UMFRAGE HOLOCAUST GEDENKEN : Mehrheit der Bevölkerung für Pflichtbesuche von Schüler*innen in NS-Gedenkstätten

27. Januar 2020 // Ulrike Günther

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Ausschwitz durch die Rote Armee gefordert, alle Schüler*innen sollten mindestens einmal in ihrer Schulzeit ein früheres Konzentrationslager (KZ) oder eine andere Erinnerungsstätte für Opfer des NS-Regimes besuchen. Laut einer aktuellen Umfrage des Datenanalyse-Instituts YouGov ist die Mehrheit der Bundesdeutschen für eine solche Regelung.

KZ-Gedenkstätte Dachau - Bild: pixabay / Jordan Holiday
KZ-Gedenkstätte Dachau - Bild: pixabay / Jordan Holiday

zwd Berlin. Die Bildungsministerin sagte gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa), dass alle aufgefordert seien, sich weiterhin mit der Vergangenheit in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Karliczek äußerte sich jedoch nicht zu der Frage, ob ihrer Ansicht nach Besuche von Schüler*innen in NS-Gedenkstätten verpflichtend sein sollten.

Bei einer von dpa in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage des internationalen Forschungs- und Marketingportals YouGov haben sich 56 Prozent der bundesdeutschen Bürger*innen dafür ausgesprochen, dass Jugendliche wenigstens einmal während ihrer Schulzeit eine KZ-Gedenkstätte besichtigen sollten. Nur etwa ein Drittel der Befragten sind dagegen, 10 Prozent der Teilnehmer*innen der Studie machten dazu keine Angaben. Das Datenanalyse-Unternehmen YouGov wertete 2.052 Online-Interviews mit Personen ab 18 Jahren für die Studie aus, die repräsentativ für die erwachsene deutsche Bevölkerung ist.

Junge Erwachsene für schulische Besuche in KZ-Gedenkstätten

Laut der Umfrage ist knapp ein Viertel der Befragten der Auffassung, dass die Erinnerung an den Holocaust im Allgemeinen eine größere Rolle spielen sollte, etwa ein Fünftel meint allerdings, dass die Verbrechen der Nazis einen zu großen Raum in der Gedenkkultur einnähmen. Nach dpa-Angaben äußerten insbesondere junge Erwachsene in der Umfrage den Wunsch, Besuche in ehemaligen KZs für Schüler*innen zur Pflicht zu machen. 64 Prozent der befragten 18- bis 24-Jährigen sind dafür.

Maas fordert mehr Schutz für jüdische Einrichtungen

Politiker*innen der Regierung und Oppositionsfraktionen riefen anlässlich des Jahrestages der Befreiung des KZs Auschwitz-Birkenau dazu auf, dem zunehmenden Antisemitismus in der Bundesrepublik verstärkt entgegenzutreten. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schrieb im Spiegel, man müsse dringend einer drohenden Auswanderung von Juden und Jüdinnen aus der Bundesrepublik gegensteuern. Er nannte es eine Schande, „dass sich Menschen jüdischen Glaubens bei uns nicht mehr zu Hause fühlen.“ Jüdische Einrichtungen in Europa seien besser zu beschützen und ein EU-weit gültiges Recht zu schaffen, das die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt, so Maas.

In dem größten Vernichtungslager der Deutschen wurden mehr als eine Million Menschen umgebracht. Insgesamt fielen dem Holocaust rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen zum Opfer. Sie wurden von den Nationalsozialisten erschossen, in den Gaskammern ermordet oder erlagen den unmenschlichen Bedingungen in den KZs.

Giffey: "Demokratie braucht Erinnerung"

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) wies in einer Stellungnahme zum Jahrestag darauf hin, dass die Förderung von Demokratie und Prävention in Zeiten ansteigender extremistischer Gewalttaten wie vermehrter Hetze im Internet oder der erhöhten Anzahl antisemitischer Vorfälle an Bedeutung zunähmen. Giffey beteiligte sich an einer Aktion, die sog. Stolpersteine zu putzen – ins Pflaster Berliner und anderer städtischer Bürgersteige eingelassener Gedenktafeln, die an von den Nationalsozialisten verfolgte und ermordete Menschen erinnern.

Die SPD-Politikerin betonte, gerade am heutigen Gedenktag sei es wichtig „zu zeigen, dass wir die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wachhalten und die Opfer nicht in Vergessenheit geraten lassen.“ Unsere Demokratie brauche Erinnerung, betonte die Familienministerin, sowohl an das einmal Geschehene als auch an die historische Verpflichtung, die für uns daraus erwachse.

Linke sehen Gedenken an NS-Verbrechen als „Auftrag für die Zukunft“

Ähnlich erklärten die Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch zum Gedenktag es sei „unerträglich und nicht hinnehmbar, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst haben müssen“. Alle Bürger*innen seien gefordert, sich dieser erschreckenden Entwicklung entschieden und geschlossen entgegenzustellen. Angesichts der von ihnen angeprangerten wachsenden Bestrebungen des rechten politischen Spektrums, die NS-Ideologie der Vernichtung zu verharmlosen oder zu relativieren, mahnten sie, das Gedenken an die Verbrechen von Auschwitz wachzuhalten sei ein „Auftrag für die Zukunft“

Zentralrat der Juden für pflichtgemäße Besichtigungen in der Schulzeit

Das Wesentliche sei „das gegenseitige Kennenlernen“, um dem Antisemitismus in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sagte der Präsident des Zentralrates Dr. Josef Schuster im Interview mit der ARD. Denn vor dem, was man kenne, habe man keine Sorge „und das wird man auch nicht versuchen zu diskriminieren.“ Schon zum vorjährigen Gedenktag des Holocaust hatte Schuster vor der „Geschichtsvergessenheit“ gewarnt. Er beklagte das mangelnde geschichtliche Wissen und das fehlende Einfühlungsvermögen mit den Opfern, die zu Gleichgültigkeit führten.

Gerade Schüler*innen sollte es ermöglicht werden, „sich einen emotionalen Zugang zum historischen Geschehen zu verschaffen“, erklärte der Präsident des jüdischen Zentralrates. Dafür seien Besichtigungen der authentischen Gedenkorte „ein geeignetes Mittel“ und sollten für sie „zum Regelfall werden“. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte sich erstmals 2015 zugunsten pflichtmäßiger Besuche in KZ-Gedenkstätten ausgesprochen.

NS-Verbrechen verstärkt in Schulen thematisiert

Nach Angaben der YouGov-Studie wird in den vorausgegangenen Jahren der Massenmord an den europäischen Juden in den Schulen verstärkt thematisiert. Demnach haben 37 Prozent der Bevölkerung ihre Kenntnisse über den Holocaust in der Schule erworben, 43 Prozent über Filme, Bücher oder das Internet. Bei den jüngeren Befragten zwischen 18 und 24 Jahren sind es laut YouGov 60 Prozent, die ihr Wissen über die Tötungsmaschinerie der Nazis im Schulunterricht erlangten, bei Personen ab 55 Jahren hingegen weniger als ein Drittel (27 Prozent). Fast die Hälfte dieser älteren Personengruppe (45 Prozent) brachten in der Umfrage zum Ausdruck, dass das Thema zu wenig Beachtung finde und man es besonders in der Schule mehr behandeln sollte.

Mit 43 Prozent sind mehr Ostdeutsche im Schulunterricht über das gesamte Ausmaß der NS-Verbrechen informiert worden als Westdeutsche (36 Prozent). Über die Hälfte der Befragten (55 Prozent) gaben der Studie zufolge an, schon einmal eine KZ-Gedenkstätte besucht zu haben. Bei den jüngeren Leuten im Alter von 18 bis 24 Jahren sind es mit 67 Prozent deutlich mehr als bei den 55-Jährigen oder älteren Personen (49 Prozent).

Artikel als E-Mail versenden