HOLGER H. LÜHRIG : Europa: Welche Erwartungen haben junge Menschen und worauf dürfen sie hoffen?

16. Mai 2019 // Holger H. Lührig

Als „­Schicksalswahl“ wird die Europa-Wahl am 26. Mai 2019 in den Medien allgemein apostrophiert. Angesichts des Erstarkens der EU-skeptischen Rechtsparteien in Italien, Spanien und der Brexit-Fürsprecher in Großbritannien kommt der Eindruck nicht von ungefähr, als würden die rechten Populisten und national(sozial)istischen Kräfte kurz vor der Machtergreifung stehen. Ich will das nicht herunterspielen, denn die Entwicklung ist in einigen europäischen Ländern wie Polen, Ungarn und Rumänien schon besorgniserregend.

zwd-Chefredakteur Holger H. Lührig.
zwd-Chefredakteur Holger H. Lührig.

zwd Berlin. Doch, wenn man den Demoskopen glauben darf, dann wird eine klare Zwei-Drittel-Mehrheit ein proeuropäisches Parlament wählen. Also sollte noch nichts verloren sein. Das Parlament freilich muss sich sein Gestaltungsrecht nehmen und darf die europäische Agenda nicht länger mehr der vom Europäischen Rat abhängigen Kommission überlassen. Die Durchsetzung einer mit parlamentarischer Willensbildung konstituierten EU-Regierung (Kommission) könnte die Basis bilden, Europa von Grund auf zu erneuern. Zugleich könnten diejenigen Kräfte in die Schranken verwiesen werden, ­deren Kandidatur für das EU-Parlament allein mit dem Willen verbunden ist, die Europäische Union von innen heraus zu zerstören.

Erneuerung ist auf vielen Feldern angesagt. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den Anstoß gegeben, doch die deutsche Bundesregierung unter Angela Merkels Führung hat wenig dazu getan, diese Entwicklung zu befördern. Eher scheint es, als schauten die Proeuropäer*innen wie Kaninchen gebannt und ängstlich auf die unselige Schlange, die es auf die Zerstörung statt Reform der europäischen Institutionen absieht. Bei solchem Kleinmut geht die Gegenwehr verloren. Die aber ist geboten, weil Europa gerade auch für die jungen Menschen Chancen bietet. Die hierzu entwickelten Programme sind besser als der Ruf der Brüsseler EU-Kommission, in deren Büros sie überwiegend erdacht worden sind.

Ein Beispiel hierfür ist für mich die von EU-Kommission entwickelte EU-Jugendstrategie für einen Acht-Jahres-Zeitraum von 2019 bis 2027. Hierzulande ist davon wenig bekannt und bezeichnender Weise sind die Strategievorschläge auf den Kommissionsseiten bisher nur in englischer Sprache verfügbar. Nach dem Willen der EU-Kommission sollen auf der Grundlage der Entschließung des Rates vom 26. November vergangenen Jahres junge Menschen mit eigenen Beiträgen stärker in die Gestaltung der EU-Politik eingebunden werden. Ein EU-Jugendkoordinator soll den Dialog im Netz über das Europäische Jugendportal und die EU-Plattform für Jugendstrategien organisieren. Eine Jugendgarantie soll dafür sorgen, dass jungen Menschen unter 25 Jahren nach ihrer Ausbildung nicht arbeitslos bleiben. Andererseits will die EU-Kommission auch dazu beitragen, dass der Anteil derjenigen, die die Schule vorzeitig ohne Abschluss verlassen, in den Mitgliedsstaaten bis 2020 unter 10 Prozent sinkt. Bemerkenswert ist daran, dass diese Vorschläge den Europäischen Rat passiert haben, bevor sich die „Fit for Future“-Jugendbewegung mit Demonstrationen in vielen europäischen Städten zu Wort meldete. Die Ziele der EU sind in einem Dialogprozess mit Jugendlichen in den Jahren 2017/2018 erarbeitet worden. Eingang hat dabei auch die Forderung gefunden, dass die EU-Ausgaben für Jugendliche in den Hauptfinanzierungsprogrammen der Union nachhaltig verankert und sichtbar werden.

Die Jugendstrategie ist verknüpft mit den Maßnahmen zur Schaffung des Europäischen Bildungsraums. Die Vision der EU-Kommission, wie sie in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates im Dezember 2017 angesprochen wurde, will nicht nur den europäischen Hochschulraum institutionell stärken, sondern den Studierendenaustausch mit Hilde des Erasmus-Programms ausweiten, jetzt unter der Bezeichnung „Erasmus +“. Einerseits ist damit die ­Initiative zu einem „Europäischen Semester“ an allen europäischen Hochschulen und die Schaffung eines europäischen Studierendenausweises verbunden. Andererseits steckt dahinter der Anspruch, ein Programm für allgemeine und berufliche Bildung, für ­Jugend und Sport aufzulegen.

Sie passen in die Landschaft, diese Anstrengungen der EU-Kommission. Jugendforscher wie Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance) und die Experten aus dem Kompetenzteam Jugend des Deutschen Jugendinstituts erkennen bei vielen Jugendlichen unter 25 Jahren eine gewachsene Bereitschaft, sich mit politischen Fragen, namentlich auch mit der Zukunft Europas, auseinanderzusetzen. Als Indikator für das zunehmende politische Interesse Jugendlicher gilt nicht zuletzt die millionenfache Inanspruchnahme des EU-Wahl-O-Mats der Bundeszentrale für politische Bildung, sondern auch die demoskopisch ablesbare Bereitschaft der unter 25-Jährigen, zur Wahl zu gehen.

Für Bundesjugendministerin Franziska Giffey ist dabei entscheidend, in welchem Maße die Bundesregierung dazu selbst beiträgt, Politik für und mit den jungen Menschen zu machen. Wohl wahr, denn genau daran hapert es bei übrigen Verantwortlichen im Kabinett. Ein ­ähnlich schlechtes Bild gibt die EU-Kommission ab, die keine Aufbruchstimmung mehr zu vermitteln vermag. Wie könnte sie auch, ist die Kommission auf Abruf doch stetig damit beschäftigt, die Folgen des möglichen oder unmöglichen Brexits und der Blockade- und Ausstiegsszenarien der Orbans und Kaczynskis in Ungarn und Polen abzuwehren. Ginge es nach den jungen Menschen in der EU, wäre die Antwort wie in Großbritannien, wo die Jugendlichen unter 25 mehrheitlich gegen den EU-Austritt gestimmt haben, ganz einfach. Sie klänge unisono auch in Budapest oder Breslau, in London und Berlin: Wir wollen nicht weniger, sondern mehr Europa. Es wäre die zündende Idee für einen müde dahin plätschernden Wahlkampf. Europa ist die Antwort, verkünden die sozialdemokratischen Wahlplakate, ein Kontinent, der die soziale Frage als Kernfrage begreift, sich entschlossen gegen Rassismus stellt und europafeindlichen Bestrebungen den Geldhahn zudreht. Das jedenfalls wäre mein Europa, dem ich am 26. Mai meine Stimme gebe.

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