GAST im zwd-POLITIKMAGAZIN : GEW-Vorsitzende Finnern: "Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung für Bildung"

15. September 2021 // Redaktion

Ihre Erwartungen an die 20. Deutschen Bundestag hat die GEW-Vorsitzende Maike Finnern in einem Gastbeitrag für das zwd-POLITIKMAGAZIN beschrieben.

Maike Finnern, GEW_Vorsitzende (Bild: GEW)
Maike Finnern, GEW_Vorsitzende (Bild: GEW)

(zwd Frankfurt). Maike Finnern, die Autorin des Beitrags, ist auf dem GEW-Gewerkschaftstag im Juni 2021 zur neuen Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gewählt worden. Die 52-jährige Realschullehrerin (Deutsch und Mathematik) war zuletzt Zweite Konrektorin der Realschule in Enger/Kreis Herford und viele Jahre als Personalrätin im Bezirk Detmold sowie im Hauptpersonalrat beim Schulministerium in Nord-rhein-Westfalen (NRW) tätig. Von 2011 bis 2019 war sie stellvertretende Vorsitzende der GEW NRW und seit Mai 2019 Landesvorsitzende. Seit 2013 war sie Mitglied im Hauptvorstand der GEW, dem höchsten beschlussfassenden Gremium der Bildungsgewerkschaft zwischen den Gewerkschaftstagen. In den Jahren 2014 bis 2018 war sie gleichzeitig Vorsitzende des Bezirksfrauenausschusses beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Bezirk NRW.


Die Bundestagswahl rückt näher. In der Bildungspolitik geht es um Richtungsentscheidungen. Wurstelt sich Politik mit einem „Weiter so“ auch künftig durch, oder werden die Weichen für eine Gesellschaft gestellt, die sich gute Bildung, gute Arbeitsbedingungen und Chancengleichheit für alle Menschen auf die Fahnen schreibt und dieses Ziel mit nachhaltigen Investitionen unterfüttert. Die GEW hat ein Paket mit sechs Kernforderungen geschnürt, mit dem sie die politische Diskussion befeuern will. Für einen quantitativen und qualitativen Ausbau des Bildungssystems sind die Themen Fachkräftemangel, Investitionsstau, digitale Ausstattung, Ganztag, politische Bildung und gute Arbeit zentral.

1.Fachkräftemangel beenden

Der Fachkräftemangel ist in vielen Bildungseinrichtungen dramatisch. Die Pandemie hat das Problem noch verschärft. Bis 2025 werden rund 190.000 Erzieher*innen fehlen. Der Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung von Grundschulkindern lässt den Bedarf um mindestens 50.000 zusätzliche Lehrkräfte steigen. In den allgemeinbildenden Schulen werden zusätzlich 40.000, an den berufsbildenden Schulen bis 2030 knapp 160.000 Lehrkräfte gebraucht. Die Zahl der Studierenden ist von 2002 bis 2018 um rund 50 Prozent auf 2,9 Millionen gestiegen, die der Professor*innen dagegen nur um etwa 26 Prozent, von 38.000 auf 48.000. Deshalb muss das Tenure-Track-Programm von Bund und Ländern von 1.000 auf 5.500 Professuren aufgestockt werden. Im Mittelbau sind 40.000 zusätzliche Dauerstellen zu schaffen. Um den Bedarf an Schulen zu decken, müssen Studien- und Ausbildungsplätze im Vorbereitungsdienst sowie berufsbegleitende Ausbildungsangebote ausgebaut werden. Damit mehr junge Menschen ein Lehramtsstudium aufnehmen und Lehrkräfte möglichst lange im Schuldienst bleiben, brauchen wir bessere Arbeitsbedingungen. Zudem müssen Multiprofessionelle Teams möglich gemacht sowie Verwaltungs- und IT-Fachkräfte eingestellt werden. Für Quer- und Seiteneinsteige*rinnen ist eine nachhaltige Qualifizierungsstrategie notwendig. Um mehr junge Menschen für die Arbeit in der frühen Bildung zu gewinnen, muss die Fachkräfteoffensive des Bundesfamilienministeriums ausgebaut und verstetigt werden – insbesondere die Praxisintegrierte Ausbildung (PiA) zur Erzieher*in. Bund, Länder und Kommunen müssen ein gemeinsames Konzept gegen den Fachkräftemangel in Jugendhilfe und Sozialarbeit entwickeln. Der Bund hat sich dabei stärker finanziell an der Ausbildung und den laufenden Kosten für Jugendhilfe in den Kommunen zu beteiligen.

2. Investitionsstau beseitigen

Wir brauchen eine „Nationale Kraftanstrengung für Bildung“. Für Sanierungen und Neubauten, Fachkräfte und digitale Ausstattung sind Milliardeninvestitionen nötig. Föderale Finanzierungsblockaden, etwa durch das Kooperationsverbot, müssen beseitigt werden, um auf allen Ebenen einen Schulterschluss von Bund, Ländern und Kommunen möglich zu machen. Der Investitionsstau bei der Gebäudesanierung betrug allein bei allgemeinbildenden Schulen 2021 46,5 Milliarden Euro. In der frühkindlichen Bildung (Kitas) sind es 9,7 Milliarden Euro. An Hochschulen werden bis 2025 rund 50 Milliarden Euro gebraucht. Um mehr Geld in Bildung zu investieren, muss der Staat seine Einnahmen steigern. Das gelingt über eine gerechtere Steuerpolitik und die Abschaffung der Schuldenbremse. Teil der Kraftanstrengung muss sein, die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem abzubauen. Der Bund muss die Mittelverteilung nach dem Prinzip des Königsteiner Schlüssels reformieren und einen Sozialfonds zur besseren Ausstattung von Schulen nach Sozialindex etablieren und finanzschwache Kommunen stärken. Für Schulen in armen Stadtvierteln muss es Sondermittel geben. Alle Schulen müssen Schulsozialarbeit bekommen.

3. Digitale Ausstattung voranbringen

Der Ausbau der IT-Infrastruktur und die technische Ausstattung hinken in allen Bildungseinrichtungen weit hinter dem Bedarf her. Zwischen dem mit Zusatzprogrammen inzwischen rund sieben Milliarden Euro schweren Digitalpakt Schule und der erforderlichen Summe für die Mindestausstattung aller Schulen bis 2024 klafft eine große Lücke: Für die allgemeinbildenden Schulen werden in den kommenden Jahren rund 15,8 Milliarden Euro benötigt, für die berufsbildenden Schulen rund 5,3 Milliarden. Deshalb muss der Digitalpakt aufgestockt und verstetigt werden – etwa für Endgeräte für Lernende und Lehrende. Finanzielle Mittel für IT-Experten müssen ebenfalls dauerhaft in die Haushalte eingestellt werden. Bund und Länder müssen den Schulen staatlich verantwortete und datensichere

Plattformen zum Lehren, Lernen und Kommunizieren zur Verfügung stellen. An den Hochschulen wird es auch nach der Corona-Krise einen größeren Bedarf an Onlinestudienangeboten geben. Deshalb müssen Bund und Länder den Universitäten und Fachhochschulen beim Ausbau und der Pflege der digitalen Infrastruktur mit einem Hochschuldigitalpakt unter die Arme greifen.

4. Ganztag garantieren, Schulsozialarbeit ausbauen

Der Grundschul-Ganztagsanspruch muss auf Basis einer Dauerfinanzierung von Bund und Ländern mit einer Qualitätsoffensive verbunden werden. Im Ganztag sollen ausgebildete Fachkräfte in multiprofessionellen Teams arbeiten. Die Fachkraft-Schulkind-Relation darf nicht größer als 1:10 sein. Verankert werden muss der Anspruch auf Ganztagsbetreuung im Achten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII). Auch für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie braucht es verlässliche Ganztagsangebote. Dabei geht es nicht zuletzt um Geschlechtergerechtigkeit. Im SGB VIII muss auch die Schulsozialarbeit festgeschrieben und mit Qualität hinterlegt werden: Je 150 Schülerinnen und Schülern ist mindestens eine Fachkraft zu garantieren.

5. Demokratie und politische Bildung stärken – Chancengleichheit herstellen

In vielen Bundesländern steht das Fach Politik nur mit Unterbrechungen oder erst in höheren Klassen auf der Stundentafel. Angesichts zunehmender rassistischer, antisemitischer und rechtsextremer Tendenzen in der Gesellschaft sowie der Verbreitung von Verschwörungserzählungen brauchen Demokratieerziehung und Politikunterricht sowie die demokratische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen unter anderem durch Kinderrechte einen deutlich höheren Stellenwert. Zugleich muss politische Bildung die soziale Ungleichheit in den Blick nehmen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt muss durch eine gleichberechtigte Bildungsteilhabe gestärkt werden. Dafür ein nachhaltiges Demokratiefördergesetz auf Bundesebene zu schaffen.

6. Gute Bildung – gute Arbeit

Gute Bildung heißt Bildung für alle, sie verlangt Raum und Zeit, braucht Personal – und Geld. Um gute Bildung in allen Bildungsbereichen zu gewährleisten, ist noch viel zu tun. Deutschland braucht ein echtes Kita-Qualitätsgesetz mit bundesweiten Standards und eine angemessene Fachkraft-Kind-Relation in den Einrichtungen. Flächendeckend umgesetzt werden muss die inklusive Schule für alle Menschen, etwa durch ein Bund-Länder-Kommunen-Programm für allgemein- und berufsbildende Schulen. Herkunft, Geschlecht, Behinderung oder sozialer Status dürfen nicht zu schlechteren Bildungschancen führen. Damit alle jungen Menschen einen Ausbildungsplatz bekommen, muss eine Ausbildungsplatzgarantie rechtlich verankert werden. Eine umfassende Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) ist überfällig und muss unter anderem deutlich höhere Fördersätze und Freibeträge sowie eine Umstellung auf einen Vollzuschuss, der nicht zurückgezahlt werden muss, vorsehen.

Gute Bildung und gute Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille. Daher müssen Berufe im Sozial- und Erziehungsdienst aufgewertet werden: Die Beschäftigten benötigen eine bessere Bezahlung, bessere Aufstiegsmöglichkeiten und bessere Arbeitsbedingungen. In der chronisch unterfinanzierten staatlichen Erwachsenen- und Weiterbildung müssen prekäre Beschäftigungsverhältnisse überwunden werden. Die hohe Zahl befristeter Beschäftigungen mit kurzen Vertragslaufzeiten an Hochschulen ist einzudämmen. Dauerstellen für Daueraufgaben heißt die Leitlinie. Der Bund muss das Wissenschaftszeitvertragsgesetz umfassend reformieren. Zu guter Arbeit gehört zudem ein ausreichender Arbeits- und Gesundheitsschutz von Lehrenden und Lernenden. Die Bundesregierung muss darüber hinaus den rechtlichen Rahmen für eine lebensphasenorientierte Zeitpolitik schaffen, die unbezahlte Sorgearbeit anerkennt. Erwerbsarbeit und unbezahlte Sorgearbeit müssen gerechter zwischen Mann und Frau verteilt werden. Alle Lehrkräfte mit akademischer Ausbildung müssen in allen Bundesländern mindestens nach A13 (Beamte)/E13 (Angestellte) bezahlt werden. Das ist auch ein Beitrag zu mehr Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern. An Hochschulen, Forschungseinrichtungen und in der Weiterbildung muss die hohe Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse reduziert, prekäre Beschäftigung überwunden werden.

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