KOMMENTAR : Frauen erobern das sinkende Schiff

26. März 2018 // Dagmar Schlapeit-Beck

An der Spitze beider vom Niedergang betroffenen (ehemaligen) Volksparteien werden erstmalig zwei Frauen stehen. Doch frauenpolitischer Jubel stellt sich noch nicht ein.

zwd-Chefredakteurin Dagmar Schlapeit-Beck
zwd-Chefredakteurin Dagmar Schlapeit-Beck

zwd Berlin. Andrea Nahles soll die erste Frau an der Spitze der stolzen 155 Jahre alten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands werden. Ihre Wahl steht auf dem Sonderparteitag am 22. April in Wiesbaden an. Zu einer Zeit, in der sich die SPD in einer historischen Krise nach dem Wahldebakel bei der Bundestagswahl 2017 mit dem schlechtesten Zweitstimmenergebnis von 20,5 Prozent und dem jetzigen Allzeitumfragetief befindet.

Auch in der CDU steht die sogenannte „Erneuerung“ an. Der dramatische Verlust von mehr als 8 Prozentpunkten auf 32,9 Prozent mit dem schlechtesten Ergebnis für die Union seit 1949, das Scheitern der Jamaika-Koalition und das gute Verhandlungsergebnis der SPD bei den GroKo-Verhandlungen in Bezug auf die Inhalte und die Ressortverteilung stellen auch dort das Führungspersonal infrage. Jetzt hat die bisherige saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer das Amt der CDU-Generalsekretärin übernommen. Das könnte als Hinweis auf eine potentielle Nachfolgerin für Angela Merkel auf dem Weg an die Parteispitze gewertet werden, die den gleichen Werdegang eingeschlagen hatte.

Wir erleben, dass die politische Diskussion über die Frauen an der Spitze – Angela Merkel, Andrea Nahles oder Annegret Kramp-Karrenbauer – weitgehend ohne Anspielungen auf ihr Geschlecht verläuft. Es geht um die üblichen Machtfragen, die Strömungen in ihren Parteien und um die Frage, ob sie glaubwürdig für das Zauberwort der „Erneuerung“ stehen. Seltsam geschlechtslos verfängt die Debatte, die zu einem anderen weniger krisenhaften Zeitpunkt als frauenpolitische Sensation gefeiert worden wäre.

Haben es Frauen an den Fleischtöpfen der Macht jetzt leichter, wo Männer zunehmend die Work-Life-Balance für sich entdecken und seltener ausschließlich und „koste es was es wolle“ Karriere machen wollen? Frauen haben immer wieder Berufsfelder erobert, die an Reputation und Privilegien verloren haben, wie etwa bei den klassischen akademischen Professionsberufen. Gründe für den Verlust an Einfluss und Reputation sind kritische Souveränitätsansprüche des Bürgers/der Bürgerin gegenüber Ämtern und Institutio­nen und deren Autoritätsverlust durch die Mediatisierung und Entmonopolisierung des Wissens.

So etwa im Lehramt, wo Frauen die Mehrheit der Lehrkräfte stellen, jedoch nur die Minderheit der Schulleitungen an weiterführenden Schulen. Der Beruf jedoch stellt heute bedeutend höhere zeitliche und qualitative Anforderungen als früher, bei gesellschaftlich geringerer Anerkennung. Selbst bei den Halbgöttern in Weiß ist eine Feminisierung zu beobachten, die mit einem Prestige- und Gehaltsverlust einhergeht. Immer weniger Männer wollen Ärzte werden. Inzwischen sind 40 Prozent der berufstätigen Ärzte weiblich. Der Frauenanteil im Medizinstudium liegt bei 70 Prozent, die Frauenquote bei den gut verdienenden Chefärzt*innen stagniert jedoch bei unter 10 Prozent. 57 Prozent der Ärztinnen sind der Meinung, Männer werden bei Beförderungen bevorzugt. Frauen tun sich schwer, bessere Einkommen durchzusetzen. Medizinerinnen sind eher intrinsisch motiviert, wollen gestalten und ihrem Leben einen Sinn geben und legen mehr Wert auf geregelte Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle. Eine Differenz von rund 2.000 Euro oder mehr als 20 Prozent stellt das Statistische Bundesamt zwischen den Arzteinkommen von Männern und Frauen in seiner Verdienststrukturerhebung fest.

Auch in der Politik gibt es diesen Verlust an Prestige und Ansehen. Politiker und Politikerinnen genießen unter allen Berufsgruppen mit nur 15 Prozent das mit Abstand geringste Vertrauen der Bevölkerung. Erleben wir gerade einen Gender Shift, einen Bedeutungsverlust des Geschlechts in der Politik? Oder rücken Frauen immer dann erfolgreich auf, wenn die Position für Männer an Attraktivität verliert? Es hat den Anschein. Aber jede und jeder politisch ambitionierte Mensch will steuern und bewegen und sucht die Gestaltungshoheit. Wäre die Politik kein attraktives Berufsfeld mehr, würden heute mehr als 31 Prozent Frauen im 19. Deutschen Bundestag sitzen, ein Rückfall auf die Frauenquote von vor 20 Jahren.

Die personalpolitischen Wirrnisse der letzten Tage an der Spitze von SPD und CDU haben zwei Frauen an die Spitze ihrer Parteien gespült. Andrea Nahles und Annegret Kramp-Karrenbauer wurden jedoch als Politikerinnen, als Frauen für diese Top-Positionen ausgewählt. Vielleicht war das Gedränge für diese Ämter beim desaströsen Zustand ihrer Parteien und der riesigen Verantwortung für die Reparatur des politischen Ansehens, das auf sie zukommt, diesmal nur etwas geringer. Ihnen gebührt die nötige Anerkennung und Unterstützung aus frauenpolitischem Blickwinkel.

Beide Politikerinnen hatten maßgeblichen Einfluss auf den GroKo-Koalitionsvertrag vom 7. Februar. Die Krise der Volksparteien und der Streit um potentielle Regierungsämter lässt die Inhalte des Koalitionsvertrages bisher zurücktreten. Zu Unrecht! Eine Auswertung aus frauenpolitischer Sicht, die das zwd-POLITIKMAGAZIN durchgeführt hat (Ausgabe 357 vom 28.2.2018), zeigt, dass Millionen von Frauen in unserem Land durch die große Koalition Verbesserungen und Erleichterungen erfahren werden, wenn dieser Vertrag auch umgesetzt wird. Gleichstellung als Generalklausel, eine bessere Absicherung in der Rente, Unterstützung für Alleinerziehende, Ausbau der Kinderbetreuung, bessere und tarifliche Bezahlung in den Sozial- und Gesundheitsberufen eine „Konzertierte Aktion Pflege“, das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, die Erschwerung von befristeten Arbeitsverhältnissen und der Ausbau und die sichere Finanzierung von Frauenhäusern sind nur einige Punkte, warum sich der Einfluss von Frauen in der Spitzenpolitik lohnt.

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