ANHÖRUNG GESETZENTWURF GANZTAGSFINANZIERUNG : Ganztag braucht mehr Fördermittel für gleichwertige Betreuung

16. Juni 2020 // Ulrike Günther

Die Koalitionsregierung will ein Sondervermögen einrichten, um den Ausbau der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern zu finanzieren. Gewerkschaften, Industrie, Vereine der Jugendsozialarbeit und Kommunen unterstützen das Vorhaben, kritisieren jedoch wie zuvor der Bundesrat den zu geringen Umfang der angesetzten Mittel. Sie fordern Qualitätsstandards und verstärktes Fachkräftepotenzial, die gleichwertige Aufwachsensbedingungen für alle Kinder gewährleisten sollen.

Grundschulkinder bei der Nachmittagsbetreuung - Bild: Pixnio
Grundschulkinder bei der Nachmittagsbetreuung - Bild: Pixnio

zwd Berlin. In der Anhörung vor dem Familienausschuss am Montag (15. Juni) begrüßten die Vertreter*innen der Verbände einhellig den Plan der Regierung, gemäß Koalitionsvertrag bis 2025 einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler*innen einzuführen. Die Corona-Krise habe gezeigt, „wie relevant die Betreuungsinfrastruktur für das gesamte System“ sei, erklärte der Sachverständige vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Gerrit Gramer. Er betonte, dass aus Sicht der Wirtschaft eine funktionsfähige Ganztagsbetreuung die Voraussetzung dafür bilde, dass Eltern aktiv am Berufsleben teilnehmen können. Gleichzeitig nannte Gramer die ganztägige Betreuung von Grundschulkindern einen „elementaren Faktor“, wenn es um die Versorgung von Betrieben mit den erforderlichen Fachkräften geht.

Sondervermögen als „Schritt in die richtige Richtung“

Die von der Koalitionsregierung mit ihrem Gesetzentwurf (Drs. 19/17294) angestrebte Einrichtung des Sondervermögens befürworteten die zur Anhörung anwesenden Fachleute als einen richtigen „ersten Schritt“, stellten aber übereinstimmend fest, dass die bisher als Finanzhilfen für die Länder veranschlagten 2 Milliarden Euro die Kosten für Erweiterung und laufende Betriebsausgaben der Ganztagsbetreuung nicht decken können werden. Die Expert*innen mahnten daher an, das Sondervermögen deutlich aufzustocken, um die Umsetzung des geplanten Anspruches nicht in Gefahr zu bringen. Das gilt ihrer Ansicht nach auch dann, wenn die Regierung über das in Aussicht gestellte Konjunkturpaket den Ausbau der Ganztagsbetreuung, wie die SPD-Abgeordnete Ulrike Bahr während der Anhörung bekanntgab, mit 1,5 Milliarden Euro mehr fördert. Denn im vorliegenden Konzept des Sondervermögens seien zwar die Investitionsmittel, nicht jedoch die Betriebskosten der Ganztagsbetreuung mitgedacht, wie Maria-Theresia Münch vom Deutschen Verein für öffentliche und soziale Fürsorge beanstandete.

Fachleute und Länder fordern höhere Investitionsmittel vom Bund

Insofern teilen die Fachleute die vom Bundesrat in seiner Stellungnahme vom Februar (Drs. 4/20) dargelegte Ansicht (zwd-POLITIKMAGAZIN berichtete), dass im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens „eine entsprechende Finanzierungsregelung für die Investitions- und Betriebskosten getroffen sowie eine Erhöhung der Ausstattung des Sondervermögens vorgesehen“ werden sollte. Der Einschätzung der Expert*innen wie des Ländergremiums liegt eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) von 2019 zugrunde, wonach bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruches Investitionsmittel in Höhe von bis zu 7,5 Milliarden Euro und ab 2025 Mittel zum Bestreiten der Betriebskosten von jährlich bis zu 4,5 Milliarden Euro anfallen werden.

An der Aufgabe, den geplanten Rechtsanspruch umzusetzen, müssten sich auch die Länder beteiligen, forderte der Vertreter der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände Uwe Lübking, keinesfalls dürfe man die Gemeinden damit alleinlassen. Gerade um die Betriebsausgaben zu finanzieren, bräuchten die Kommunen „dauerhafte Unterstützung“, erklärte er. .Der Einschätzung der Fachleute liegt eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) von 2019 zugrunde, wonach bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruches Investitionsmittel in Höhe von bis zu 7,5 Milliarden Euro und ab 2025 Mittel zum Bestreiten der Betriebskosten von jährlich bis zu 4,5 Milliarden Euro anfallen werden.

Qualität der Angebote und Ausbildung der Fachkräfte im Mittelpunkt

Als entscheidenden Punkt in der Debatte bewerteten die Expert*innen die Frage, wie der Rechtsanspruch inhaltlich auszugestalten und zugunsten gleichwertiger Lebensverhältnisse für alle Kinder umzusetzen sei. Als problematisch sehen es die Verbände an, wie auf der Grundlage der in den Ländern vorfindlichen unterschiedlichen Bildungs- und Betreuungsverhältnisse die für die Ganztagsangebote erforderliche Qualität zu erreichen und das nötige Personal bereitzustellen sei. „Wenn wir den Ganztag ausbauen wollen, brauchen wir ganz bestimmte fachliche Standards“, hob Lübking von der kommunalen Bundesvereinigung hervor.

Die Referentin des Fürsorge-Vereins Münch wies ein „erhebliches Forschungsdefizit“ hinsichtlich der anzustrebenden Qualität bei der Ganztagsbetreuung und der Ausbildung der dafür einzusetzenden Fachkräfte aus. Damit der Ganztag für Grundschüler*innen sowohl hochwertige Betreuung als auch qualitätvolle Bildungsangebote bereitstellt, müsse man laut dem Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der GEW Björn Köhler entsprechend gut geschultes Personal in hinreichender Menge dafür verfügbar machen.

ver.di und Kommunen wollen stärkere Fachkräfteoffensive

Eine Kernforderung der GEW, aber auch des Fürsorgevereins und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di lautet daher, dass das Fachkräftegebot aus dem Sozialgesetzbuch (SGB) VIII unbedingt zu beachten sei, wonach nur persönlich wie fachlich geeignete Betreuer*innen für Kinder und Jugendliche in öffentlichen Einrichtungen, wie in dem Fall den Schulen, zu beschäftigen sind. Die Referentin des Bundesvorstandes von ver.di Dr. Elke Alsago und Münch vom Fürsorgeverein forderten darüber hinaus, die Kooperation der Schulen mit der Kinder- und Jugendhilfe zu regeln bzw. in den Schulgesetzen zu verankern.

Angesichts des eklatanten Mangels an pädagogischem Personal erkennt Dr. Alsago von ver.di einen erheblichen Nachbesserungsbedarf beim Investitionsprogramm und plädiert ebenso wie Lübking von den kommunalen Spitzenverbänden dafür, die Fachkräfteoffensive für Erzieher*innen zu stärken. Außerdem verlangte Dr. Alsago, die Ausbildung für den Erzieherberuf nach einem einheitlichen Modell zu gestalten, demzufolge Azubis u.a. eine Vergütung erhalten sollten, anstatt Schulgeld zahlen zu müssen.

Evangelischer Sozialverband: Erzieherberuf aufwerten

Die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Sozialarbeit Christine Lohn gab zu bedenken, dass es ihrer Ansicht nach nicht gelingen werde, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zu verwirklichen, ohne den Erzieher*innen-Beruf aufzuwerten. Man müsse dafür sorgen, dass die von Frauen dominierte Berufsgruppe im öffentlichen Ansehen mehr Wertschätzung erfährt, sagte Lohn. Selbst wenn für den Ganztag genügend Geld zur Verfügung stünde, würde es bislang an „Menschen fehlen, die mit Menschen qualitätvoll arbeiten“.

Damit alle Kinder Zugang zu gerechter Bildung hätten, müsste man pädagogisch qualifizierte Personen mit der Aufgabe der Betreuung betrauen, unterstrich Lohn. Bei einem Betreuungsverhältnis von einer Erzieherperson zu 10 Kindern, für das sich u.a. der Fürsorgeverein und die Dienstleistungsgewerkschaft aussprachen, wären auf der Grundlage des vom DJI geschätzten Bedarfs von bis zu 1 Million neuen Ganztagsplätzen ca. 100.000 zusätzliche Stellen für pädagogisches Personal zu schaffen.

Verbände verlangen Gesetzentwurf zum Rechtsanspruch

Um gleiche und gerechte Aufwachsensbedingungen von Kindern und gleichwertige Qualität der Betreuungsangebote in den verschiedenen Regionen durchzusetzen, verlangte Köhler von der GEW, die Finanzmittel aus dem Investitionsprogramm am Bedarf ausgerichtet und nicht proportional zur Zahl der Grundschulkinder zu verteilen. Die Vertreterin des Fürsorgevereins Münch schlug vor, Steuermechanismen anzuwenden, die dafür sorgen, dass die Fördergelder tatsächlich in die qualitätvollen Betreuung der Schüler*innen fließen.

Nach Auffassung von ver.di-Referentin Dr. Alsago sollte ein Gesetzentwurf zum Rechtsanspruch die Zeiträume der Betreuung auf 8 bis 18 Uhr an fünf Tagen pro Woche bei höchstens vier Ferienwochen bestimmen. Alle an der Anhörung beteiligten Fachleute hielten es für die weitere Diskussion um konkrete Rahmenbedingungen für wesentlich, dass die zuständigen Ministerien den Referentenentwurf zum Rechtsanspruch möglichst bald vorlegen, nach Meinung der Vertreterin des Fürsorgevereins Münch bis spätestens nach der Sommerpause.

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