zwd-CHEFREDAKTEURIN HILDA LÜHRIG-NOCKEMANN : Muss die Idee eines verpflichtenden Jahres für Jugendliche auf europäische Füße gestellt werden?

8. September 2017 // Hilda Lührig-Nockemann

​Spanische Schulabgänger*innen pflanzen nach den Waldbränden in Griechenland Bäume, deutsche Jugendliche helfen in italienischen Flüchtlingslagern und polnische Teen­ager arbeiten in irischen Biblio­theken. Das könnte ein vertrauter Anblick werden, wenn aus der Vision des Chefs der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Pastor Ulrich Pohl, Realität würde.

Er hat ein Allgemeines Soziales Jahr für alle Schulabgänger*innen in Deutschland im Sinne einer Verlängerung der Schulpflicht gefordert – perspektivisch auch in der EU. Das schlug Wellen: Gesetzesänderung, Verpflichtung, Kosten – selbst das Reichsarbeitsgesetz von 1935 wurde als Gegenargument bemüht!

Doch so neu, selbst mit Blick auf die europäischen Perspektive, ist der Vorschlag nicht. Er war schon 2012 von dem grünen Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit und dem Soziologen Ulrich Beck zur Diskussion gestellt worden. Vor mehr als 15 Jahren, nach der Abschaffung der Wehrpflicht und des damit verbundenen Zivildienstes, wurde die Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr für alle laut. Prominente Befürworter*innen wie Ablehner*innen gab es damals wie heute. Bei dessen Einführung ging und geht es um ein Lebensjahr der Jugendlichen und um Kosten. Doch wurden diese jemals in Frage gestellt, als es um die Einführung der Wehrpflicht sowie des Zivildienstes ging? Selbstverständlich erwarten wir von den von uns gewählten Politikern bei einer Gesetzesänderung – wenn diese bei einer Verlängerung der Schulpflicht überhaupt nötig würde – ein sehr genaues Hinzusehen. Das zeigt ein Sprung in die nationalsozialistische Vergangenheit. Das Gesetz von 1935 wollte „alle Deutschen beiderlei Geschlechts“ im „­Geiste des Nationalsozialismus“ zur „wahren Arbeitsauffassung“ erziehen. Doch völlig konträr dazu steht das Ziel eines Allgemeinen Sozialen Jahres, das nach der Intention von Pastor Pohl die Entwicklung von „sozialer Kompetenz“ und „gesellschaftlicher Solidarität“ sowie von „Toleranz und Verständnis für unterschiedliche Lebenssituationen von Menschen“ beinhaltet.

Die auf die EU gerichtete Perspektive sollte nach meiner Überzeugung dabei jedoch das Schwergewicht bilden. Wenn wir Europa neu denken wollen, eine europäische Identität schaffen wollen, müssen wir bei der Jugend ansetzen. Die Bürger*innen verschiedener Nationen können sich nur als Europäer verstehen, wenn sie die Chance haben, sich persönlich von Jugend an kennen­zulernen. Die Spezifika der verschiedenen Länder erschließen sich durch Begegnungen auf sozialer, ökologischer oder kultureller Ebene. Keine Konkurrenz zum Erasmus-Programm für Studierende sondern eine zweite Säule – für alle! Insofern lautet unsere Debattenfrage:

Muss die Idee eines verpflichtenden Jahres für Jugendliche auf europäische Füße gestellt werden?

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