URTEIL DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS : Kein NC mehr für Medizin? Das sind die Reaktionen

19. Dezember 2017 // Hannes Reinhardt

Das Zulassungsverfahren für den Studiengang Medizin muss neu geregelt werden. Das hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag entschieden. Der zwd hat einige Statements von Politiker*innen und Verbänden zu diesem Urteil zusammengestellt.

Bild: Uni Heidelberg
Bild: Uni Heidelberg

zwd Karlsruhe/Berlin. So halten die Richter*innen die Bedeutung der Abiturnote grundsätzlich für überbewertet. Denn unter den Bundesländern gebe es erhebliche Schwankungen beim Abi-Schnitt. Bei ihren Auswahlverfahren verzichten die Hochschulen bislang vielfach auf eine angemessene Verrechnung. Die Juristen haben nun eine Anpassung dieses Verfahrens eingefordert.

Auch die bisher üblichen Ortspräferenzen bei den Vergabeverfahren stuften die Richter*innen als verfassungswidrig ein. So sortieren Universitäten in der Regel die Bewerber*innen aus, die bei der Nennung der sechs von ihnen präferierten Hochschulen die eigene nicht an erster Stelle genannt hatten. Dies soll zukünftig nur zulässig sein, wenn die Universität eigene Auswahlgespräche anbietet.

Das Gericht gibt dem Gesetzgeber bis Ende 2019 Zeit, neue Regelungen zu erlassen. Bis dahin gelten die bisherigen Verfahrensregeln weiter.

Das sagen Politiker*innen und Verbände zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts:

Daniela De Ridder, zuständige Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion: „Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich, da wir bereits im Zuge der Verhandlungen zum ‚Masterplan Medizinstudium 2020‘ auf gravierende Mängel hingewiesen haben. Das Urteil überrascht daher nicht, haben sich die beiden zuständigen Unionsminister Gröhe und Wanka doch zu sehr auf die Landarztquote versteift und die weiteren wichtigen Bereiche absolut unzureichend nebenher oder gar nicht verhandelt. So gibt es keine notwendige Präzision und Vergleichbarkeit bei weiter zu berücksichtigenden Auswahlverfahren. Bedenklich ist zudem, dass die Bundestagsabgeordneten während des Reformprozesses nicht adäquat eingebunden wurden. Nun besteht die Herausforderung, einen gesetzlichen Rahmen für präzise und einheitliche Vergabeverfahren zu schaffen, der dafür sorgt, dass die Abiturnote nicht mehr das alleinige Auswahlkriterium ist und somit die Chancen zu einer gleichberechtigten Teilhabe am Studium erhöht werden. Dennoch darf das Urteil auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir zur Lösung des Ärztemangels generell mehr Studienplätze benötigen. Auch hier hat es das Bundesbildungsministerium versäumt, zusammen mit den Ländern an angemessenen Lösungen zu arbeiten.“

Nicole Gohlke, Expertin für Wissenschafts- und Hochschulpolitik der Linken-Bundestagsfraktion: „Im Urteil heißt es ausdrücklich, dass angehende Studentinnen und Studenten nur ein Recht auf einen Studienplatz im Rahmen der bestehenden Ausbildungskapazitäten hätten. Dabei stellen gerade die unzureichenden Kapazitäten und das Fehlen langfristig beschäftigter Lehrkräfte die wesentlichen Hürden dar, an denen die Aufnahme eines Studiums für viele Schulabgängerinnen und -abgänger scheitert. Das heutige Urteil sollte dem Bundestag endlich Anlass sein, von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes Gebrauch zu machen und das Hochschulrahmengesetz umgehend zu novellieren. Statt Zulassungsbeschränkungen, wie sie aktuell für 42 Prozent aller Studiengänge gelten, brauchen wir einen deutlichen Ausbau der Hochschulkapazitäten, damit das Grundrecht auf freie Wahl von Beruf und Ausbildung endlich Realität werden kann. Der Numerus Clausus ist abzuschaffen. Die Hochschulen müssen ermutigt und materiell dabei unterstützt werden, ihren Lehrkräften unbefristete Arbeitsverhältnisse anzubieten. Dazu ist es nötig, das unsinnige und kontraproduktive Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Hochschulbereich endlich abzuschaffen.“

Katja Suding, stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion: „Wir Freien Demokraten begrüßen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, da es den Gesetzgeber zwingt, die hohe Bedeutung der Ortswünsche zu streichen. Bislang konnten Bewerber bei der Studienplatzvergabe allein deshalb leer ausgehen, weil sie den falschen Hochschulort als erste Ortspräferenz gewählt hatten. Die Studienplatzvergabe muss von einer Lotterie zu einem fairen Verfahren umgestaltet werden. Auch fordert das Gericht zurecht, im Auswahlverfahren der Hochschulen neben der Abiturnote weitere Kriterien einzubeziehen, die überprüft und verglichen werden können. Das ist richtig, denn gute Noten machen noch lange keinen guten Arzt. Das Kernproblem aber bleibt: Es gibt fast fünfmal mehr Bewerber als Studienplätze, auch weil die Länder ihre Kapazitäten im teuersten Studiengang Medizin bewusst verknappen. Wir fordern daher die Einführung von Bildungsgutscheinen, durch die das Geld den Studierenden folgt. Dabei erhält eine Hochschule für jeden Studierenden einen bestimmten Betrag, der vom Studienfach abhängt. Die Bildungsgutscheine werden aus einem bundesweiten Fonds finanziert, in den die Länder abhängig von ihrer Bevölkerungszahl und ihrem Steueraufkommen einzahlen. So wird ein bedarfsgerechter Ausbau der Medizinstudienplätze attraktiv für Länder und Hochschulen.“

Prof. Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK): „Das Urteil entspricht unserer in der Anhörung des Gerichts vorgetragenen Auffassung, dass die Abiturnote mit entsprechenden Landesquoten ein sachgerechtes Auswahlkriterium ist. Dieses Kriterium darf nicht durch die Ortspräferenz überlagert werden. Die Auswahl anhand von Eignungskriterien wie der Abiturbestennote wird auf diese Weise grundsätzlich durch das Verfassungsgericht bestätigt. Für die Hochschulen ist die Klarstellung der Bundesverfassungsrichter wichtig, dass sie zur konkreten fachlichen Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung der Eignungskriterien berechtigt sind. Damit wird die hochschulische Profilbildung gestärkt. Eine Begrenzung der Wartezeit ist vernünftig, um eine transparente und realistische Lebensplanung für Studienbewerber zu ermöglichen. Bewerberinnen und Bewerbern können dadurch ihre Chancen klarer abschätzen. Die Gesetzgeber auf Landesebene sind nun gefordert, bis zum 31. Dezember 2019 verfassungsgemäße Regelungen zu treffen. Ihrer gestiegenen demokratischen Legitimationspflicht für die Auswahlverfahren müssen sie sich mit aller Sorgfalt und unter Einbeziehung der Expertise aus den Hochschulen stellen. Die Hochschulrektorenkonferenz wird sich in diesen Prozess aktiv einbringen.“

Prof. Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV): „Der DHV hält das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine teilweise Neuordnung der Studienplatzvergabe im Fach Medizin erfordert, für folgerichtig und notwendig. Auch weiterhin wird nicht jeder Studienplatzbewerber im Fach Medizin zum Zuge kommen, das Verfahren muss aber gerechter werden. Dass dadurch auch die Spielräume für die Hochschule enger werden, muss hingenommen werden. Ich begrüße es, dass die Bedeutung der Ortspräferenz bei der Studienplatzwahl relativiert wird. Wegweisend ist, dass künftig generell bei der Vergabe der Medizinstudienplätze länderspezifische Unterschiede bei den Abiturnoten ausgeglichen werden müssten. Dies ist überfällig. Denn die Durchschnittsnoten der Abiturzeugnisse differieren zwischen den Ländern um eine halbe Note. Ein Spitzenabitur ist in einigen Bundesländern schwieriger zu erreichen als in anderen.“

Kultusministerkonferenz (KMK): „Die Kultusministerkonferenz sieht grundsätzlich den Numerus Clausus mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin bestätigt, in dem es feststellt, dass das Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstudium nur im Rahmen der tatsächlich bestehenden Ausbildungskapazitäten besteht. Die Abiturdurchschnittsnote wird sowohl beim bundesweiten Auswahlverfahren als auch bei den Auswahlverfahren der Hochschulen grundsätzlich als Eignungskriterium bestätigt. Lediglich das Auswahlverfahren der Hochschulen muss um mindestens ein ergänzendes, nicht schulnotenbasiertes Auswahlkriterium zur Feststellung der Eignung ergänzt werden. Die landesrechtlichen Regelungen zu den Auswahlverfahren der Hochschulen müssen in Bezug auf eine Standardisierung und Strukturierung überarbeitet werden. Die Wartezeitquote ist ebenfalls grundsätzlich zulässig, wobei die Dauer der Wartezeit angemessen begrenzt werden muss. Die Kultusministerkonferenz wird die Auswirkungen und den Handlungsbedarf zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, die bis Ende 2019 erfolgen muss, im Lichte der Urteilsbegründung sorgfältig prüfen und in ihren Gremien beraten.“

Prof. Frank Ulrich Montgomery, Bundesärztekammer-Präsident: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist genau das richtige Signal zur richtigen Zeit. Dass Karlsruhe Änderungen bei der Studienplatzvergabe anmahnt, ist nicht nur eine gute Nachricht für viele hochmotivierte junge Menschen, denen der Zugang zum Arztberuf bislang de facto versperrt ist. Das Urteil ist auch eine deutliche Aufforderung an Bund und Länder, bei der schleppenden Umsetzung der Reform des Medizinstudiums endlich Tempo zu machen. Das Urteil beinhaltet aber auch eine heftige Ohrfeige für eine kleinstaatliche Bildungspolitik, die es nicht schafft, das Abitur bundesweit chancengleich und chancengerecht zu gewährleisten. Auch die Bildungspolitik muss hier nachbessern. Bund und Länder sollten das Urteil zum Anlass nehmen, die Studienzulassung gerechter zu gestalten und besser auf die Erfordernisse einer Gesellschaft im Wandel auszurichten.“

Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender und Hochschulexperte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): „In vielen Studiengängen ist ein Studienplatz selbst mit überdurchschnittlichen Abiturnoten erst nach langen Wartezeiten zu bekommen. Dabei braucht Deutschland in Zukunft nicht weniger, sondern deutlich mehr akademisch qualifizierte Fachkräfte. Die neue Bundesregierung muss daher schnellst möglich die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen schaffen, um den Numerus clausus (NC) zu überwinden. Dazu gehört zum einen ein weiterer Ausbau der Studienplätze durch eine Verstetigung und Aufstockung des Hochschulpakts. Zum anderen muss der Bund endlich ein Hochschulzulassungsgesetz verabschieden, mit dem Verfahren und Kriterien für die Vergabe von Studienplätzen einheitlich und verbindlich festgelegt werden. Die Auswahlverfahren verlaufen häufig beliebig, die Ergebnisse sind daher nicht vergleichbar, Zulassungsentscheidungen teilweise willkürlich. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht beanstandet, dass die Auswahlverfahren nicht standardisiert und strukturiert, die Auswahlkriterien nicht einheitlich sind. Der Bund muss daher endlich von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen und für ein einheitliches und faires Zulassungsrecht sorgen, das für alle Hochschulen verbindlich ist. Alle Studienbewerberinnen und -bewerber müssen eine realistische Chance haben, zugelassen zu werden – nicht nur die mit einem Einser-Abi oder reichen Eltern, die sich ein teures Studium im Ausland oder eine Zulassungsklage leisten können. Es kann nicht sein, dass in vielen Lehramtsstudiengängen Studienberechtigte abgewiesen werden, während gleichzeitig über einen zunehmenden Lehrkräftemangel geklagt wird. Wir brauchen sowohl eine Erhöhung der Kapazitäten als auch eine Verbesserung der Betreuungsrelation an den Hochschulen. Der Bund muss die Länder endlich bei der Grundfinanzierung der Hochschulen unterstützen und eine Entfristungsoffensive starten. Der Bund muss sich endlich seiner Verantwortung für die Gewährleistung des Grundrechts auf freie Hochschulzulassung stellen.“

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