Rubrik "feministisch beleuchtet" : Gleichstellungspolitik auf dem Vormarsch: Aber was macht die Basis?

10. Februar 2022 // Dr. Barbara Stiegler

Ohne die Frauenbewegung hätte es kaum Verbesserungen der Frauenrechte gegeben. Inzwischen reklamieren auch andere Gruppen aufgrund ihres identitätspolitischen Handelns Verbesserungen und Anerkennung ihrer Rechte. Es hat den Anschein, als komme es zu einem "Wettbewerb" der verschiedenen Gruppen um den Status der am meisten Diskriminierten. Gerade bei der Gleichstellungspolitik kann sich das auf die Verteilung der knappen Ressourcen auswirken, die zulasten von Frauen geht. Ein Diskussionsbeitrag.

Bild: Leuchtfeuer/Flickr/zwd
Bild: Leuchtfeuer/Flickr/zwd

Der nachstehende Beitrag von Dr. Barbara Stiegler wurde im zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 389, in der Rubrik "feministisch beleuchtet" veröffentlicht.

Dr. Barbara Stiegler

Im Koalitionsvertrag von 2021 sind gleichstellungspolitische Fortschritte angekündigt und die Programme von Rot und Grün versprechen sogar noch mehr. Lange schon hat die frauen- und gleichstellungspolitisch aktive Zivilgesellschaft solche und andere Verbesserungen gefordert, nun stehen einige auf der Agenda für die nächste Legislaturperiode.

Gleichstellungspolitik, so zeigt sich auch jetzt wieder, hat immer zwei Säulen: das sind zum einen die direkten gesetzlichen Maßnahmen, die Förderung von Projekten und bestenfalls auch gleichstellungspolitische institutionelle Mechanismen wie Gender Mainstreaming und Gender Budgeting, also die Verpflichtung zur Gestaltung jeder politischen Aktivität im Sinne von mehr Geschlechtergerechtigkeit. Gleichstellungspolitik wird aber zum anderen mehr als manch andere Politik geprägt und getragen von der Zivilgesellschaft. Ohne Frauenbewegungen hätte es wohl kaum Verbesserungen der Frauenrechte gegeben, ob im Schutz vor Gewalt gegen Frauen und Mädchen, im Selbstbestimmungsrecht über den Körper, in der Repräsentation von Frauen in allen Bereichen oder in der finanziellen Absicherung privater Care Arbeit. Wenn es stimmt, dass diese Verbesserungen auch immer Ausdruck der Stärke der Bewegungen sind, dann stellt sich die Frage, wie es um diese Bewegungen zurzeit steht. Einerseits zeigen die Absichtserklärungen der neuen Regierung, dass der teils Jahrzehnte lange Druck gewirkt hat.

Andererseits gibt es in den Bewegungen der Zivilgesellschaft neue Konfliktlinien, die die bisherigen Erfolge infrage stellen könnten: Identitätspolitiken. In den letzten Jahren sind immer mehr Gruppen und Gruppierungen entstanden, die gegen Diskriminierung, denen sie ausgesetzt sind, laut und lauter werden. In diesen Gruppen spielen identitätspolitische Prozesse eine große Rolle. Identitätspolitik bezeichnet das politische Handeln einer Gruppe, die sich aufgrund der Identifikation mit bestimmten Merkmalen zusammenfindet, um gegen ihre Diskriminierung zu kämpfen. Die Merkmale können sich auf kulturelle, ethnische, soziale oder geschlechtsbezogene Eigenschaften oder Zuschreibungen und deren intersektionale Wirkung beziehen. Ziele der Gruppen sind die Anerkennung und die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position. Identitätspolitisches Handeln wird oft als zu kompromisslos und polarisierend charakterisiert, den Gruppen unsolidarisches Verhalten vorgeworfen. Es scheint, als ob es zu einem „Wettbewerb“ der Opfer kommt und verschiedene Gruppen um den Status der am meisten Diskriminierten konkurrieren müssten.

Vor allem die Gruppen spielen in der Geschlechterpolitik eine Rolle, die sich aufgrund von geschlechtlich definierten Merkmalen gebildet haben. Auch die Frauenbewegungen hatten teilweise einen identitätspolitischen Flügel. Später formierte sich eine fortschrittliche Männerbewegung als neuer Akteur und etablierte sich im Bundesforum Männer. Nun gibt es seit längerem auch die verschiedenen LSBTIQ* Gruppen, die sich geschlechterpolitisch zu Wort melden. An der Basis, in den Kommunen, in den Projekten und Initiativen zeigen sich diese Probleme am deutlichsten: hier gibt es Spannungen zwischen gleichstellungspolitisch aktiven Gruppen. Verschiedene Gruppen konkurrieren um Sichtbarkeit, Macht und um Ressourcen. Repräsentation ist ebenfalls ein Konfliktpunkt. Wo wenige Plätze, die Einfluss versprechen, zu besetzen sind, wird um die Quote gerungen, die jede Gruppe für sich in Anspruch nimmt.

Insbesondere dann, wenn insgesamt wenig öffentliche Mittel für Gleichstellungspolitik zur Verfügung gestellt werden, gibt es Auseinandersetzungen um die knappen Gelder und Räume. In einigen Kommunen sind z.B. im Laufe der Zeit immer mehr Antidiskriminierungsstrategien etabliert und entsprechende Beauftragten-Stellen für die verschiedenen Gruppen, die von Diskriminierungen betroffen sind, geschaffen worden. Teilweise ging das zu Lasten der Frauen/Gleichstellungsbüros, der ältesten Institution in diesem Feld.

Die Formen der Auseinandersetzungen untereinander sind vielfältig. Häufig spielen sie sich im Netz ab. Mancherorts entsteht eine toxische Gruppendynamik. Verletzungen, die sich daraus ergeben, können bis hin zu Erkrankungen führen. Plötzlich stehen sich Gruppen und auch einzelne Personen feindlich gegenüber und bekämpfen sich: mit Kränkungen und Einschüchterungen, durch Demütigungen, durch das Ausüben von emotionalem Druck und durch moralische Überheblichkeit.

Es entstehen kleinliche Konflikte über Formulierungen und Eitelkeiten in der Frage, wie gemeinsam gesprochen werden soll. Es ist klar, dass solche Prozesse verhindern, dass die Kräfte gebündelt werden.

Diese Entwicklungen sind allerdings gar nicht so neu, wie sie heute erscheinen. Der Blick in die Geschichte der Frauenbewegungen verweist auf die Zeitgebundenheit von „Lagern“ und „Schulen“ und deren oft heftigen Kämpfen gegeneinander. Mit der Zeit verändern und relativieren sich die Positionen. Das steht auch heute an.

Auch die fortschrittlichste Gleichstellungspolitik braucht immer wieder die kritische Begleitung der Zivilgesellschaft. Am besten ist es, wenn diese zu verschiedenen Projekten eine einheitliche Position hat. Wie lässt sich das erreichen? Nicht zuletzt für die Gruppen, die eine Identitätspolitik verfolgen, muss sich früher oder später die Frage nach den Bündnissen stellen, wenn sie die eigenen Ziele erreichen wollen. Haben sie nur die eigenen Interessen im Blick, werden sie auf Dauer nicht den notwendigen Einfluss bekommen.

Zum gegenseitigen Verständnis geschlechterpolitischer Akteur_innen könnte eine gemeinsame Sichtweise auf „Identität“ verhelfen: Identitäten sollten nicht als Wesensmerkmale gesehen werden, die Gruppen essentiell voneinander unterscheiden. Vielmehr können sie auch als ein Ausdruck von und als eine Reaktion auf Gefährdungsstrukturen verstanden werden. Dann wäre eine neue Gemeinsamkeit darin zu finden, zusammen gegen diese Gefährdungsstrukturen anzugehen und sich dabei gegenseitig zu unterstützen. Dazu hilft auch die Einsicht, dass nicht die Gruppenzugehörigkeiten, sondern die Zustimmung zu einem gemeinsamen Ziel solidarische Aktionen ermöglichen. Sicher ist es eine Kunst, diese Ziele zu finden und zu formulieren. Sie lassen sich aber besser mit dem Blick auf die jeweiligen Gefährdungen bestimmen. Trennende Identitätsmerkmale können dann in den Hintergrund treten. Dass so eine gemeinsame Politik möglich ist, zeigen z. B. die Aktionen des Deutschen Frauenrates und des Bundesforum Männer.

Gerade in Zeiten, in denen die Mittel für die Gleichstellungspolitik insgesamt sicher kaum wachsen werden, sind wirksame Bündnisse nötig, denn auch die Ampelkoalition wird den starken und kritischen Rückenwind der Zivilgesellschaft brauchen, um die formulierten Vorhaben in der Gleichstellungspolitik zu realisieren. Und eine gemeinsam agierende Zivilgesellschaft ist erst recht nötig, wenn darüber hinaus gehende Schritte zur Gleichstellung gemacht werden sollen.

Die Autorin:

Dr. Barbara Stiegler, Studium Psychologie und Pädagogik, Frauenforschung seit 1976 im Forschungsinstitut der FES, engagiert bis 1982 im Verein sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis in der Redaktion der „beiträge“, gewerkschaftlich aktiv in Frauenfragen in Gewerkschaften (ÖTV, verdi). Später Konzeptentwicklung und gleichstellungspolitische Beratung, heute aktiv im Netzwerk GMEI und in der CEDAW Allianz. Schwerpunktthemen: Aufwertung von Care Arbeit, Pflege, institutionelle Mechanismen der Gleichstellungspolitik.

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