FORSCHUNGS-AKADEMIE ZUR CORONA-KRISE : Recht auf Bildung in der Krise gewährleisten: Ratschläge zum Schulanfang

5. August 2020 // Ulrike Günther

Wie kann die Rückkehr zum regulären Schulunterricht nach den Ferien gelingen? Das Recht der Kinder auf Bildung rückt die Leopoldina-Akademie in ihrer neuen Stellungnahme in den Mittelpunkt. Schulen, Ministerien und Institute sollen gezielte Konzepte erarbeiten, um den Gesundheitsschutz mit den Erfordernissen des Lernens zu vereinbaren. Familien stärken, Lehrkräfte unterstützen, digitale Infrastruktur schaffen, empfehlen die Forscher*innen. Dafür braucht es mehr finanzielle Mittel.

Schulen sollen Gesundheitsschutz und Lernen miteinander vereinbaren. - Bild: Pixabay / Alexandra Koch
Schulen sollen Gesundheitsschutz und Lernen miteinander vereinbaren. - Bild: Pixabay / Alexandra Koch

zwd Berlin. In ihrer heute (06. August) veröffentlichten fünften Ad-hoc-Stellungnahme zur Corona-Epidemie betont die Leopoldina-Akademie der Wissenschaften die Bedeutung von Bildung für die persönliche Entfaltung und gesellschaftliche Teilhabe der Kinder. Die in der Krise getroffenen Schutzmaßnahmen haben dieses grundlegende Recht massiv eingeschränkt und mit der monatelangen Schließung von Kitas und Schulen die Bildungsaufgabe vielfach in die Familien verlegt, beschreiben die Forscher*innen die Problemlage. Bildungseinrichtungen würden laut Leopoldina häufig mit der Frage allein gelassen, wie ein verlässlicher Unterricht über die Distanz zu bewerkstelligen ist.

Die Wissenschaftler*innen aus den Gebieten von Medizin, Pädagogik und Naturforschung warnen vor den längerfristigen nachteiligen Folgen für die Erwerbsbiographien der Betroffenen ebenso wie für das Leistungspotenzial der Gesellschaft, wenn die entstandenen Defizite nicht zeitnah durch entsprechende Maßnahmen ausgeglichen werden. Insgesamt habe sich in der Krisenzeit erwiesen, „dass das bestehende System unter Krisenbedingungen nicht resilient und flexibel genug reagieren kann“, heißt es in der Stellungnahme. Es gebe keine eindeutig geregelten Verfahrensweisen, wie sich die beteiligten Akteur*innen untereinander abstimmen könnten, kritisieren die Forscher*innen. Darüber hinaus fehle es an geeigneten, sicheren digitalen Lernportalen sowie weiteren Werkzeugen.

Mehr Finanzmittel für angemessene Lernangebote erforderlich

Die Leopoldina-Akademie erkennt den Fachkräften und Politiker*innen im Bildungswesen Verantwortung dafür zu, „eine Kultur des Vertrauens und der Ermöglichung“ zu schaffen, in der die Beteiligten praktisch umsetzbare Lösungswege finden, um den Schüler*innen auch unter den erschwerten Verhältnissen „attraktive Lernstrukturen“ zugänglich zu machen. Die Wissenschaftler*innen räumen jedoch ein, dass solche umfangreichen Maßnahmen auch Kosten verursachen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Politik zum Eindämmen der Krisenfolgen bisher noch relativ wenig Mittel in die Bildung investiert habe, sehen sie daher „gemeinsame( ) finanzielle( ) Kraftanstrengungen“ als unerlässlich an.

Da nach Ansicht der Leopoldina auch im nun anlaufenden neuen Schuljahr Corona-Erkrankungen an Schulen und Kitas auftreten werden, müsse man die Einrichtungen auf eine Weise organisieren, dass es ihnen auch im Fall zeitweiliger Schließungen möglich ist, „krisensicher und zuverlässig (zu) arbeiten“. Entscheidend dabei sei es, für alle Kinder und Jugendliche eine an ihren Fähigkeiten ausgerichtete Entwicklung ihrer Leistungen wie ihrer Persönlichkeit sicherzustellen. Strukturen zur Förderung von körperlich, geistig oder anderweitig beeinträchtigten Kindern müssten nach Auffassung der Wissenschaftler*innen funktionsfähig bleiben, um auch dem Anspruch dieser Schüler*innen auf Bildung gerecht zu werden.

KMK: Schulen müssen sich auf verschiedene Szenarien einstellen

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) Stefanie Hubig (SPD) bewertete die Empfehlungen der Leopoldina-Akademie als wichtig und konstruktiv. Viele Ratschläge der Forscher*innen würden mit dem von der KMK vereinbarten Rahmen für Schutz- und Hygieneregeln übereinstimmen, welche den Ländern für ihre Konzepte als Grundlage dienen. Um das Recht der Schüler*innen auf Bildung so gut wie möglich zu verwirklichen, sei es das Ziel der Kultusminister*innen, zum schulischen Regelbetrieb zurückzukehren, insofern das machbar ist. Dieses Streben müsse nach Aussagen von Hubig natürlich mit dem Gesundheitsschutz in Einklang gebracht werden.

Aufgrund des seit einigen Tagen zu verzeichnenden Anstiegs der Erkrankungszahlen bereiten sich die Länder nach Angaben der KMK-Präsidentin auf unterschiedliche Szenarien vor: den Regelunterricht bei gleichzeitig geltenden Hygienemaßnahmen, das Abwechseln von Präsenz- und Distanzunterricht sowie lokale Schulschließungen, wenn das Erkrankungsgeschehen diese erforderlich macht. Auf diese unterschiedlichen Lernsituationen sollten sich die Schulen schnell und problemlos einstellen können, forderte Hubig. Mit der dafür zentralen Frage der Digitalisierung werde man sich in weiteren Beratungen beschäftigen. Da das Schuljahr mit „besonderen Herausforderungen“ verbunden und die regionale Lage unterschiedlich sein werde, würden sich die Kultusminister*innen der KMK-Präsidentin zufolge weiterhin miteinander austauschen, damit das Lernen in der Schule überall erfolgreich verlaufe.

Die wichtigsten Empfehlungen der Leopoldina-Akademie im Einzelnen:

1. Zugang zu Bildungseinrichtungen unter Pandemie-Bedingungen so lange wie möglich aufrechterhalten

  • die Schließung ganzer Bildungseinrichtungen sollte so weit wie möglich verhindert werden
  • kleine feste Kontaktgruppen (epidemiologische Gruppenverbände, z.B. die Schulklasse oder Stammgruppe in der Kita) einrichten, die zueinander möglichst wenige Berührungspunkte haben
  • ein niedrigschwelliges Angebot zur symptombasierten Testung ist entscheidend für die Früherkennung der Erkrankung
  • die Umsetzung der Abstands- und Hygieneregeln sowie ein häufiger Luftaustausch sind auch in Bildungseinrichtungen wesentlich
  • wenn der notwendige Abstand nicht eingehalten werden kann, sollten Schülerinnen und Schüler ab der 5. Klasse einen Mund-Nasen-Schutz auch innerhalb des Gruppenverbandes tragen, Jüngere nur außerhalb ihres Gruppenverbandes
  • zur Umsetzung der Maßnahmen bedarf es zentral, beispielsweise durch Landesinstitute und Ministerien, gesteuerter Unterstützungsstrukturen und gleichzeitig einer hohen Flexibilität vor Ort
  • größere Gruppenveranstaltungen dürfen nicht stattfinden
  • alle Maßnahmen sollten fortwährend an den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasst werden

2. Konzepte zur Verzahnung von Präsenz- und Distanzlernen entwickeln

  • falls der Besuch von Bildungseinrichtungen nicht durchgängig aufrechterhalten werden kann, ist eine Verzahnung von Präsenz- und Distanzlernen notwendig
  • Lernen und Bildung zu ermöglichen, ist auch in der Phase des Distanzlernens die zentrale Kompetenz von pädagogischen Fachkräften, Eltern können lediglich unterstützen
  • Ausbau digitaler Lehr- und Lernmöglichkeiten, insbesondere qualitätsgesicherter didaktischer Konzepte und Materialien, Lernplattformen, Einüben von Lernstrategien sowie gute kommunikative Begleitung sind wesentlich

3. Digitale Infrastruktur bereitstellen

  • zur Einrichtung der notwendigen digitalen Infrastruktur für die Bildungseinrichtungen wird empfohlen, einen länderübergreifenden Beirat einzusetzen, der die notwendigen Maßnahmen definiert und koordiniert
  • für schnelle Internetanbindungen und die Ausstattung mit Digitalgeräten ist es notwendig, die von Bund und Ländern bereitgestellten Gelder des DigitalPakts Schule schnellstmöglich zum Aufbau von flächendeckenden Infrastrukturen einzusetzen
  • Bildungseinrichtungen benötigen Unterstützung durch die Länder und Schulträger, auch um bestehende Ressourcen effizient einzusetzen

4. Pädagogische Fachkräfte beim professionellen Einsatz neuer digitaler Medien unterstützen

  • pädagogische Fachkräfte benötigen Unterstützung im Hinblick auf die notwendige digitale Infrastruktur und technische Ausstattung, die Bereitstellung geeigneter digitaler Lehrmittel und Materialien sowie entsprechender Fortbildungsangebote
  • Vermittlung von Kompetenzen zur didaktischen Nutzung von digitalen Medien und Hilfsmitteln zur Leistungserfassung und zur Feststellung des Entwicklungsstandes systematisch in der Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften verankern

5. Kooperation und Kommunikation mit Eltern und Familien ausbauen

  • Familien übernehmen viele zusätzliche Aufgaben in der Betreuung und Bildung von Kindern und Jugendlichen
  • es ist es wichtig, Familien stärker als bislang zu begleiten, zu unterstützen und mit ihnen in Kontakt zu bleiben, beispielsweise mithilfe von regelmäßigen Sprechstunden, Coachingangeboten und Materialien
  • alle Maßnahmen zur Unterstützung der Eltern sollten stets die unterschiedlichen Ausgangslagen berücksichtigen (z.B. Hausbesuch-Programme für Kinder aus Familien in schwierigen Situationen, mehrsprachige Angebote)

6. Kinder und Jugendliche mit Lern- und Leistungsrückständen zusätzlich fördern

  • möglichst kontinuierliche Zusatzförderung in Kitas und Schulen
  • sowohl technische Ausstattung als auch individuelle Förderung sicherstellen
  • Ziel muss es sein, Bildungsungleichheiten so gering wie möglich zu halten
  • zusätzliches Personal an Kitas und Schulen, z.B. Lehramts-Studierende, Auszubildende in pädagogischen Berufen oder qualifizierte Freiwillige für Betreuungs-, Aufsichts- oder Administrationstätigkeiten

7. Wissens- und Informationsbasis stärken

  • begleitende Forschungs- und Evaluationsprojekte sind eine wichtige Voraussetzung für eine Überprüfung der Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen, um diese gegebenenfalls an den aktuellen Bedarf anpassen zu können
  • über Panelstudien sollten die kurz- und längerfristigen Effekte der pandemiebedingten Einschränkungen auf die kognitive und psychosoziale Entwicklung von Kindern ausgewertet werden

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