KOMMENTAR DES zwd-HERAUSGEBERS : SPD mit Doppelspitze - warum eigentlich nicht?

30. November 2018 // Holger H. Lührig

Was folgt aus den Wahlergebnissen in Bayern und Hessen? Dort wurde der fehlende Rückenwind aus Berlin beklagt. Der jedoch könnte nicht zuletzt aus einer strategischen Fehlentscheidung der SPD-Führung resultieren, unter den widrigen Bedingungen der Groko-Regierungsbeteiligung Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand zusammenzuführen. Was in der Opposition angemessen sein kann, erweist sich aktuell als nicht überzeugend: Andrea Nahles kann nicht sowohl die Koalition stützen als auch stürzen. Der Vorschlag der SPD-Frauenarbeitsgemeinschaft ASF, eine Doppelspitze zu etablieren, könnte auf mittlere Sicht einen Ausweg weisen.

zwd-Herausgeber Holger H. Lührig.
zwd-Herausgeber Holger H. Lührig.

Wen die Frauen wählten...

Überproportional mehr Frauen (20 %) als Männer (16 %) haben bei den letzten Landtagswahlen in Bayern die Grünen gewählt. Von solchem weiblichen Zuspruch konnten die anderen Parteien nur träumen. Bei ihnen – mit Ausnahme der AfD – blieb das Wahlverhalten aus geschlechterdifferenziertem Blickwinkel relativ ausgeglichen: Wenig mehr Frauen als Männer konnten die SPD (10 %:9 %) und die Freien Wähler (11:10) gewinnen. Für die CSU und die Linkspartei stimmten gleichviele Männer und Frauen (jeweils 37 bzw. 3 %). Die FDP verdankt ihren Einzug ins Maximilianeum mit den Männern. Mit deren Stimmenanteil von sechs Prozent (gegenüber 5% bei den Frauen) halfen sie den Liberalen denkbar knapp über die 5-Prozent-Hürde (5,1 %). Die AfD-Wählerschaft ist, wie andernorts auch, männerdominiert. Der Anteil ihrer männlichen Wähler ist mit 13 Prozent doppelt so hoch wie derjenige der Frauen (7 %). Was Wunder, dass der Frauenanteil im bayerischen Landtag weiter abgesunken ist und nunmehr nur noch 26,8 Prozent beträgt (bisher 28 %). Mit 55 weiblichen Mitgliedern bei 205 Abgeordneten rangiert Bayern auf dem viertletzten Platz unter den Bundesländern. Dass damit die Debatte über eine Veränderung des Wahlrechts befeuert wird, versteht sich von selbst. Auch die CSU hat mit ihrer Kandidat*innenaufstellung kritische Fragen in den eigenen Reihen ausgelöst. Denn weil nur direkt gewählte Bewerber*innen in den Landtag einziehen konnten und die Liste daher nicht zog, zählt die 85-köpfige CSU-Fraktion nun lediglich 18 Frauen (21,1 %).

Insofern verwundert auch eine andere Analyse des Abstimmungsverhaltens bei Frauen nicht. Infratest dimap hat nämlich ermittelt, dass 38 Prozent der jüngeren Frauen in den bayerischen Städten die Grünen gewählt haben, hingegen dort nur 17 Prozent die CSU. Allein auf dem Lande ist ein entgegengesetztes Bild ausgeprägt: Dort wählten 48 Prozent der Männer die CSU, während die Grünen dort nur die Stimme jedes zehnten Mannes gewinnen konnten. Ein ähnliches Wähler*innen-Verhalten konnte auch für Hessen ermittelt werden, wo ebenfalls deutlich mehr Frauen (22 %) als Männer (17 %) die Grünen wählten, während die AfD auf doppelt so viele Stimmen von Männern (16 % – Frauen 9 %) kam. Beim Stadt-Land- Vergleich praktizierten die Wähler*innen ein ähnliches Abstimmungsverhalten wie in Bayern. Mit weitem Abstand Spitzenreiter bei den Frauen in den Städten waren die Grünen (37 %), abgeschlagen SPD (14 %) und CDU (13 %). Umgekehrt war die Situation auf dem Lande, wo bei den Männern die CDU (mit 33 % Wählern) ein Übergewicht gegenüber der SPD (28 %)verbuchen konnte; marginal blieben dagegen die Grünen (12 %). Sie vermochten, wie auch eine andere Übersicht für Hessen deutlich machte, die Wähler*innen in den Großstädten (26 %), in Mittelstädten (21 %, dabei ein Plus von 10 %) stärker anzusprechen als in Kleinstädten (17%) und noch weniger in den kleinen Landgemeinden (15 %).

Die ehemalige Umweltpartei hat als moderne bürgerliche Wertepartei nicht nur die SPD in den städtischen Milieus abgelöst, sondern ist auch zur politischen Heimat der gut verdienenden akademisch gebildeten Mittelschicht geworden. Das veranschaulicht eine vergleichende Analyse, wer mit welchem Bildungsstand welche Partei gewählt hat. Da haben es die Grüneneinfacher als die Sozialdemokrat*innen, die mit ihrem Anspruch als Volkspartei einen programmatischen Spagat und Ausgleich zwischen einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen und den mit Zugang zu Bildung aufgestiegenen akademischen Eliten herzustellen hatten und haben. Nicht wegen ihres durchaus anspruchsvollen, aber unzulänglich präsentierten programmatischen Markenkerns hat die SPD verloren, sondern ihr ist schlicht ihre Wähler*innen-Klientel abhandengekommen – und dabei übrigens auch noch ausgerechnet die Frauen.

Der Ruf "Raus aus der Groko" führt derzeit in die Irre

Gerade für die Bundesebene, wo die SPD weiter an Ansehen einbüßt, ist das bitter. Waren es nicht gerade die sozialdemokratischen Minister*innen im letzten Kabinett Merkel, die viele für Frauen wichtige Vorhaben durchsetzen konnten – man denke an den Mindestlohn, die Rentengarantie (Andrea Nahles), die Frauenquote oder die Lohngerechtigkeit (Manuela Schwesig). Die Wählerinnen haben es der Sozialdemokratie nicht gelohnt, wohl auch, weil sie deren Leistungen nicht wahrgenommen haben. Denn die CDU hat es vermocht, diese Erfolgsstories mit Verweis auf die Kanzlerschaft Merkels in eigene Erfolge umzumünzen. Dagegen wirkten die SPD-Initiativen in der medialen Öffentlichkeit eher halbherzig – der Mindestlohn blieb prekär und die Quote nur ein Anfang. So hätte man/frau sich gewünscht, die SPD wäre in der neuen Groko auf diesem Wege weiter vorangeschritten (z.B. deutliche Erhöhung des Mindestlohns bzw. Ausdehnung des Geltungsbereichs der Quote), statt sich bei der neuen Koalitionsvereinbarung mit CDU und CSU im Frühjahr 2018 auf Prüfaufträge einzulassen. Bei aller Kritik im Detail: Der Groko-Koalitionsvertrag trägt an vielen Stellen eine sozialdemokratische Handschrift; mehr war möglicherweise unter den abwartenden politischen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag gegen die Union nicht durchzusetzen – und von einer Jamaika-Koalition – nach dem Stand der damaligen Verhandlungen – ohnehin nicht zu erwarten. Aber sagen können sollte und muss es die SPD schon, wo sie sich nicht durchsetzen konnte.

Der Ruf vieler Genoss*innen „Raus aus der Groko“ führt eher in die Irre. Denn erst einmal gilt es im Sinne einer Vertragstreue auszuloten, ob die Groko-Vereinbarungen zum Erfolg geführt werden können. Das gebietet die erste Regierungspflicht der Sozialdemokratie. Aber dieser Klärungsprozess muss klar und transparent angelegt werden, damit, wenn die Groko an ihren Endpunkt kommt, nicht auch die Partei noch weiteren Schaden nimmt. Denn das Groko- Ende scheint vorgezeichnet und die SPD muss sich nach meiner Überzeugung auf einen Wechsel von den Groko- Regierungsplätzen auf die Oppositionsbänke einstellen. Erwartbar ist eine Neuauflage von Jamaika nach dem Ende der Kanzlerschaft Merkels. Die FDP scharrt schon merklich mit den Hufen, um ihren von Parteichef Lindner selbst inzwischen bereuten Jamaika-Ausstieg vergessen zu machen. Schließlich will sie ja den Beweis antreten, dass es sich ohne Merkel besser „als schlecht“ regieren lässt. Auch die Grünen wollen im Bund an die Macht. Noch sind sie zwar derzeit in der komfortablen Situation, dass sie für das Nichtregieren im Bund mit noch größerem Zulauf belohnt werden. Andererseits dürfen sie aber auch nicht abwarten, bis sich die Union neu aufgestellt hat.

Die Sehnsucht nach einer erneuerten SPD

Umso mehr wird dann Glaubwürdigkeit der SPD zu einer Frage des Personals werden. In der Mediokratie Bundesrepublik Deutschland hängt bekanntlich Aufstieg und Fall einer Parteiführung wesentlich vom Spitzenpersonal ab, wie sich am Beispiel des Hypes nach der Wahl des SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz unschwer nachvollziehen lässt. Er verkörperte anfangs – wie kein anderer aus der Riege der Altvorderen (Gabriel, Stegner, Nahles usw.) – die Sehnsucht vieler Menschen nach einer im Interesse sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit wiedererstarkenden Sozialdemokratie (eingedenk ihrer früheren Erfolge). Von der Enttäuschung über die Nichteinlösung des Gerechtigkeitsversprechens hat sich die Partei bisher nicht erholen können. Nicht zu übersehen ist, dass auch die sozialdemokratischen Spitzenkandidat*innen bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen nicht die notwendige Wechselstimmung zu vermitteln mochten. Dass ihnen der notwendige Rückenwind aus Berlin gefehlt hat, mag seinen Grund auch darin haben, dass die SPD-Führung beim Start in die Groko einen entscheidenden strategischen Fehler begangen hat, geboren aus dem Rücktritt von Schulz. Er wollte entgegen seinem Versprechen, nicht in eine Regierung Merkel einzutreten, Außenminister werden, womit er krachend scheiterte. Die parteierfahrene ehemalige Juso-Chefin Nahles hätte sich eigentlich denken müssen, dass das auf Dauer nicht funktioniert. Die Übernahme des Parteivorsitzes in Doppelfunktion mit dem Vorsitz der Bundestagsfraktion verlangt von ihr einen Spagat, der strukturell nicht einlösbar scheint. In ihrer heutigen Rolle kann Nahles nicht gleichzeitig sowohl in der Groko mitregieren als auch den Anspruch erfüllen, die Partei zu erneuern. Sie kann also die Groko nicht zugleich stützen und stürzen.

Was für eine*n Oppositionsführer*in richtig sein kann – die Personalunion von Fraktions- und Parteivorsitz, implizit als Kanzler(in)-Alternative –, das kann in der aktuellen Groko-Situation nicht funktionieren. Das ist auch für eine kämpferisch engagierte Andrea Nahles ein Zacken zu viel. Sie muss damit leben, dass ihre Anstrengungen für den Erneuerungsprozess in der SPD in Zweifel gezogen werden, so wie bei denen, die seit vielen Jahren in der vorderen Linie der Partei standen und solches versprochen hatten. Weil Nahles zu wenig bereit war, da, wo es geboten war, den Konflikt mit dem Koalitionspartner zu suchen und im öffentlich geführten Diskurs auszutragen, ohne als Streitgesellin dazustehen, ist der Eindruck einer Groko-Hinterzimmer-Diplomatie entstanden. Mit verheerenden Folgen, wie im Fall Maaßen.

Die SPD hat unverbrauchte Köpfe

Hinterzimmer-Diplomatie – dafür steht zweifellos auch das koalitionsinterne Gezerre um die Reform oder Abschaffung des Paragrafen 219a. Um den Koalitionsfrieden zu wahren, hatte die Fraktionsspitze unter Nahles den bereits in ihren Reihen erarbeiteten Gesetzentwurf im vergangenen Dezember in der Schublade verschwinden lassen. Der 219a wurde zur Chef*innen-Sache deklariert und dümpelt nun unter Aufsicht der Spitzenrunde unter Merkel, Seehofer und Nahles dahin. Bloß die Union nicht vergrätzen? Nur nicht mit Grünen, Linken und FDP die Bundestagsmehrheit nutzen, um den Paragrafen zu kippen? Angesichts des Wechsels an der CDU-Spitze besteht nun noch weniger Aussicht auf einen Kompromiss mit CDU und CSU als je zuvor. Nach der Neuwahl an der Spitze der Union und der Schwäche der Kanzlerin muss sich die SPD die Frage stellen, ob es strategisch noch klug ist, den Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand zu belassen. Insofern stehen, auch wenn es die Genoss*innen verdrießen mag, die Zeichen auf einem personellen und auch politisch glaubwürdigen Neuanfang. Vielleicht hilft da der in der SPD-Organisation anhängige Antrag der sozialdemokratischen Frauenarbeitsgemeinschaft ASF, der seit längerem für eine Doppelspitze (Mann/Frau) plädiert und damit die eigentlich unzumutbare Doppellast von Nahles‘ Schultern nimmt.

Wie das funktioniert, wenn eine Partei von einer Doppelspitze geführt wird, veranschaulichen beeindruckend gerade Robert Habeck und Annalena Baerbock an der Spitze der Grünen. Auch in den Ländern zahlt sich das Modell aus, wie die Beispiele aus Hessen und Bayern belegen. Die grünen Spitzenpolitiker*innen verkörpern alle einen neuen unverbrauchten Typus von Politiker*innen, wie sich die Bevölkerung das mehrheitlich zu wünschen scheint. Auch in der SPD gibt es solche Köpfe. Man/frau müsste sie nur lassen.

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