„RETRADITIONALISIERUNG“ : Rolle rückwärts in die 50er Jahre oder geschlechtergerecht aus der Krise?

30. Juli 2020 // Holger H. Lührig

zwd Berlin: In einem Kommentar hat sich zwd-Herausgeber Holger H. Lührig mit den Tendenzen eines Rückfalls in traditionelle Geschlechterrollen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und des Lockdowns des öffentlichen Lebens befasst. Sein Beitrag ist erstmals im zwd-POLITIKMAGAZIN Ausgabe 378 vom 31. Mai 2020 erschienen.

Seit Feststellung der ersten Ansteckungen durch das Covid-19-Virus in Deutschland haben tägliche Expertenrunden in den öffentlich-rechtlichen TV-Medien – in den an die Nachrichtensendungen angehängten Corona-Extras und täglichen Talkshows – bis zum Weggucken anschaulich vorgeführt: Auch im Falle von Nicht-Wissen gibt zu jeder geäußerten wissenschaftlichen Meinung auch mindestens eine Gegenmeinung, auch wenn sie nicht wissenschaftlich belegt ist. Manchen Verschwörungstheoretikern kam das zupass. Wer die Geschichte der Corona-Krise im Nachhinein analysiert, wird mit Blick auf andere Länder wie Italien, Großbritannien, USA und Brasilien nicht umhinkommen anzuerkennen, dass der Lockdown in Deutschland viele Menschenleben gerettet hat. Gleichwohl muss erlaubt sein, das Krisenmanagement und namentlich das Handeln maßgeblicher Politiker*innen in der Corona-Krise kritisch zu beleuchten. Das gilt im Besonderen für den Bundesgesundheitsminister, von dem es heißt, er habe „einen guten Job gemacht“.

Dagegen spricht, dass der Minister (ein gelernter Jurist mit im Bundestag angelernten Medizinkenntnissen) noch im ­Februar 2020, gestützt auf das Robert-Koch-Institut, die Viruserkrankung als eine „leichte Grippe“ einstufte, als China schon eine ganze Stadt und Region von der Außenwelt abgeschlossen hatte. Vielleicht hätte ihn nachdenklich machen müssen, dass das unter seiner Ressortaufsicht stehende Robert-Koch-Institut unter Missachtung der Wuhan-Situation noch im Januar Reisen nach China als unbedenklich eingestuft hatte. Eine breitere Expertise zu nutzen, hätte dem Minister gut zu Gesicht gestanden. Stattdessen wurden Warnungen von Virologen wie Prof. Dr. Alexander S. Kekulé (Uni Halle) als Panikmache in den Wind geschlagen. Der hatte nämlich bereits am 25. Februar Einreisekontrollen und danach auch Schulschließungen empfohlen.

Wer trägt die Verantwortung?

Natürlich, wer aus dem Rathaus kommt, ist bekanntlich schlauer als wenn sie/er hineingeht. Aber die Fehler, die im Januar und Februar dieses Jahres gemacht wurden, bleiben an Jens Spahn hängen. Er hätte mit dem Heimatschutzminister Horst Seehofer frühzeitig dafür Sorge tragen müssen, dass Schutzkleidung und Atemschutzmasken zu Beginn der Pandemie so ausreichend zur Verfügung standen, dass Arztpraxen und Pflegeheime nicht in lauter Verzweiflung zur Selbsthilfe zu greifen gezwungen waren, um ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Ganz zu schweigen von dem Schutzmasken-Destaster, für das Spahn und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer das (mindestens) unerfahrene Beschaffungsamt der Bundeswehr in Anspruch genommen hatten. Der Minister verteidigte sich, im Nachhinein sei man schlauer, damals habe es „kein Bewusstsein“ dafür gegeben, bei der Beschaffung von Masken aktiv zu werden. Kein Bewusstsein? Sicherlich auch nicht beim Robert-Koch-Institut, obwohl das immerhin schon 2012 der vorgesetzten Behörde, dem Bundesgesundheitsministerium, einen Plan vorlegte, welche Maßnahmen im Falle einer neuerlichen Pandemie zu ergreifen wären. Der Plan landete bekanntlich in den Schubladen des damaligen Gesundheitsministers Daniel Bahr (FDP), der heute sein Brot bei der Allianz Private Krankenversicherung verdient. Falsch verstandene Sparpolitik: Auch seine Nachfolger Hermann Gröhe (2013-2018) und letztlich Spahn (beide CDU) hielten es trotz Warnungen vor einem erneuten Ausbruch eines Virus aus der Corona-Familie fü wichtiger, sich mit Sparplänen (wie Krankenhaus-Schließungen mit Folgen für die regionale Gesundheitsversorgung) zu beschäftigen.

Es war schließlich die Kanzlerin, die nach eigenen Quarantäne-Erfahrungen ihren Gesundheitsminister beiseite schob und den Kampf gegen den Corvid-19-Virus zur Chefin-Sache machte. Sie, selbst Wissenschaftlerin. machte auf der Basis breiteter wissenschaftlicher Expertise (beispielsweise des Direktors des Virologie-Instituts der Berliner Charitè, Prof. Dr. Chris-tian Drosten) die Losung „Gesundheit zu allererst“ zur Grundlage des Handelns der Verantwortlichen in den Regierungen von Bund und Ländern. Diesem erfolgreichen Krisenmanagement verdankt Angela Merkel ihre jetzige Popularität, in deren Windschatten jetzt Spahn segelt. Der Lockdown (neudeutsch für Ausgangsbeschränkung) war unstreitig das virologische Gebot der Stunde, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und das Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen. Trotzdem scheinen die gesellschaftlichen und sozialen Implikationen einer längerfristigen Schließung von Kitas und Schulen den verantwortlichen Politiker*innen zeitweilig aus dem Blick geraten zu sein. Zwar hat die Politik Lockerungen zugelassen – beispielweise einen Notbetrieb in den Kitas für Eltern in sys-temrelevanten Berufen–, doch in weiten Teilen der Republik mussten die Eltern die Kinderbetreuung selbst übernehmen, ohne Entlastung selbst von Großeltern oder nicht berufstätigen Verwandten. Nach dringenden Appellen, etwa des Deutschen Frauenrates, dass viele Eltern auf finanzielle Unterstützung angewiesen seien, machte sich der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), Prof. Michael Fratscher, am 17. April stark für die Forderung: „Es ist Zeit für ein Corona-Elterngeld“. Der DIW-Präsident warnte in einer Kolumne in ZEIT-ONLINE zugleich davor, die Gleichstellung sei bedroht: „Haben Schulen und Kitas zu, könnten vor allem Frauen aus dem Beruf in die Erzieher-Rolle verfallen“.

Der schmusige Begriff Retraditionalisierung

Noch deutlicher wurde die Bielefelder Professorin für Bildung und Sozialisation im Kindesalter, Helen Knauf, die in einer im Auftrag der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) erstellten Expertise befand, Familien seien aufgrund der Schließung von Kitas, Schulen und Spielplätzen „am Limit“. Die am 5. Mai von der KAS veröffentlichte Studie veranlasste Christine Henry-Huthmacher namens der Stiftung zu der Feststellung: „Ähnlich wie nach einer Geburt beobachten wir jetzt eine Retraditionalisierung der Rollenmuster“. Sie meinte aber auch, es liege nicht nur am unterschiedlichen Verdienst, sondern auch daran, „welche Rolle die Frauen sich selbst zuschreiben“.

Diese These, dass viele Frauen am Ende selbst schuld seien, wenn sie sich in die traditionelle Rolle zurückdrängen ließen, hat deutlichen Widerspruch ausgelöst. Vor allem die Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB), Prof. Dr. Jutta Allmendinger, rückte in vielen Medien-Interviews und Gastbeiträgen die wissenschaftlichen Befunde zur familiären Situation in Zeiten der Coronavirus-Pandemie in den Blickpunkt der öffentlichen Debatte. In einem Gastbeitrag für ZEIT-ONLINE schrieb sie am 12. Mai, gestützt auf eine WZB-Umfrage (6.000 Online-Interviews): „Retraditionalisierung ist ein fast noch verharmlosendes Wort. Es ist zu schmusig, zu nett: Es geht um den Verlust der Würde von Frauen, vom Respekt, von Rechten.“ Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass in Deutschland sich die Lebenssituation vieler Familien mit kleinen Kindern in einer Weise entwickle, „die jener in der Generation unserer Eltern und Großeltern entspricht.“ Die WZB-Präsidentin nannte es alarmierend, dass weit überwiegend Mütter den Rückzug aus dem Arbeitsmarkt antreten, um sich um Kinder und Küche zu kümmern. Hingegen „treten Väter deutlich seltener zurück, bleiben bei ihrem Arbeitsleben, auch dann, wenn sie im Homeoffice arbeiten oder in Kurzarbeit sind.“ „Eine entsetzliche Retraditionalisierung“, urteilt Allmendinger: „Die Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen ist wie in alten Zeiten, eine Rolle zurück.“

Wir haben verstanden (?)

Immerhin scheinen Angela Merkel und Bundesfrauen- und -familienministerin Franziska Giffey die Botschaft vernommen zu haben. Sie zeigten sich zumindest „besorgt“. Freilich wissen wir, dass dieser Politiker*innnen-Sprech, den wir so gut aus der außenpolitischen Diplomatie kennen, in der Regel noch nichts anderes besagt als einen Sachverhalt lediglich zur Kenntnis zu nehmen, ohne etwas zu tun. Immerhin hatte sich die Kanzlerin zu Beginn der Ausgangs- und Kontaktsperren veranlasst gesehen, den vielen Menschen, die in Supermärkten an den Kassen sitzen oder Care-Arbeit im Gesundheits- und Pflegebereich verrichten, explizit in ihrem Video-Podcast den Dank auszusprechen. Doch „Nettigkeiten allein reichen nicht“, antworteten die Angesprochenen in verschiedenen Interviews. Der Druck auf die Politiker*innen nahm seitdem weiter zu. Am 14. Mai titelte das Telekom-Portal „t-online“: „Kanzlerin Merkel lässt die Frauen im Stich“. Unter einem Bild der Kanzlerin, die gerade den Bundestag verlässt, bescheinigt t-online-Kolumnistin Lamya Kaddor der Regierungschefin: „Sie hat anscheinend keinen Plan, wie der drohende Rückfall in traditionelle Rollenverteilungen aufgehalten werden kann“. Andere Medien – alle führenden Tageszeitungen und auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – griffen das Thema auf.

In der Regierungsbefragung, der sich die Kanzlerin am 13. Mai im Bundestag stellte, versicherte die Regierungschefin auf eine Frage der frauenpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Ulle Schauws, sie werde sich „mit aller Kraft dafür einsetzen, dass wir nicht etwa eine Retraditionalisierung bekommen, sondern dass der Weg der gleichen Chancen für Männer und Frauen weiterführt“ (Wortlaut Seite 11 des zwd-POLITIKMAGAZINs (Ausgabe 378).

Der Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Kathrin Göring-Eckart, reichte die Antwort nicht, weshalb sie in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ, 17.05,20) anmahnte: „Frauen werden die großen Verliererinnen sein, wenn wir jetzt nicht gegensteuern und die richtige Abbiegung am Weg nehmen.“ Für die Grünen-Politikerin („Wir brauchen einen feministischen Impuls“) ist angesagt, die Schlechterstellung von Frauen, deren Kurzarbeitergeld nach dem aufgrund der Steuerklasse (häufig V) berechneten Nettoverdienst berechnet wird, zu korrigieren. Göring-Eckardt bemängelt auch, dass die Kanzlerin sich zwar mit den Bossen der Autoindustrie zu einem Gipfel traf, aber ein „Kinder-Gipfel“ nicht auf der Agenda stand. Von der Bundesregierung erwartet sie, den (bekannten) strukturellen Benachteiligungen entgegenzuwirken. Dazu bedürfe es aber eines „echten feministischen Impulses“, mit dem dafür gesorgt werde, dass sich Lohnunterschiede nicht fortpflanzen, die Betreuungsangebote funktionieren und dass Quoten eingeführt werden.

All diese Forderungen sind nicht neu, aber in der Corona-Krise weisen sie wie in einem Brennglas auf die gesellschaftlichen (und gleichstellungspolitischen) Problemlagen hin. Doch frauenpolitische Forderungen wurden in Berliner Regierungskreisen nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Man habe derzeit Wichtigeres zu tun, als sich mit gleichstellungspolitischen Forderungen zu beschäftigen, hieß es dort. In dem schon zitierten FAZ-Interview hat die Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt der Koalition vorgeworfen, auf Proteste gegen den Gender Pay Gap und Forderungen nach Entgeltgleichheit nicht reagiert zu haben: Es habe sich bisher kaum etwas geändert. Zum Selbstverständnis ihrer Partei sagte Göring-Eckardt: „Es war vor Corona nicht alles gut. Aber aus dem Nicht-gut darf jetzt nicht ein Noch-schlechter werden. Von Herrn Laschet, Herrn Merz, Herrn Walter-Borjans oder Herrn Scholz habe ich noch nichts dazu gehört.“ So ist es wohl. Eine Anfrage des zwd-POLITIKMAGAZINs an den SPD-Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans mit der Bitte um Stellungnahme zum Thema Geschlechtergerechtigkeit blieb auch nach drei Wochen unbeantwortet.

Auf Veranlassung von Linken und Grünen wird nun am 17. Juni der Bundestag mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit befasst. Der derzeitige Tagesordnungsentwurf weist unter TOP 8 das Thema „Geschlechtergerecht“ aus. Mehr als 30 Minuten stehen dort ab 18:30 Uhr nicht zur Verfügung. Wenigstens gibt es einen Livestream. Darüber berichten wir in Ausgabe 380 des zwd_POLITIKMAGAZINs.

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