zwd-CHEFREDAKTEURIN HILDA LÜHRIG-NOCKEMANN : Ist die gebundene Ganztagsschule das Zukunftsmodell, das Schüler*innen ein Höchstmaß an Chancengleichheit bietet?

15. Januar 2018 // Hilda Lührig-Nockemann

Ganztagsschulen bieten ein gutes Fundament für die Chancengleichheit. Davon scheinen die Bildungspolitiker über Parteigrenzen überzeugt. Denn nicht nur die Zahl der Ganztagsplätze hat sich seit der ersten Zählung 2002/2003 auf knapp 40 Prozent vervierfacht, auch im Bundestagswahlkampf forderten vier der sechs nun im Bundestag vertretenen Parteien – CDU/CSU, SPD, DIE GRÜNEN und DIE LINKE – in ihren Wahlprogrammen einen Rechtsanspruch auf „Ganztagsbetreuung“ mindestens in der Grundschule. Dennoch lohnt ein Blick hinter die Kulissen.

zwd Berlin. Von einer Kraftanstrengung aller Länder kann nämlich keine Rede sein. Zwischen dem – nach KMK-Statistik 2015/16 – Schlusslicht Bayern mit 16 Prozent Ganztagsschüler*innen und dem Leuchtturm Hamburg mit 91,5 Prozent spiegelt sich ein breites Spektrum: In sechs Bundesländern liegt der Anteil der Ganztagsschüler*innen unter 40 Prozent, nur in drei Bundesländern über 60 Prozent. Ob die Wahlversprechen für den Ganztag tatsächlich eingelöst werden, muss sich in den Sondierungsgesprächen von CDU/CSU und SPD erweisen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Union ausschließlich „Betreuung“ zugesichert hatte, die Sozialdemokraten dagegen auf „Bildung und Betreuung“ setzen. Ein Rechtsanspruch ist demnach noch kein Garant für eine pädagogisch begründete Qualität.

Ein Ganztag bietet mehr Zeit – mehr Zeit zum altersgerechten Lernen und zur Verbesserung der Lernmöglichkeiten – das hat schon 1968 der Deutsche Bildungsrat betont (vgl. nebenstehenden Kasten). Untermauert wurde diese Aussage aktuell von Prof. Heinz Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. „Die Umstellung von der Halbtags- zur Ganztagsschule hat die Lernkultur in den Schulen angereichert“, stellte er auf der Fachtagung „Qualität und Lernwirksamkeit von Ganztagsschulen“ fest. Kann diese Entwicklung einer neuen Lernkultur in einer additiven Betreuung (offener Ganztag) realisiert werden oder muss sich der Ganztag grundsätzlich auf eine Rhythmisierung und feste Qualitätsstandards (gebundener Ganztag) zubewegen?

Diese Frage stellt sich umso mehr, als sich die Schule neuen Anforderungen stellen muss. Inklusion, Integration und Digitalisierung ist nicht nur für Lehrkräfte ein Thema, sondern auch für die Schüler*innen. Für sie ist die Schule da und damit sie das bewältigen können, ist ein kluger Wechsel von kreativen und kognitiven Fächern, differenzierten Fördermöglichkeiten und vielfältigen Freizeitangeboten (auch von außerschulischen Institutionen und Expert*innen) vonnöten. Wenn Ganztag nicht mehr als Betreuung, sondern als erweitertes Bildungsangebot gedacht wird, brauchen wir ausreichende Rahmenbedingungen, multiprofessionelle Teams und für selbständiges Lernen konzipierte Räume! Nur unter solchen Bedingungen kann sich Schule vom Haus der frontalen Wissensvermittlung zum Haus des motivierten Lernens wandeln – für acht Stunden am Tag!

Derzeit ist das Etikett „Ganztag“ noch kein Aushängeschild für pädagogische Qualität. Dass nur wenige – auch gebundene – Ganztagsschulen ihr Potenzial ausschöpfen, belegt der Ländervergleich der Bertelsmann-Stiftung „Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztagsschulen mit personellen Ressourcen“. Danach sind nur in Berlin und dem Saarland gute Bedingungen für eine individuelle Förderung gegeben, in der Sekundarstufe I auch in Rheinland-Pfalz.

In der Konsequenz möchte ich für die Debattenrubrik im zwd-POLITIKMAGAZIN die Frage aufwerfen: Ist die gebundene Ganztagsschule das Zukunftsmodell für Chancengleichheit?

Artikel als E-Mail versenden