jetzt „mit den zuständigen Ministerien die nächsten Schritte zu vereinbaren“, um konkrete Verbesserungen für die Kinder zu erreichen.
Die Grünen: Kampf gegen Kinderarmut muss politische Priorität haben
Die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Fraktion Misbah Khan appellierte an die Bundesregierung, „eine umfassende Gesamtstrategie“ gegen Kinderarmut vorzulegen. Die Zahlen aus dem UNICEF-Bericht bezeichnete Khan als alarmierend, sie kämen aber nicht überraschend, da Forschung, Zivilgesellschaft und sogar staatliche Institutionen seit Jahren vor sozialer Ungleichheit warnten. Wie die Linken-Fraktionschefin Reichinnek prangerte die Grünen-Politikerin an, dass die Bundesrepublik trotz ihrer Wirtschaftskraft bei wichtigen Armutsindikatoren ungünstig abschneide. Weniger wirtschaftsstarke Staaten bewiesen, „dass Kinderarmut kein Schicksal“, stattdessen der Handlungswille der Politiker:innen ausschlaggebend sei. Khan rief die Bundesministerin für Familie Karin Prien und den Bundeskanzler Friedrich Merz (beide Union) auf, dem Kampf gegen Kinderarmut politische Priorität einzuräumen. Wie UNICEF Deutschland in den Handlungsempfehlungen des Reports forderte die Grünen-Fraktionsvize „gezielte Investitionen in Familien, Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheit und Teilhabe“.
Nach Angaben von UNICEF in der Studie zur globalen Lage von Kindern (20. November, zwd-POLITIKMAGAZIN berichtete) leben 412 Millionen Kinder (19,2 Prozent) weltweit in äußerster monetärer Armut. 417 Millionen Minderjährige in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen (22 Prozent) erleiden drastische Entbehrungen in zwei oder mehr essenziellen Grundbereichen: Bildung, Gesundheit, Ernährung, Wohnen, Hygiene, Wasser. In wirtschaftlich starken Staaten stagniert der Anteil relativer Kinderarmut, d.h. wenn das Familieneinkommen unterhalb der mittleren Haushaltseinkünfte des Landes liegt, seit Jahren, in der EU z.B. bei etwas über 19 Prozent. UNICEF Deutschland stuft bundesweit von derzeit rund 14 Millionen Kindern ca. 1,3 Millionen als depriviert ein, d.h. grundlegende Bedürfnisse, wie vollwertige Ernährung, ein zweites Paar Schuhe, eine hinreichend beheizte Wohnung oder eine Urlaubsreise von einer Woche pro Jahr, können nicht erfüllt werden.
UNICEF: Soziale Ungleichheit größte Herausforderung für Kinder-Chancen
Der Vorsitzende von UNICEF Deutschland Georg Graf Waldersee nannte es bei der Vorstellung des Berichts in der Bundespressekonferenz am 12. November „bei nüchterner Betrachtung fahrlässig“, dass es für Kinder in der Bundesrepublik zu wenig Fortschritte gebe. Wer heute nicht genug für die Kinder tue, gefährde die Zukunft des Landes, mahnte Graf Waldersee. „Soziale Ungleichheit bleibt die größte Herausforderung, wenn es um Chancen für Kinder geht", konstatierte er und zeigte sich beunruhigt, dass mehr als 62.000 Jugendliche die Schule jedes Jahr ohne Abschlusszeugnis verlassen. „Armut und Perspektivlosigkeit“ würden sich seit Jahren verfestigen. Der UNICEF-Vorsitzende in Deutschland bemängelte, dass es „noch immer (…) an einer politischen Gesamtstrategie gegen Kinderarmut“ fehle, und gab zu bedenken, dass Wirtschaftsaufschwung allein Kinder nicht von Armut befreie. Umgekehrt stärke jedes heute geförderte Kind den künftigen gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Wohlstand.
UN-Recht auf gute Kindheit ist in Bundesrepublik als Gesetz verpflichtend
Graf Waldersee erinnerte daran, dass das „Recht jedes Kindes auf eine gute Kindheit“ in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) verankert und in der Bundesrepublik Gesetz sei. Wie die Grünen-Politikerin Khan riet er, Kindern oberste politische Priorität einzuräumen. Konkret bedeutet das nach Auffassung von UNICEF, gezielt „in besonders benachteiligte Kinder“ zu investieren, z.B. von Alleinerziehenden, Mehrkinderhaushalten oder Geflüchteten. Außerdem schlägt die UN-Organisation vor, das Startchancen-Programm für Schulen auszubauen und vergleichbare Konzepte für Kitas zu entwickeln. Der Bund solle ein Maßnahmenpaket auflegen, um Kinderarmut zu reduzieren, darin inbegriffen auch bürokratische Hürden beim Zugang zu Sozialleistungen abbauen, das Vereinbaren von Beruf und Familie verbessern und für mehr Mitbeteiligung von Minderjährigen sorgen, z.B. durch Einsetzen von Kinderbeauftragten auf Ebene von Bund und Ländern.
Kinderarmut wirkt sich auf alle Lebensbereiche nachteilig aus
Der Report mache anschaulich, „wie sich Armut von Kindern auf wirklich alle Lebensbereiche nachteilig auswirkt“, stellte die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Jugendinstituts (DJI) Prof.in Sabine Walper heraus. Sie steigere z.B. das Risiko beengter Wohnverhältnisse, schlechterer Bildungschancen, schwächerer Förderung in Familien, fehlender Freizeit, gesundheitlicher Belastungen und weniger gesellschaftlicher Teilhabe. Umso wichtiger sei es, „Strukturen so zu reformieren, dass alle Kinder unabhängig von der Herkunft faire Chancen auf ein gutes Aufwachsen haben“. Zu wesentlichen Voraussetzungen zählt die Leiterin der Studie Walper „ein starkes Bildungs- und Gesundheitssystem, (…) eine vielfältige und wirkungsvolle Kinder- und Jugendhilfe und (…) bessere Zugänge der Eltern zu guter Arbeit“.
Wie die SPD macht sich UNICEF seit vielen Jahren dafür stark, die UN-Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben, was die Position der Kinder stärke und auch gegenüber Kommunen, Gerichten und Öffentlichkeit die Rechte als gültig bekräftige. Nach Aussagen von UNICEF verbleibt die Quote des Armutsrisikos bundesdeutscher Kinder, gemessen am Anteil der Minderjährigen, die von unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens leben müssen, in der Bundesrepublik seit Jahren bei rund 15 Prozent, 2024 betrug sie 15,2 Prozent. 12 Prozent aller Kinder bundesweit sind auf Leistungen über die Grundsicherung angewiesen. Von insgesamt 12 ausgewählten Staaten Europas wiesen nach der Statistik von Eurostat 2024 bloß Ungarn, Spanien und die Slowakei höhere Anteile (12,9 – 10,7 Prozent) von Kindern mit erheblichen materiellen und sozialen Entbehrungen auf als Deutschland (7,4 Prozent).
Bei benachteiligten Mädchen subjektives Wohlbefinden am geringsten
Fast ein Viertel armutsgefährdeter Kinder kann es sich nach UNICEF-Daten nicht leisten, an Freizeitaktivitäten teilzunehmen. In Norwegen oder Finnland seien es z.B. nur 5 bzw. 7 Prozent aus solchen Familien, was offenkundig mache, dass gesellschaftliche Teilhabe durch akzeptable Rahmenbedingungen möglich werde. Im Bereich sozialer Beziehungen berichtete jedes fünfte Grundschulkind über Einsamkeitsgefühle, eine/r von elf Jugendlichen erlebte Mobbing. Vor allem mit höherem Lebensalter würden unterprivilegierte junge Menschen – durch Krisen beförderte – Zukunftsängste empfinden. Unter den 15- bis 17-Jährigen waren es 2023 bei deprivierten Mädchen und Jungen 46 bzw. 41 Prozent, bei nicht-deprivierten 44 bzw. 32 Prozent. Verschärft haben sich regelmäßige gesundheitliche Beschwerden von Kindern. 2022 vermeldeten 40 Prozent der 11- bis 15-Jährigen, mehrmals wöchentlich bzw. täglich von Kopf- oder Bauchschmerzen, Schlafproblemen o.ä. geplagt zu werden. 2024 gaben das lediglich 24 Prozent der Altersgruppe an.
Auf einer Skala von 0 bis 100 beurteilten bundesdeutsche Kinder ihr psychisches Wohlbefinden und ihre Lebenszufriedenheit mit 51 bis 67 Punkten. Mädchen aus unterprivilegierten Familien erreichten den geringsten Durchschnittswert von 51 Punkten, knapp über der Schwellengrenze (50 Punkte) für depressive Anzeichen. Anlass zur Sorge gibt nach Aussagen von UNICEF die Wohnsituation sozial benachteiligter Kinder. 44 Prozent von ihnen leben in beengten, überbelegten Wohnungen, ca. 130.000 wohnungslose Minderjährige sind in kommunalen Einrichtungen untergebracht, Tausende Migrantenkinder in speziellen Unterkünften für Flüchtlinge. Seit 2006 gibt UNICEF Deutschland Berichte zur Lage der Kinder in der Bundesrepublik heraus. Den diesjährigen, sechsten Report erarbeitete im Auftrag der UN-Organisation das DJI unter Leitung seiner Vorstandsvorsitzenden Walper und unter Mitwirkung von 26 weiteren wissenschaftlichen Fachleuten, erstmalig wurden 23 Jugendliche bei Auswahl von Schwerpunkten und Gestaltung beteiligt. Die Grundlage der Untersuchung stellten amtliche Statistiken, Sekundäranalysen und repräsentativer Befragungen dar.