ZWEITER KINDERRECHTEREPORT : Kinder kommen zu Wort: Mehr Partizipation gefordert

18. November 2019 // Ulrike Günther

Kinder möchten mitbestimmen, mitgestalten. Am Freitag haben Schüler*innen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) den Zweiten Kinderrechtereport übergeben. Darin sagen sie ihre Meinung zu wichtigen Fragen, wie Bildung, Familie und Gewalt.

Bild: zwd
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zwd Berlin. Den Bericht haben 22 Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 17 Jahren, unter ihnen auch zwei Jugendliche aus dem S.O.S.-Kinderdorf Hamburg, gemeinsam mit der zivilgesellschaftlichen Vereinigung National Coalition Deutschland (NCD) im Verlaufe einer einjährigen Projektarbeit verfasst. Sie bewerten in dem Report aus ihrer Perspektive, wie gut die vor 30 Jahren von den Vereinten Nationen (UN) formulierten Kinderrechte inzwischen in der Bundesrepublik umgesetzt sind. Für den Report haben die Schüler*innen eigene Projekte zu einer Vielzahl von sie betreffenden Themen entwickelt, durchgeführt und gemeinsam mit Vertreter*innen von NCD ausgewertet. Wie der von NCD geschriebene sog. Schattenbericht (zwd-POLITIKMAGAZIN berichtete) kommt dem Kinderrechtereport die entscheidende Funktion zu, den von der Bundesregierung bereits im Frühjahr dem UN-Kinderrechts-Ausschuss vorgelegten fünften und sechsten Staatenbericht um die Sichtweisen der Zivilgesellschaft zu ergänzen, zu der auch die Gruppe der Kinder und Jugendlichen gehört.

Kinder möchten öfter ihre Meinung sagen

“Kinder sollten ihre Rechte kennen” und “Kinderrechte sollten im Grundgesetz stehen” war der einhellige Tenor der bei dem Empfang im Ministerium anwesenden Kinder und Jugendlichen.” Zentral in dem Bericht ist eine Online-Umfrage, an der 2.725 Kinder und Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet teilnahmen und welche ihre Ansichten zu ihren Rechten in der Gesellschaft widerspiegelt. Demnach findet eine Mehrheit der Befragten, dass sich die Partizipation von Kindern an sie selbst betreffenden Entscheidungen verbessern sollte. 70 Prozent der Teilnehmer*innen würden den Ergebnissen der Umfrage zufolge gern häufiger oder manchmal ihre Meinung zu wichtigen Angelegenheiten einbringen, vor allem in der Schule (69 Prozent) und zu Hause (63 Prozent), jedoch auch im Verein (61 Prozent) oder an ihrem Wohnort (54 Prozent).

Die Bundesfamilienministerin betonte, dass die Zeit reif sei, Rechte von Kindern im Grundgesetz (GG) festzuschreiben. Die von Bund und Ländern gebildete Arbeitsgruppe zu den Kinderrechten habe ihre Beratungen abgeschlossen, sagte sie. Jetzt arbeite die Regierung an einem Gesetzentwurf, der voraussichtlich bis zum Internationalen Kindertag im Frühjahr 2020 vorliegen werde. Wichtig sei, “dass junge Menschen selbst als Expert*innen in eigener Sache zu Wort kommen, wenn es um die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland geht”, erklärte Luise Pfütze, Sprecher von NCD. Die Resultate des Berichts zeigten, dass die Kinder und Jugendlichen sich vielfach weit über eigene Belange hinaus “um Kinderrechte Gedanken machen und solidarisch für ihre Altersgenoss*innen eintreten”, unterstrich sie.

Viele Kinder kennen ihre Rechte nicht

Der 17-jährige Bastian leitete für den Kinderrechtereport eine Studie, bei der er 363 Schüler*innen aus allen Landesteilen Fragen zu Rechten von Kindern und Mitbestimmung stellte. Je nachdem, ob die Schulen Kinderrechte als Unterrichtsfach bzw. Thema in Projektwochen anboten oder nicht, waren die Befragten zu 90 Prozent (Kinderrechte-Schulen) oder bloß zu 8 Prozent (andere Schulen) in der Lage, ein Kinderrecht zu nennen. Um Teilnehmer*innen für seine Studie zu finden, musste er vielfach Hürden überwinden, da viele der “regulären” Schulen (ohne expliziten Kinderrechte-Bezug) sein Ansinnen “nicht ernst genommen” hätten, sagte er bei dem Besuch im Ministerium. In der Diskussion mit den Kindern stellte Giffey immer wieder einschlägige Positionen ihres Ministeriums zu den Kinderrechten heraus und machte die Kinder mit vom BMFSJ geplanten oder bereits eingerichteten Maßnahmen bekannt, welche ihre Rechte helfen sollen zu verwirklichen. Sie halte es für wichtig, “dass wir bei allen Gesetzen, die wir machen, schauen, wie sich das auf die Kinder und Jugendlichen auswirkt”, hob Giffey vor den Kindern hervor. Z.B. tourte der “Kinderrechte-Bus” anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der UN- Kinderrechtskonvention von Juni bis Oktober durch mehr als 20 Städte in ganz Deutschland, um Kinder und Jugendliche auf spielerische und interaktive Weise mit ihren Rechten bekannt zu machen. Die Strategie des “Jugend-Check” führte sie als eine Maßnahme ihres Ministeriums an, um die Folgen geplanter Gesetzesvorhaben auf Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 12 bis 27 zu untersuchen und in das gesetzgebende Verfahren einfließen zu lassen.

Sena und Emin, 10 und 9 Jahre alt, die ebenfalls an dem Report mitgewirkt haben, sind in ihrem Heimatort Bielefeld mit dem Aufbau eines Kinder- und Jugendparlamentes beschäftigt, “Wichtige, schwierige, komplexe Themen sollen kindergerechter verfasst werden”, fordert Sena. Und in den Schulen hätten die Standpunkte der Kinder oftmals wenig Platz: “Man wird manchmal gar nicht richtig wahrgenommen”, kritisierte Sena. Zum Thema politische Teilhabe machte Giffey ihren Standpunkt deutlich, dass sie es sinnvoll fände, “wenn wir auch bei Bundestags- und Landtagswahlen das Wahlrecht auf 16 herabsetzen könnten.” Weitere Projekte und Aktionen der Kinder waren u.a. Filme und Theaterstücke zu Gewalt in der Familie, ein Spenden-Flohmarkt für modernere Ausstattung in den Schulen und ein Fragebogen zu Mobbing, schulischem Leistungsdruck und Nachhilfe.

Mobbing und Gewalt in Schulen und Familien immer noch verbreitet

Mobbing an Schulen sei “ein Riesenthema” erklärte Giffey, und das machte auch die im Report referierte Großumfrage sichtbar: 38 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben dabei an, dass andere sie schon einmal gemobbt hätten, durchschnittlich 34 Prozent haben laut der Umfrage häufig oder gelegentlich Mobbing durch eine Gruppe erlebt. Die Familienministerin verwies an dieser Stelle auf die seit einem Jahr an rund 300 Schulen eingesetzten sog. Respekt-Coaches, die als geschulte Anti-Mobbing-Fachkräfte dem Entstehen von Gewalt und radikalen Tendenzen in der Schule vorbeugen und entgegenwirken sollen. Die Befragung der Schüler*innen brachte darüber hinaus ans Licht, dass trotz des seit 2000 geltenden “Rechts auf gewaltfreie Erziehung” (Bürgerliches Gesetzbuch), ca. 19 Prozent der Kinder und Jugendlichen regelmäßig oder gelegentlich von Eltern, Erzieher*innen und Betreuer*innen körperliche Gewalt erfahren. Kinder verletzten sich auch gegenseitig: Von den 7- bis 11-Jährigen haben 27 Prozent der Mädchen und 39 Prozent der Jungen der Umfrage zufolge schon körperliche Gewalt durch andere Kinder oder Jugendliche erlitten.

Giffey hob in der Dialogrunde hervor, dass “gewaltfreie Erziehung (...) bei uns im Familienministerium ein ganz wichtiges (Thema)” sei. Das vom BMFSJ eingerichtete Hilfetelefon erwähnte Giffey als ein Mittel, um von sexualisierter Gewalt Betroffene zu beraten. Mit “Schule ohne Rassismus”, “Schule mit Courage” nannte sie zusätzliche Projekte ihres Ministeriums, die sich gegen Gewalt an Schulen wenden. “Wenn Kinder geschlagen oder misshandelt werden, sollen sie jemanden haben, mit dem sie reden können”, schlug der 9-jährige Samuel vor, der gemeinsam mit der gleichaltrigen Ann-Sophie ein Theaterprojekt leitete, bei dem Schüler*innen der dritten und vierten Klasse den folgenreichen Verlauf einer Familienkrise inszenierten. Die 12-jährige Leyla und die 14 Jahre alte Jolina fanden durch ihre Befragung an 22 Kindern aus verschiedenen Schulen und Wohnorten heraus, dass vielen Schüler*innen die Möglichkeit fehlt, eine gezielte Förderung ihrer Leistungen zu erhalten, und verlangen konsequent, alle Schulen mit mehr Geldmitteln zu versorgen, damit sie Betreuung von Hausaufgaben und Nachhilfestunden bereitstellen können.

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