"DIE AKTE ROSENBURG" : Online-Broschüre zur Rolle von bundesdeutschen Justizbeamt*innen im NS-Regime erschienen

3. September 2019 // Ulrike Günther

Das "Rosenburg-Projekt" förderte schockierende Fakten über den Umgang des Bundesministeriums für Justiz der 1950er bis 1960er Jahre (BMJ) mit seiner eigenen NS-Geschichte zutage. Im Juli hat das heutige Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) eine Online-Broschüre herausgebracht, die die Ergebnisse der umfangreichen Studie von 2016 in gestraffter Form einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert.

Bild: BMJV
Bild: BMJV

zwd Berlin. Unter dem Namen "Rosenburg-Projekt" untersuchte eine Unabhängige Wissenschaftliche Kommission (UWK) von 2012 bis 2016, wie das BMJ in den 1950er bis 1960er Jahren mit seiner eigenen NS-Geschichte umging. In einer im Juli herausgebrachten Online-Broschüre fasst das BMJV die Ergebnisse des 2016 in Buchform veröffentlichten, 600-seitigen Berichtes über die "Akte Rosenburg" zusammen. Auf diese Weise kann sich auch eine breitere Öffentlichkeit über die darin dargestellten Tatsachen informieren. Insbesondere nahm die Kommission unter der Leitung der Professorinnen Manfred Görtemaker von der Universität Potsdam und Christoph Safferling von der Universität Erlangen-Nürnberg in dem genannten Forschungszeitraum die personellen Verflechtungen des Ministeriums mit Organisationen der früheren NS-Diktatur sowie die fachlichen Kontinuitäten in der juristischen Praxis der jungen Bundesrepublik in den Blick. Das heißt, die UWK ging der Frage nach, an welchen Stellen und wie viele "belastete" Mitarbeiter*innen das Ministerium in der Nachkriegszeit beschäftigte, die selbst in das politische, gesellschaftliche und/ oder juristische Handeln des NS-Regimes verstrickt waren, und welche sachlichen Folgen das für die bundesdeutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung in diesen Jahren hatte.

Welche Rolle spielte das BMJ bei Amnestie und Freilassung von NS-Täter*innen?

Die UWK erforschte dabei auch die Frage, welche Rolle das BMJ bei Amnestie und vorzeitiger Entlassung von inhaftierten Täter*innen des NS-Regimes spielte, durch welche bis 1968 fast alle der Verurteilten wieder aus der Haft freikamen. Darüber hinaus ermittelte die Kommission, wie in den frühen Jahren der Bundesrepublik durch neue erlassene Gesetze zahlreiche, durch die NS-Diktatur verübte Gewaltverbrechen unter bestimmten Umständen rückwirkend verjährten oder wie das BMJ daran mitwirkte, die Rehabilitierung von Opfern der nationalsozialistischen Justiz zu verschleppen. Dazu gewährte das BMJV den Forscher*innen erstmalig umfassenden Einblick in alle vorhandenen Akten des Ministerium, welche die vorher geheimgehaltenen Fakten erhellen konnten. Namensgebend für das Projekt war die "Rosenburg", der von 1950 bis 1973 im Stadtteil Bonn-Kressenich gelegene Amtssitz des BMJ.

Jurist*innen dürfen heutzutage nicht "bloße Techniker des Rechts" sein

Die "Perversion des Rechts während der Nazi-Zeit" und das "Versagen der jungen Bundesrepublik bei deren Aufarbeitung" machten offenkundig, dass "Juristinnen und Juristen ... heute mehr sein (müssen) als bloße Techniker des Rechts, die jede beliebige politische Idee in Paragraphen gießen und sie vollstrecken", sagte die amtierende Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) im Vorwort der Online-Broschüre. Stattdessen komme es darauf an, "die Werte unseres Grundgesetzes – Menschenwürde, Freiheit und Vielfalt – zu verinnerlichen und zu leben". Die Einsicht in die Zusammenhänge der Geschichte befähige uns, auch Verletzungen von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen in der Gegenwart zu erkennen, erklärte sie.

Sowohl der ausführliche Forschungsbericht der UWK von 2016 als auch die gestraffte Online-Version machen deutlich, wie viele der mit Schuld behafteten Jurist*innen tatsächlich nach 1945 in der Bundesrepublik wieder im Staatsdienst tätig sein konnten. Wie das zwd-POLlITIKMAGAZIN in Ausgabe 345 anlässlich der Veröffentlichung der Studie im Oktober 2016 berichtete, förderte die Untersuchung einige spektakuläre Fälle von Jurist*innen des BMJ zutage, welche in dem angegebenen Zeitraum in ihrer Biographie eine einschlägige Nazi-Vergangenheit aufwiesen, d.h. in schockierender Weise an den Machenschaften des NS-Regimes beteiligt waren. Unter ihnen fanden sich Akteur*innen, die wie Franz Maßfeller oder Josef Schafheutle im Nazi-Ministerium für Rassenrecht und politisches Strafrecht zuständig waren, wie Eduard Dreher, Ernst Kanter oder Walter Roemer als Staatsanwält*innen oder Richter*innen an zahllosen Todesurteilen mitwirkten. Max Merten organisierte als Kriegsverwaltungsrat die Deportation von Zehntausenden von Juden. Sämtliche von der UWK aufgedeckten NS-Mittäter*innen hatten am BMJ nach dem Krieg höchste Leitungspositionen als Referats- oder Abteilungschefs, Ministerialdirektor*innen und -dirigent*innen inne.

Viele Justizbeamt*innen des BMJ gehörten Partei oder Verbänden der NS-Diktatur an

Aber auch die Ergebnisse der von der UWK durchgeführten Analyse der insgesamten Personalstruktur des BMJ waren erschreckend:Von 170 Justizbeamt*innen, die das BMJ zwischen 1949 bis 1973 in leitenden Stellungen beschäftigte, gehörten 90 Personen, d.h. ca. 53 Prozent,vormals der NSDAP an, 34 der am BMJ tätigen Jurist*innen bzw. 20 Prozent waren zur Zeit des Nationalsozialismus Mitglieder der SA. Über 15 Prozent des von der UWK untersuchten Personenkreises waren während der Nazi-Diktatur sogar im Reichsjustizministerium angestellt. Aus den im Gesamtbericht wie in der Online-Broschüre präsentierten Zahlen wird ersichtlich, wie es möglich war, dass die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit über viele Jahre hintertrieben wurde. Ebenso erhellen sie die Hintergründe, die zur Folge hatten, dass die bundesdeutsche Gesellschaft die Leiden der unzähligen Opfer lange Zeiti gnorierte und viele der von den Nazis verfolgten Opfergruppen wie die Homosexuellen oder die Sinti und Roma auch in der Bundesrepublik wieder Diskriminierung erfuhren.

Ein Ziel der Studie der UWK war es, gemäß dem schon 2013 im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorsatz, die "Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Ministerien und Bundesbehörden voran(zu)treiben" und ausgehend vom faktischen Versagen der Justiz der Nachkriegszeit bei der Aufklärung und Bestrafung der NS-Verbrechen ganz konkret die Haltung des BMJ zur NS-Vergangenheit zu durchleuchten. Auch der neue Koalitionsvertrag von 2017 bekräftigt diese Forderung, indem die Regierungspartner dort die Beschäftigung mit der NS-Terrorherrschaft als Teil des "demokratischen Grundkonsens(es" bezeichnen und sich verpflichten, die "fortgesetzte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien, Bundesbehörden sowie des Deutschen Bundestages" weiterhin zu unterstützen.

Wanderausstellung macht Ergebnisse der Forschung einem breiten Publikum zugänglich

Der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erklärte bei der Herausgabe des Forschungsberichtes, dass es dessen wesentliche Aufgabe sei, herauszustellen, welche Konsequenzen aus dem "Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und seiner mangelnde) Aufarbeitung in der Nachkriegszeit" sowohl für die Ausbildung von Jurist*innen als auch allgemein für ihr Ethos, also ihr sittlich-moralisches Selbstverständnis zu ziehen seien. Dabei gelte es im Sinne einer "Public History" jedoch auch, einen kritischen, öffentlich geführten Diskurs über die Erkenntnisse des Forschungsprojektes einzuleiten, unterstrich Maas. Anknüpfend an den Bericht der UWK strebte der damalige Justizminister eine breitangelegte Debatte zur juristischen Ausbildung und Fortbildung in der Bundesrepublik an. Seiner Ansicht zufolge sollte die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi-Justiz Pflichtstoff im Jura-Studium werden. In einem 2017 erschienenen Buch erinnert Maas an "Furchtlose Juristen", so der Titel des Werkes, die als Richter*innen oder Staatsanwält*innen dem NS-Unrecht widerstanden haben. Außerdem startete das BMJV in Kooperation mit dem Haus der Wannseekonferenz im Herbst 2016 eine Fortbildungsreihe für Mitarbeiter*innen des Ministeriums zu den Konsequenzen, die sich aus der Beteiligung der Verwaltung des BMJ an den NS-Verbrechen und deren mangelnder Aufarbeitung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ergaben. Um die Resultate der Untersuchung der UWK einem größtmöglichen Publikum zugänglich zu machen, eröffnete im Sommer 2017 in Berlin eine Wanderausstellung zum Thema "Die Rosenburg – Das Bundesjustizministerium im Schatten der Vergangenheit", welche seitdem durch viele deutsche Städte, aber auch die USA tourt. Derzeit wird die Ausstellung im polnischen Wrocłav (noch bis Anfang Oktober), danach in Krakau und Poznan gezeigt, von Mitte Oktober bis Anfang Januar wird sie außerdem an der Goethe-Univeristät in Frankfurt am Main zu sehen sein.

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