Prof. Dr. Robert Vehrkamp ist Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung und Gastprofessor am Zentrum für Demokratieforschung (ZDEMO) der Leuphana Universität Lüneburg. Von 2021-2023 war er sachverständiges Mitglied der Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit des Deutschen Bundestages.
Sein Gastbeitrag für das zwd-POLITIKMAGAZIN eröffnet die im Bundestag demnächst anhängigen Debatten.
Mehr Wahlkreis wagen!
Plädoyer für die Einführung einer integrierten Stichwahl im Wahlkreis
– ein Vorschlag zur Reform des Bundeswahlrechts
In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue Bundesregierung eine erneute Reform des Wahlrechts angekündigt. Es wäre die fünfte Reform in weniger als fünfzehn Jahren. Das Bundeswahlrecht ist zur Dauerbaustelle geworden. Das muss und kann sich wieder ändern. Wahlrecht ist zwar immer auch eine Machtfrage. Es darf aber nicht zum Spielball wechselnder Regierungsmehrheiten werden. Schwarz-Rot hätte nun die historische Chance, das Wahlrecht dauerhaft zu befrieden. Der Weg dahin ist im Koalitionsvertrag angelegt und die Regierung hat angekündigt, das Thema noch in diesem Jahr abzuräumen. Aber was ist vereinbart? Und wie könnte eine Lösung aussehen, die länger hält als bis zum nächsten Regierungswechsel?
Im Koalitionsvertrag vereinbart wurde zunächst ein Formelkompromiss - mehr nicht, aber immerhin! Der Formelkompromiss sieht vor, dass künftig wieder alle Erststimmenbesten in den Wahlkreisen ein Mandat erhalten sollen. Aber ohne damit den Bundestag wieder zu vergrößern. Und ohne erneute Verzerrungen des Verhältniswahlergebnis durch Überhangmandate zu riskieren. Der Formelkompromiss ruft also wieder einmal nach der Zauberformel. Nach der Quadratur der Wahlkreise. Allerdings ohne zu sagen, wie die genau die aussieht. Aber das im Koalitionsvertrag formulierte Anliegen ist richtig und auch umsetzbar: In jedem Wahlkreis sollte die oder der Erststimmenbeste sein Mandat erhalten, ohne dadurch den Proporz zu verzerren oder den Bundestag zu vergrößern. Gelänge das, würde eine offensichtliche Schwäche der Wahlrechtsreform der Ampel beseitigt, ohne deren Stärken zu opfern.
Was sind die Stärken und Schwächen der Ampelreform?
Der große Wurf der Ampelreform war die Einführung der sogenannten Zweitstimmendeckung. Wahlkreismandate müssen nun durch das Zweitstimmenergebnis der Parteien gedeckt sein. Damit werden Überhangmandate, Proporzverzerrungen, Ausgleichsmandate und unkontrollierbare Bundestagsvergrößerungen systematisch vermieden - also nicht nur für bestimmte Wahlergebnisse und besondere Konstellationen, sondern für alle denkbaren Wahlergebniskonstellationen. Die Zweitstimmendeckung hat damit ein ewiges Menetekel unseres Bundeswahlsystems nachhaltig geheilt. Sie wieder aufzugeben, wäre deshalb fahrlässig. Dass hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt und anerkannt. Die Zweitstimmendeckung sei nicht nur verfassungsrechtlich zulässig.
Sie führe sogar zu einer Stärkung des Direktmandats im Wahlkreis, weil sie dem Erststimmenergebnis aus dem Wahlkreis eine zusätzliche Legitimation aus dem Zweitstimmenergebnis der Verhältniswahl hinzufügt. Ein schöneres Kompliment hätte das Verfassungsgericht der Ampelreform kaum machen können.
Feuerprobe bestanden und vom Bundesverfassungsgericht glänzend bestätigt
Und auch seine Feuertaufe bei der Bundestagswahl 2025 hat die Zweitstimmendeckung glänzend bestanden. Zum ersten Mal seit 1976 (sic!) hält der Bundestag seine Regelgröße wieder ein, weil dank Zweitstimmendeckung keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr anfallen konnten.
Dennoch bleibt eine empfindliche Schwäche der Ampelreform. In den Wahlkreisen, in denen den Erststimmenbesten die Zweitstimmendeckung fehlt, wird nach dem Ampelgesetzt kein Direktmandat mehr vergeben (=Kappung). Bei der Bundestagswahl 2025 waren davon insgesamt 23 Wahlkreise betroffen. Und obwohl fast alle dieser Wahlkreise durch Listenmandate anderer Parteien im Bundestag vertreten und deshalb nicht wirklich „verwaist“ sind, wurde die Nichtzuteilung von Direktmandaten zum großen Aufreger. Und ich meine: zurecht! Hier haben CDU/CSU in ihrer Kritik am Ampelwahlrecht einen berechtigten Punkt, der durch die schwarz-rote Koalition bearbeitet und geheilt werden sollte. Die WählerInnen mit ihrer Erststimme für ein Wahlkreismandat stimmen zu lassen, es dann aber nicht zu vergeben, mag wahlsystematisch noch so gut begründbar sein. Klug und alltagstauglich ist es nicht. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, würde auch bei künftigen Wahlen immer wieder zu Streit und Skandalisierung führen und sollte deshalb vermieden werden.
Aber wie? Durch die Einführung einer integrierten Stichwahl in den Wahlkreisen!
Eine integrierte Stichwahl würde nicht nur jedem Wahlkreis ein direkt gewähltes Direktmandat garantieren. Sie würde darüber hinaus diejenigen WahlkreissiegerInnen küren, die als echte SiegerInnen auch eine echte Mehrheit der WählerInnen hinter sich hätten. Das klingt nach einer demokratischen Selbstverständlichkeit, ist es aber im derzeitigen Bundeswahlrecht nicht. Aufgrund der zunehmenden Fragmentierung des Parteiensystems werden Wahlkreise werden bei uns schon lange nicht mehr mit absoluten Mehrheiten gewonnen. Stattdessen reichen häufig schon wenig mehr als 20 Prozent für einen „Sieg“ im Wahlkreis. Wer mit 25 Prozent einen Wahlkreis gewinnt, wurde aber von 75 Prozent der WählerInnen im Wahlkreis gar nicht gewählt. Und es kann gut sein und kommt immer häufiger vor, dass die sogenannten SiegerInnen im Wahlkreis von einer absoluten Mehrheit im Wahlkreis ganz explizit abgelehnt werden. Im schlimmsten Fall kann aus dem derzeitigen System sogar der oder die schlechteste aller Kandidierenden als SiegerIn hervorgehen, die oder der in einer Stichwahl gegen alle anderen Kandidierenden krachend verlieren würde.
Die naheliegendste Versicherung gegen die Vergabe solcher Verlierermandate wäre eine Stichwahl. Die beiden Bestplatzierten würden dabei in einem zweiten Wahlgang noch einmal gegeneinander antreten. Dann hätte die Mehrheit im Wahlkreis zumindest die Möglichkeit das Schlimmste zu verhindern. Aber ein zweiter Wahlgang wäre nicht nur sehr aufwändig. Er würde auch nicht zu unserem System der personalisierten Verhältniswahl passen. Die Macht- und Mandatsanteile der Parteien sind ja durch das Verhältniswahlergebnis der Zweitstimmen bereits vergeben. Ein zweiter Wahlgang in den Wahlkreisen würde daran nichts mehr ändern. Die Wahlbeteiligung wäre deshalb niedrig und es könnte zu stark verzerrten Zufallsmehrheiten kommen. Der Aufwand würde also nicht lohnen und sogar neue Nachteile mit sich bringen.
Eine besonders geeignete Variante für die Wahl in den Wahlkreisen wäre die Rangfolgewahl
Sehr viel besser geeignet wäre deshalb eine integrierte Stichwahl. Die WählerInnen geben dabei ihre Stimmen schon im ersten Wahlgang so ab, dass eine Stichwahl bereits integriert ist. Eine besonders geeignete Variante für die Wahl in den Wahlkreisen ist die Rangfolgewahl. Die WählerInnen entscheiden sich dabei mit ihrer Erststimme nicht nur für ihre erste Wahl, sondern legen eine Rangfolge zwischen allen Kandidierenden im Wahlkreis fest. Bei der Auszählung der Stimmen würden dann zuerst die Erstplatzierungen zählen. Ergibt sich dabei keine absolute Mehrheit der Erstplatzierungen, kommen die Zweit- und Drittpräfenzen ins Spiel. Der Auszählungsprozess wird so lange fortgesetzt, bis einer der Kandidierenden die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht hat. Gewählt wären dann wieder echte Siegerinnen und Sieger im Wahlkreis, hinter denen eine echte demokratische Mehrheit der WählerInnen steht. Randständige Extremisten wären chancenlos. Und die gewählten WahlkreissiegerInnen hätten ihr Mandat nicht nur den eigenen Parteigängern zu verdanken, sondern auch den Präferenzstimmen aus anderen Parteilagern. Das würde den Wahlkreissieger auch über seine Parteigrenzen hinaus legitimieren und seine Stellung im Wahlkreis als Ansprechpartner für alle BürgerInnen stärken. Integrierte Stichwahlen fördern damit den Kompromiss und Konsens zwischen den Parteien. Sie dämpfen die Polarisierung und wirken ausgleichend und befriedend. Sie stärken die demokratische Resilienz. Und was brauchen wir derzeit mehr?
Auch das Prinzip der Zweitstimmendeckung müsste nicht wieder aufgeben werden. Anstatt die Erststimmenbesten ohne Zweitstimmendeckung einfach zu kappen und ihre WählerInnen damit vollständig unberücksichtigt zu lassen, würden die mit ihren Zweit- oder Drittpräferenz gezählt. Ihre Stimmen blieben erfolgswirksam und würden an der Kür des dann sogar besser legitimierten Erststimmensiegers mitwirken.
Mehr Bürgernähe, besser legitimierte Wahlkreis-siegerinnen und stärkere Wahlkreise
Zu aufwändig und kompliziert? Wem eine komplette Rangfolge aller Wahlkreiskandidierenden zu kompliziert erscheint, könnte die vollständige Rangfolge auch durch eine einzige Ersatzstimme oder eine Rangfolge nur der ersten drei Präferenzen ersetzen. Die integrierte Stichwahl lässt sich in vielen Varianten umsetzen. Und dass sie praxis- und alltagstauglich ist, zeigen die guten Erfahrungen zum Beispiel in Australien, wo das System sich seit Jahrzehnten in der Praxis bewährt hat.
Die Vorteile einer integrierten Stichwahl im Wahlkreis wären also zahlreich. Mehr Bürgernähe und stärkere Wahlkreise wären das Ergebnis. Deshalb sollte die neue Bundesregierung „mehr Wahlkreis wagen“, und mit der Einführung der integrierten Stichwahl in den Wahlkreisen eine Wahlrechtsreform auf den Weg bringen, die ebenso innovativ wie nachhaltig wäre – und darüber hinaus die Chance hätte, auch den nächsten Regierungswechsel zu überleben.
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