WZB-STUDIE BILDUNGSARMUT : Recht auf Grundbildung: Strategie gegen geringe Literalität gefordert

7. September 2020 // Ulrike Günther

Über 6 Millionen erwachsene funktionale Analphabet*innen, 16 Prozent der Schüler*innen mit Leistungen unterhalb der Grundkompetenzen im Lesen – angesichts dieser Zahlen hat die Erziehungsgewerkschaft GEW von Bund und Ländern gefordert, eine Strategie gegen Bildungsarmut zu entwickeln. Ein Gutachten des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) schlägt Unterstützung von Risiko-Schüler*innen, Weiterbildungen und eine Pflicht zum Schaffen eines inklusiven Bildungssystems vor.

Lesen und Schreiben als Grundkompetenzen sind für gesellschaftliche Teilhabe wesentlich.  - Bild:  PxHere
Lesen und Schreiben als Grundkompetenzen sind für gesellschaftliche Teilhabe wesentlich. - Bild: PxHere

zwd Berlin/ Frankfurt. Anlässlich des „Weltalphabetisierungstages“ am 08. September mahnte die GEW eine gemeinsam von Bund und Ländern zu entwickelnde Strategie an, um Bildungsarmut und den mit rund 12 Prozent der erwachsenen Bevölkerung relativ hohen Anteil funktionaler Analphabet*innen zu bekämpfen. Die in der Bundesrepublik bis 2026 ausgerufene Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung kann aus Sicht der GEW nur dann erfolgreich verlaufen, wenn in diesem Zeitraum „verlässliche, dauerhafte Strukturen für die gesellschaftliche Daueraufgabe Grundbildung“ entstehen.

GEW-Vorstandsmitglied Ansgar Klinger erklärte, die Länder müssten „ihre Angebote der Grundbildungszentren mit erfolgreichen Konzepten der Erwachsenenbildung flächendeckend ausbauen und verstetigen“. Um sog. Risiko-Schüler*innen besser zu unterstützen, bräuchten die Bundesländer laut Klinger mehr Personal sowie materielle Ressourcen. Darüber hinaus müsse der Bund Vorgaben machen, wonach Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabe-Paket verbindlich mit von der Jugendhilfe bereitgestellten Angeboten zu bündeln seien. Außerdem sollten nach Ansicht des Gewerkschafters die Länder überall inklusive Schulsysteme einrichten.

WZB: Pflicht der Bundesrepublik, Bildungsbenachteiligungen abzubauen

Ein heute (07. September) veröffentlichtes Gutachten von Prof. Michael Wrase vom WZB für Sozialforschung leitet u.a. aus Artikel 13 des UN-Sozialpaktes ein gesetzlich zu verankerndes Recht auf Grundbildung für alle und eine „völkerrechtliche Handlungspflicht“ der Bundesrepublik ab, verstärkt bildungsbezogenen Benachteiligungen und geringen Kompetenzen entgegenzuwirken. Als zentrale Forderungen benennt das Gutachten frühzeitige, effektive Hilfen für lernschwache Schüler*innen im Unterricht, gestützt durch sozialpädagogische Förderung, weiterhin den flächendeckenden Ausbau von Weiterbildungsangeboten sowie eine rechtliche Verpflichtung, „auf allen Ebenen“ ein inklusives Bildungssystem zu schaffen.

GEW-Vorstandsmitglied Klinger erkennt auch das Erfordernis, dass die Bundesagentur für Arbeit (BA) zusätzlich zu den beruflichen Qualifizierungen mehr Fähigkeiten im Bereich der Grundbildung vermitteln müsse. Bislang über öffentliche Projektträger finanzierte arbeitsplatzorientierte Angebote zur Grundbildung sollten seiner Auffassung nach Teil der betrieblichen Weiterbildung werden. Zudem hält Klinger einen Förderanspruch für unerlässlich, der es allen Menschen ermöglicht, Grundkompetenzen zu erwerben.

Viele Analphabet*innen ohne Schulabschluss und in Hilfsjobs tätig

Die Gruppe der durch die LEO-Studie von 2018 ermittelten 6,2 Millionen „gering literalisierten“ Personen war stark heterogen zusammengesetzt. 47,5 Prozent hatten eine nicht-deutsche Herkunftssprache, etwa die Hälfte davon war jedoch nach eigenen Angaben in der Lage, in der Muttersprache durchaus anspruchsvolle Texte zu lesen und zu schreiben. 20 Prozent der als funktionale Analphabet*innen eingestuften Personen verfügten über keinen Schulabschluss, 50 Prozent lediglich über einen geringen, 25 Prozent höchstens über einen mittleren Schulabschluss. Zwar waren 60 Prozent der wenig Literalisierten erwerbstätig, bei den Berufsgruppen verzeichneten jedoch Hilfskräfte in der Lebensmittelindustrie, Reinigungspersonal und Hilfsarbeiter*innen die höchsten Anteile.

Als Ursachen für geringe schriftsprachliche Fähigkeiten sieht die Forschung dem WZB-Gutachten zufolge vor allem das Aufwachsen in einem sozioökonomisch unsicheren Umfeld, frühzeitig auftretende Schulprobleme und unangemessene Reaktionen der Bildungseinrichtungen auf die Lernschwächen an. Anstatt Schüler*innen mit pädagogischen Förderangeboten zu unterstützen, würden sie häufig als „sonderpädagogisch förderfähig“ etikettiert und auf Haupt- oder Förderschulen „abgeschult“. Daraus resultierendes herabgesetztes Selbstvertrauen sei guten Lernergebnissen hinderlich. Fehlende Teilhabechancen seien nach Meinung von Wissenschaftler*innen nicht nur die Folge von unzulänglichen schriftsprachlichen Kompetenzen, sondern würden auch am Anfang einer Reihe von „institutionalisierten Identitätsbeschädigungen“ stehen, die sich wiederum in Bildungsarmut und mangelnder Alphabetisierung fortsetzten.

Artikel als E-Mail versenden