Kein Platz im Strafgesetzbuch: Schwangerschaftsabbrüche sind kein Verbrechen
Bericht von Hildegard Lührig-Nockemann, Chefredakteurin des zwd-POLITIKMAGAZINs
zwd Berlin. „Eine ungewollte Schwangerschaft ist kein Verbrechen. Die Entscheidung über den eigenen Körper ist kein Verbrechen. Ein Schwangerschaftsabbruch ist kein Verbrechen“ und deshalb brauchen „Betroffene Unterstützung und keine Strafandrohung“. Diese Worte von Dr. Kirsten Kappert-Gonther (B‘90/Die Grünen) standen symptomatisch für den Tagesordnungspunkt 10 der 203. Sitzung des Bundestages am 5. Dezember 2024. Es war die einzige parlamentarische Erörterung des "Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs". Denn nach der Anhörung der Expert:nnen am 10. Februar hatte die FDP klargestellt, dass sie eine Verabschiedung des überfraktionellen Gesetzentwurfs in dieser Legislaturperiode ablehnte. Sowohl die Anhörung wie zuvor auch die Debatte haben die gegensätzlichen Positionen zwischen den beteiligten Akteur:innen deutlich werden lassen.
Emotional geladen und hitzig war die Debatte am 5. Dezember 2024 im Bundestag, als es um die Beratung der Zusatzpunkte 10 a und 10 b der Tagesordnung ging: den "Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs" (Drs. 20/13775) und den Antrag "Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern" (Drs. 20/13776). 328 Abgeordnete der Mitte-Links-Fraktionen hatten die beiden von Carmen Wegge (SPD) und Ulle Schauws (B90/Die Grünen) initiierten Drucksachen unterzeichnet.
Empfehlungen der Kommission wegweisend
Grundlage von Gesetzentwurf und Antrag waren die Empfehlungen der 2023 entsprechend dem Koalitionsvertrag berufenen Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (ausführlicher Bericht in der Ausgabe 403, Seite 36 ff). Diese seien für die interfraktionelle Gruppe bei der Erarbeitung „dieses moderaten Kompromisses“ (Seite 8) „wegweisend“ gewesen, betonte Ulle Schauws. Doch während den einen der Kommissionsbericht von April 2024 Aufforderung wie auch Bestätigung war, die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs auf den Weg zu bringen, war er den anderen ein Dorn im Auge. Die „Wissenschaftlichkeit der Kommission“ bezweifelte die CDU-Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker, deren Neutralität die CSU-Politikerin Dorothee Bär. Sie behauptete, diese sei „einseitig besetzt“ gewesen. Diese Unterstellungen wies Dr. Kirsten Kappert-Gonther vehement zurück. Die Kommission sei keine politische gewesen, sondern "eine Kommission von unabhängigen, hochrangigen Wissenschaftlerinnen, die multidisziplinär aufgestellt" seien. Die Abgeordnete Susanne Hierl (CSU) unterstellte den Verfasser:innen der vorliegenden Drucksachen: Da der Bericht der Kommission (in der Arbeitsgruppe 2 – Red) „sich noch mit anderen Themen beschäftigt“ habe, „nämlich der Eizellenspende und auch der Leihmutterschaft“, frage sie, Hierl, sich, ob „der Gesetzentwurf, den wir heute hier liegen haben, die Vorbereitung auf das, was uns in Zukunft erwartet am Ende vielleicht die Kommerzialisierung der Mutterschaft?“ sei.
Ein ausgewogener, alle Rechte berücksichtigender Entwurf
Tatsächlich ging es jedoch um den Paragrafen 218, der den Schwangerschaftsabbruch regelt und der nach 150 Jahren (immer noch) im Strafgesetzbuch steht. Dies sei der falsche Regelungsort, befand Leni Breymaier (SPD), denn so kämen alle, die mit einem Abbruch zu tun hätten mit dem Strafgesetzbuch in Berührung. Es gehe darum, erläuterte auch Ulle Schauws, dass von der Frau bis zur 12. Schwangerschaftswoche „selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche“ nicht mehr im Strafgesetzbuch normiert würden. Deshalb gehöre dieser da einfach nicht hin, denn Schwangerschaftsabbrüche seien kein Verbrechen, erklärte (nicht nur) Heidi Reichinek (Die Linke) kurz und bündig. Die Politik müsse sich der „grundlegenden Frage“ stellen, ob eine Entscheidung gegen eine Schwangerschaft weiterhin als rechtswidrig gelten solle. Die wurde von der Kommission in ihrem Bericht so beantwortet. „Die grundsätzliche Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in der Frühphase der Schwangerschaft ist nicht haltbar.“ Davon zeigte sich die Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU unbeeindruckt. „Heute ist der Abbruch rechtswidrig, aber – und das ist doch für die Frau entscheidend – straflos“, kommentierte sie die Situation der Frauen. Ähnlich argumentierte auch die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch – nicht ohne einen Hieb gegen die betroffenen Frauen: „Frauen können ja schon jetzt straffrei das Leben ihres ungeborenen Kindes beenden.“ Die aktuelle Straffreiheit versah auch Kristine Lütke (FDP) mit dem Siegel „wichtige Errungenschaft“, aber das Ziel müsse sein, diesen gesellschaftlichen Fortschritt weiterzuentwickeln.
Inhaltlich würde sich, wenn die Strafrechtsnorm aufgehoben wird, laut Gesetzentwurf kaum etwas ändern. Doch Dorothee Bär erzählte ihr eigenes Narrativ: „Nach dem § 219a kommt der § 218. Nach dem § 218 geht es weiter. Dann sind es keine zwölf Wochen mehr, sondern 14, dann 16. Mit uns ist Lebensschutz nicht verhandelbar.“ Prompt erhielt sie Beifall nicht nur von ihrer eigenen Fraktion, sondern – wie häufig – auch von der AfD. Zu einer „Heilbehandlung, etwas Normalen, etwas Alltäglichen“ machten sie den Schwangerschaftsabbruch, warf Nina Warken (CDU) den Unterzeichnerinnen des Gesetzentwurfs vor. Daraufhin stellte Carmen Wegge noch einmal klar. „Der Abbruch nach der zwölften Woche bleibt strafbar. Die Beratungspflicht der Frau als zentraler Bestandteil des Konzeptes zum Schutz ungeborenen Lebens bleibt erhalten. Selbst der § 218 bleibt bestehen, um die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens in der Systematik des Strafgesetzbuches zu betonen. Das ist ein ausgewogener, moderater und alle Rechte berücksichtigender Entwurf.“ Mit diesem Gesetzentwurf würden beide Rechte – das des ungeborenen Lebens und das der ungewollt Schwangeren – in Einklang gebracht. Ziel des interfraktionellen Gesetzentwurfes sei sowohl die Entkriminalisierung der Frau wie auch der Ärztinnen und Ärzte bei einem Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche.
Rechtswidrigkeit des Abbruchs verhindert Kostenübernahmen
Deren Verortung im Strafgesetzbuch und damit deren Kriminalisierung habe nach Aussagen von SPD und Grünen nicht zur Reduzierung von Schwangerschaftsabbrüchen geführt, sei jedoch der Grund dafür, dass es zu einer „erbärmlichen Versorgungslage“ gekommen sei, konstatierten die drei SPD-Abgeordneten Leni Breymaier, Josephine Ortleb und Tina Rudolph. Als „gefährdet“ beschrieb diese Helge Limburg (Grüne). Die Zahl der Ärzt:innen, die Schwangerschaftabbrüche vornehmen, habe sich in den letzten 20 Jahren halbiert, gaben Carmen Wegge, und Tina Rudolph (beide SPD) zu Protokoll. Auch die Zahl der Einrichtungen, die fachkundige Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, sei um 50 Prozent zurückgegangen, wurde von Kristine Lütke ins Gedächtnis gerufen. Am Anfang des Jahrtausends seien noch 2.000 Arztpraxen und Kliniken gemeldet, bis zum Jahr 2023 habe sich diese Zahl, besonders im ländlichen Raum, fast halbiert. Ein Beispiel dafür von vielen nannte der fraktionslose SSW-Abgeordnete Stefan Seidler: In Flensburg hätten sich – trotz „fehlender Alternative für Schwangere“ – Krankenhäuser „aus der Versorgung zurückgezogen“. Diese Notlage resultiere auch daraus, dass – wie Sevim Dağdelen (BSW)) bemängelte – der Abbruch einer Schwangerschaft noch immer nicht zum „offiziellen Teil der medizinischen Ausbildung“ gehöre.
Ein weiterer Nachteil für die Frauen sei, erinnerte Ulle Schauws an die Realität, dass die Kosten für die Schwangerschaftsabbrüche nicht durch die Krankenkassen übernommen würden. Das ist rechtlich nachvollziehbar. Denn Krankenkassen übernähmen, wie Josephine Ortleb ins Blickfeld rückt, natürlich keine Leistungen, die rechtswidrig seien. Mehrere Hundert Euro koste ein Schwangerschaftsabbruch – Kosten, die sich viele Frauen nicht leisten könnten –, gab Heidi Reichinek zu bedenken. Vor dem Hintergrund forderte Josephine Ortleb die Politik auf, einen kostenfreien Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen.
Reduzierung der Abbrüche durch kostenlose Verhütungsmittel
Ca 100.000 Schwangerschaftsabbrüche werden in der Bundesrepublik pro Jahr vorgenommen. Diese Zahl warfen mehrere Abgeordnete unabhängig von ihrer Fraktion und in unterschiedlichen Kontexten in die Debatte. Während Gyde Jensen betont, dass die betroffenen Frauen zu „dieser schwierigen Entscheidung“ gekommen seien, war die Argumentation der konservativen Partei und der extrem Rechten auf die Zuweisung von Schuldgefühlen bei ungewollt Schwangeren Schuldgefühle ausgerichtet. „Mehr als 100.000 Kinder im Mutterleib getötet“ war die Bestandsaufnahme der AfD-Abgeordneten Dr. Christina Baum. „Ein individueller Mensch von Anfang an“ sei „das Ungeborene“, erklärte Elisabeth Winkelmeier-Becker. Währenddessen sprachen die Abgeordneten anderer demokratischer Fraktionen von „ungeborenem Leben“. Das wiederum warf namentlich Dorothee Bär der SPD und den Grünen vor.
Schützen wollten es – das Kind, den werdenden Menschen, das ungeborene Leben – alle mit einem Gesetzgebungsverfahren, reformiert oder auch nicht. Aber Möglichkeiten, einen Schwangerschaftsabbruch zu verhindern, wurden kaum debattiert. Zwei Rednerinnen brachten das zur Sprache. Zum einen wurden kostenfreie Verhütungsmittel sowohl vom rechten (Susanne Hierl) wie auch linken (Heidi Reichinek) Rand als Möglichkeit zur Senkung der Schwangerschaftsabbrüche gefordert. Die Zustimmung für diesen Vorschlag wurde durch Beifall von CDU/CSU, SPD, B90/Die Grünen und die Linke akklamiert. Zum anderen könnten Abbrüche reduziert werden, wenn auch die Politik Handlungsbedarf sehe, denn ein Grund für den Schwangerschaftsabbruch seien „ökonomische Sorgen“ – nicht vor, sondern nach der Geburt, lenkte – als einzige Abgeordnete – Reichinek den Blick auf die Geburt eines Kindes in eine finanziell sorgenvolle Situation. Mit Unterstützung des Staates könne diesen Kindern eine gute Zukunft ermöglicht werden. Auch hier gab es Beifall von denselben Fraktionen, außer der CDU. Der Hinweis von Leni Breymaier, dass „Strafandrohung“ kein Mittel sei, um Abbrüche zu verhindern, wurde nicht von allen geteilt.
Nach dieser ersten Beratung wurden der Gesetzentwurf und der Antrag ohne Gegenstimmen an die entsprechenden Ausschüsse überwiesen.
FDP blockierte weitere Beratung
Nach dieser ersten Beratung wurden der Gesetzentwurf und der Antrag ohne Gegenstimmen an die entsprechenden Ausschüsse überwiesen. Das bedeutet aber nicht Übereinstimmung in der Sache. Wie in der Debatte deutlich wurde, zeichnen sich zwei Pole ab: Auf der einen Seite die Unterzeichner:innen, die die Position entsprechend den Worten von Helge Limburg vertreten „Der Gesetzentwurf wird nicht regelungsfrei; aber er verliert den Makel der pauschalen Rechtswidrigkeit mit all den verheerenden Folgen. Es wird höchste Zeit“. Auf der anderen Seite die Gegner.innen des Gesetzentwurfes – CDU- und AfD-Fraktion – die die Position entsprechend den Worten von Elisabeth Winkelmeier-Becker vertreten „Hier jetzt zu einer Rechtmäßigkeit zu kommen, wäre ein Paradigmenwechsel. Das wäre unvereinbar mit der Menschenwürde und dem Lebensrecht des Kindes.“ Dazwischen waren die Abgeordneten der FDP angesiedelt, die sich positiv für den Gesetzentwurf ausgesprochen hatten, aber die Position entsprechend den Worten von Kristine Lütke vertritt „Eine verantwortungsvolle Abwägung braucht Zeit. Und wir brauchen gerade jetzt keinen parlamentarischen Schnellschuss“.
Während in dieser Bundestagssitzung die Aussprache im Vordergrund stand, wird in der dritten Lesung tatsächlich abgestimmt. Deshalb durfte hier „nicht für die Fraktion gesprochen“ werden, wie Vize-Bundespräsidentin Aydan Özoğuz (SPD) noch einmal hervorhob. Weitestgehend hielten sich die Abgeordneten an diese Vorgabe und appellierten daran, die richtige Antwort zu finden oder überließen aufgrund ihres Wortbeitrages dem Plenum die Entscheidungsfindung. Dorothee Bär dagegen ignorierte diese Ansage und beteuerte unter dem Beifall der Unions- und AfD-Abgeordneten „Deswegen werden wir geschlossen als Fraktion nicht zustimmen“.
Zwei Fragen bleiben bis zum Redaktionsschluss offen. Erstens: Wird die dritte Lesung noch vor der Wahl stattfinden? Zweitens: Wenn ja, können die 328 Unterzeichner:innen, fast 45 Prozent (44,75) der 733 Abgeordneten, die fehlenden gut fünf Prozent für ihren Gesetzentwurf gewinnen? Nur wenn FDP-Abgeordnete sich von ihrem Zeit-Dogma verabschieden! Das ist nicht passiert. Wie t-online am 10. Februar berichtete, würde die FDP wie auch die CDU einer Sondersitzung des Rechtsausschusses nach der Expert:innenanhörung nicht zugestimmen.Die jedoch ist die Voraussetzung, um den fraktionsunabhängigen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs im Plenum des Bundestages zur Abstimmung gestellt werden kann. Damit ist das Votum der deutschen Bevölkerung – 80 Prozent wollen eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, wie mehrfach in der Bundestagsdebatte hervorgehoben wurde – von FDP- und CDU/CSU-Politiker:innen nicht ernst genommen und erstmal vom Tisch.