zwd-GESPRÄCH: BUNDESTAGSVIZEPRÄSIDENT THOMAS OPPERMANN (SPD) : "In den Wahlkreisen tummeln sich häufig die männlichen Platzhirsche"

8. Februar 2019 // Dagmar Schlapeit-Beck & Holger H. Lührig

Die anstehende Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestages sollte dafür genutzt werden, dass künftig Frauen und Männer paritätisch im Parlament vertreten sind. Dazu hat Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) den Vorschlag eines Paritätsgesetzes zur Diskussion gestellt.

Trafen Thomas Oppermann (links) in seinem Berliner Büro:  Dr. Dagmar Schlapeit-Beck und Holger H. Lührig - Bild: zwd
Trafen Thomas Oppermann (links) in seinem Berliner Büro: Dr. Dagmar Schlapeit-Beck und Holger H. Lührig - Bild: zwd

Oppermanns Modell

Weil trotz einer paritätischen Besetzung bei den Landeslisten Frauen nicht ausreichend zum Zuge kommen, sollten die bisherigen 240 Bundestagsdirektwahlkreise auf 120 reduziert werden. Dort sollten dann auf getrennten Listen jeweils ein Mann und eine Frau gewählt werden können.

Lesen Sie nachstehend das im zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 366, Anfang Februar veröffentlichte Interview, das von Dr. Dagmar Schlapeit-Beck und Holger H. Lührig geführte Interview mit dem Bundestagsvizepräsidenten.


zwd-POLITIKMAGAZIN: Herr Vizepräsident Oppermann, Sie favorisieren im Rahmen der Wahl­rechtsreform ein Paritätsgesetz nach französischem Vorbild. Warum?

Thomas Oppermann: Wir feiern in diesem Jahr 100 Jahre Einführung des Frauenwahlrechts. Im Deutschen Bundestag hatte sich der Frauenanteil bisher kontinuierlich auf zuletzt 36 Prozent erhöht und ausgerechnet im Jahr vor dem 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts, bei der Bundestagswahl 2017 bricht der Frauenanteil auf 31 Prozent ein. Das empfinde ich als gravierenden Rückschritt. Deshalb ist die Idee einer Parität absolut berechtigt. Die Frage ist nur, wie man sie umsetzt.

Sie schlagen für die Direktwahlen das Modell eines „Zweipersonenwahlkreises“ vor, nach dem ein Tandem mit einer Frau und einem Mann mit den jeweils höchsten Stimmen den Wahlkreis gewinnt. Was versprechen Sie sich von diesem Modell?

Unser Wahlrecht hat Stärken und Schwächen. Eine Stärke ist zwei­fellos die Kombination aus Direktwahl und Verhältniswahl. Dass sowohl im Wahlkreis Personen direkt gewählt werden können, die dann gegenüber den Wählerinnen und Wählern direkt verantwortlich sind, als auch über die Landeslisten der Parteien Experten und Expertinnen in das Parlament kommen können, ist zweifellos ein Vorzug unseres Wahlsystems. Die Schwäche ist aber, dass sich häufig in den Wahlkreisen die männlichen Platzhirsche tummeln. In fast allen aussichtsreichen Wahlkreisen schaffen es fast immer die Männer, sich durchzusetzen – im Übrigen verstärkt, seitdem die Luft für Männer seit Einführung der Quoten auf den Landeslisten etwas dünner geworden ist, da das Reißverschlussprinzip inzwischen zur Praxis gemacht worden ist. Und vor diesem Hintergrund kann die Übertragung der französischen Idee auf unser Wahlrecht eine interessante Bereicherung sein. Ich kombiniere dies in meinem Vorschlag mit einer Vergrößerung der Wahlkreise.

Sie schlagen in Ihrem Modell vor, 240 Direktmandate in 120 Wahlkreisen mit jeweils ca. 600.000 Bürger*innen als Einzugsbereich zu wählen. Sie selbst sind direkt gewählter Bundestagsabgeordneter. Wie kann man den Bürger*innenkontakt in so großen Wahlkreisen noch sicherstellen?

Wir haben heute eine Richtgröße für den Wahlkreiszuschnitt von ca. 300.000 Einwohner*innen. Das ist eine beherrschbare Größe. Natürlich fällt es mir nicht leicht, diesen Vorschlag zu machen. Aber wir verzeichnen derzeitig eine doppelt negative Entwicklung, der Deutsche Bundestag wird permanent größer und der Frauenanteil sinkt. Der Bundestag kommt mit seinen heute 709 Abgeordneten an die Grenze seiner Arbeitsfähigkeit. Deshalb ist die Idee naheliegend, die beiden Probleme gemeinsam zu lösen. Und das könnte so funktionieren, dass wir in einem ersten Schritt die Zahl der Wahlkreise von derzeitig 299 auf 240 reduzieren. Wir hätten dann einen Puffer von 59 Mandaten, der genutzt werden könnte für die Verteilung von Überhang- und Ausgleichsmandaten. Hätten wir bereits ein solches System bei der letzten Wahl gehabt, wäre der Bundestag unwesentlich größer geworden als die gesetzliche Mitgliederzahl von 598. Wenn keine Überhangmandate entstehen, fallen auch keine Ausgleichsmandate an, dann würde der Puffer aus Mandaten der Landeslisten aufgefüllt, so dass wir immer zur gesetzlichen Mitgliederzahl kommen.

Die 240 Wahlkreise, die dann noch bleiben, würde ich teilen, ohne aber die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten zu reduzieren. Wir kämen dann auf 120 Wahlkreise, in denen jeweils Männer und Frauen kandidieren und wo die Wählerinnen und Wähler je eine Stimme für eine Frau, eine Stimme für einen Mann als Direktkandidaten und eine dritte Stimme für die Parteien hätten. Aus der heutigen Zweitstimme würde dann die Drittstimme. Wir kämen dann von einem Zweistimmenwahlrecht zu einem Dreistimmenwahlrecht und bekämen dadurch automatisch 120 direkt gewählte Frauen in den Deutschen Bundestag. Ich würde den Parteien auf den Landeslisten ihre Gestaltungsfreiheit lassen, ob sie Quoten einführen wollen. Diese Entscheidung sollte der innerparteilichen Demokratie überlassen bleiben.

Katarina Barley favorisiert ein anderes Modell, das sich auch an Frankreich anlehnt. Hierbei geht es um eine gesetzliche Geschlechterquote für die Listenaufstellungen der Parteien. Verstöße gegen die vorgegebenen gesetzlichen Quoten werden durch Kürzungen bei der Wahlkampfkostenerstattung sanktioniert. In Frankreich hat dieser Weg allerdings nicht dazu geführt, dass die rechten Parteien mehr Frauen aufgestellt hätten. Diese nehmen eher die Kürzungen der Wahlkampfkostenerstattung in Kauf. Warum haben Sie sich nicht für dieses Modell entschieden?

Ich glaube, dass diese Vorgabe zu leicht zu umgehen ist. Und Hardcoreparteien wie die AfD, wo auf 82 männliche Abgeordnete zehn Frauen kommen, ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie würden das fehlende Geld über Spenden einholen. Damit wäre nicht viel gewonnen. Ich glaube, dass wir verfassungsrechtlich die Möglichkeit haben, solche Zweipersonenwahlkreise einzuführen. Nach Artikel 38 ist gleiche Wahl vorgeschrieben. Das bezieht sich sowohl auf das aktive als auch auf das passive Wahlrecht.

In meinem Modell haben die Männer die Möglichkeit, in einem Wahlkreis zu kandidieren. Die Frauen haben die Möglichkeit, dort auch zu kandidieren. Im Übrigen haben wir bei der Ausgestaltung des Wahlrechtes das verfassungsmäßige Ermessen nach Artikel 3, Satz 2 des Grundgesetzes, wonach der Staat auf die tatsächliche Gleichstellung hinzuwirken hat. Das legitimiert eine solche Gestaltung des Wahlrechtes und eröffnet so den Wählerinnen und Wählern neue Optionen, die sie vorher nicht hatten. Es ist auch denkbar, dass Mann und Frau verschiedenen Parteien angehören. Es werden jeweils die Frau und der Mann mit den meisten Stimmen gewählt. Im Wahlkreis gibt es je einen Männer- und einen Frauenvorschlag. Und der Wähler besitzt zwei Stimmen, eine für den Frauen- und eine für den Männervorschlag.

Wurde Ihr Modell bereits verfassungsrechtlich geprüft? Unlängst hat der ehemalige Verfassungsrichter und Staatsrechts­professor Udo Di Fabio ausgeführt, dass er gegen das von Ministerin Barley favorisierte Modell einer Sanktionierung der Frauenquote auf Listen durch die Wahlkampfkostenerstattung verfassungsrechtliche Bedenken hat, da er den Wahlgrundsatz der Freiheit der Parteien verletzt sieht. Bei einem Zweipersonenwahlkreis, nach dem die Parteien für Direktmandate immer zwei Nominierungen aufbieten müssten, einen Mann und eine Frau, formuliert er keine verfassungs­rechtlichen Bedenken, da weder die Kandidatenauswahl der Parteien eingeschränkt noch die Wahlfreiheit der Wähler beeinträchtigt wären.

Ich sehe hier ein verfassungsrechtliches Ermessen des Gesetzgebers. Wir haben einen gewissen Spielraum und den Gleichstellungsauftrag, der hier so umgesetzt wird, dass die Rechte der Wählerinnen und Wähler nicht beschnitten, sondern erweitert werden. Dass am Ende mehr Frauen ins Parlament kommen, ist von der Verfassung gewollt.

Wie beurteilen Sie die Durchsetzungschancen eines Paritätsgesetzes auf Bundesebene innerhalb der großen Koalition? Die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich bereits für ein Paritätsgesetz ausgesprochen. Gibt es Gespräche über ein künftiges Wahlgesetz im Koalitionsaus­schuss? Und Frau Bundeskanzlerin Merkel hat applaudiert, als die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann aus Anlass der Feierstunde zu 100 Jahre Frauenwahlrecht ein Paritätsgesetz eingefordert hat.

Bundestagspräsident Schäuble war von meinem Vorstoß nicht angetan, die Wahlkreise sind ihm zu groß. Aber auch er muss erst einmal einen Vorschlag machen, mit dem er beide Probleme lösen kann. Ich sehe deshalb Chancen, dass es innerhalb der großen Koalition dazu ein Ergebnis gibt. Auch die Union muss dieses Thema konstruktiv angehen. Sie ist dazu selbst unter Druck. Die SPD stellt mit 64 Frauen die meisten weiblichen Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Bei der Union sind es nur noch 49 Frauen. Das ist für sie auch politisch ein Problem. Deshalb sind dort Lösungen, die über das Wahlrecht kommen, einfacher als Lösungen, die innerhalb der Partei gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden müssen. Das sieht man etwa daran, wie schwer es für Inge Wettig-Danielmeier vor 30 Jahren war, innerhalb der SPD die Quote durchzusetzen.

Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich im Zusammenhang mit ihrer Kandidatur zum CDU-Vorsitz gegenüber der Frauen Union klar positioniert, sie sei erstens eine Quotenfrau und zweitens würde sie sich auch engagiert für die Durchsetzung der Gleichstellung einsetzen.

Es gibt ohne Zweifel in der Union moderne Frauen, die einen absolut realistischen Blick auf Gleichstellungsfragen haben, die auch wissen, dass ohne die Frauenquote viele Karrieren, die später nicht mehr auf die Quote angewiesen waren, nicht möglich gewesen wären. In allen Parteien gibt es dazu zur Zeit Bewegung und wenn die Wahlperiode lang genug dauert, sind wir auch in der Lage, eine Lösung zu finden. Inzwischen besteht ein Konsens, dass das neue Wahlrecht erst für den übernächsten Bundestag 2025 greifen soll. So haben alle Akteure genügend Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen. Bis dahin ist sicher auch die Hälfte der heutigen Abgeordneten nicht mehr im Amt und die übrigen müssen dann mit dem neuen Wahl­recht klarkommen.

zwd: Herr Oppermann, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen (und allen Frauen) zum 100. Jubiläums des Frauenwahl­rechts viel Erfolg.

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