MINT-NACHWUCHSBAROMETER 2020 : Schwache MINT-Leistungen und Computer-Kenntnisse bei Schüler*innen

11. Mai 2020 // Ulrike Günther

In der Corona-Krise erweisen sich MINT-Kenntnisse als wichtiger denn je, um Diskussionen rund um das Krankheitsgeschehen zu verstehen. Bei den Leistungen der Schüler*innen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Feld ist jedoch weiterhin ein Abwärtstrend zu beobachten. Das zeigt das neue MINT-Nachwuchsbarometer des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) und von acatech.

Schüler*innen bei einem MINT-Wettbewerb - Bild: Pixabay / U.S. Department of Energy
Schüler*innen bei einem MINT-Wettbewerb - Bild: Pixabay / U.S. Department of Energy

zwd Berlin. Aus der am 06. Mai im Rahmen einer Online-Konferenz vorgestellten Studie geht hervor, dass sich die seit 2012 zu verzeichnende rückläufige Tendenz bei den Leistungen im MINT-Bereich weiter fortsetzt. Bei den jüngsten PISA-Erhebungen lagen die 15-jährigen bundesdeutschen Schüler*innen in den Naturwissenschaften nur noch knapp über dem OECD-Mittelwert, in Mathematik sogar darunter. Bis 2018 stieg der Anteil derjenigen von ihnen, die zur sog. Risikogruppe gehören, in Mathematik von 17,7 Prozent im Jahr 2012 auf 21,1 Prozent, in den naturwissenschaftlichen Fächern von 12,2 auf 19,6 Prozent.

Das bedeutet, dass rund ein Fünftel der 15-Jährigen nicht über die grundlegenden Kompetenzen in diesem Aufgabengebiet verfügen, die sie brauchen, um ihren Ausbildungsweg erfolgreich zu meistern. Andererseits ist die Quote von Schüler*innen mit herausragenden Kenntnissen in Mathematik und Naturwissenschaften auf rund 13 bzw. 10 Prozent (2012: 17 Prozent/ 12 Prozent) gesunken. Das MINT-Nachwuchsbarometer wird jährlich von der Koerber-Stiftung, der Akademie für Technikwissenschaften acatech und dem IPN herausgegeben und liefert einen fundierten Überblick über die wichtigsten Zahlen und Fakten in der MINT-Bildung von der Kita bis zum Studium.

Baustelle MINT-Bildung: Schülerleistungen und Azubi-Qualifikationen

Den ernüchternden, von acatech und IPN präsentierten Daten entsprechend urteilte Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des IPN und maßgeblich am Erstellen der Studie beteiligt, es gebe im MINT-Bereich „sehr viele Baustellen“, besonders was zu schwache Schulleistungen, geschlechtsspezifische Unterschiede und unqualifizierte Bewerber*innen auf Ausbildungsstellen anbetrifft. „Zu schwach qualifizierte Schülerinnen und Schüler haben es schwer, sich in eine erfolgreiche Erstausbildung einzufädeln“, stellte Köller den Zusammenhang von schlechteren MINT-Kenntnissen und den Startschwierigkeiten vieler Azubis beim Übergang von der Schule zum Beruf her. Daher gebe es bisher bei der Bildung im MINT-Bereich „keinen Grund zur Entwarnung“.

Als günstig bewertete Köller hingegen die Entwicklung bei der frühkindlichen Erziehung in den Kitas. Die Ausbildung der frühpädagogischen Fachkräfte sei breit angelegt, und die Anzahl zertifizierter Kindertagesstätten, die sich am bundesweit größten MINT-Weiterbildungsprogramm „Haus der kleinen Forscher“ beteiligen, ist laut der Studie von ca. 2.800 im Jahr 2012 auf knapp 5000 2019 angewachsen.

Mangel an digitalen Kompetenzen bei Schüler*Innen

Demgegenüber schätzt Köller die für die Studie herangezogenen Ergebnisse des ICILS-Tests als beunruhigend ein, der die auf Computer und Informatik bezogenen Fähigkeiten von Achtklässler*innen misst. Demnach schafften es die bundesdeutschen Schüler*innen dieser Altersstufe mit ihren digitalen Kompetenzen zwar ins Feld über dem OECD-Mittel, aber ein Drittel von ihnen war nicht in der Lage, den Computer nutzbringend zum Bewältigen schulischer Aufgaben einzusetzen. Auch hier haben sich die Leistungen seit 2013 um einige Prozentpunkte verschlechtert. Im europäischen Staatenvergleich lag Dänemark mit gerade einmal 16 Prozent Schüler*innen mit geringen computerbezogenen Kenntnissen an der Spitze, Italien belegte mit über 60 Prozent Achtklässler*innen in dieser Gruppe den untersten Rang.

Unter den bundesdeutschen Abiturient*innen sind es nach Angaben der acatech- und IPN-Studie immerhin noch 15 Prozent, die bloß über sehr wenige digitale Kompetenzen verfügen. Ihnen gelingt es offenbar nicht, im Internet systematisch nach Informationen zu suchen und sie hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Unter Studierenden von MINT-Fächern im 6. Semester sind bloß bei 2 Prozent derart eingeschränkte computer- und informatikbezogene Fähigkeiten vorhanden. Köller wies bei der Präsentation der Studie darüber hinaus auf die bundesweit sehr unterschiedlichen Leistungen von Neuntklässler*innen im Fach Mathematik hin. Wie die von acatech und IPN ausgewerteten Daten zeigen, konnten die Schüler*innen in nur drei der sechzehn Bundesländer (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern) zwischen 2012 und 2018 ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet verbessern, in den anderen Ländern wurden durch Tests signifikant schlechtere Leistungen mit bis zu 25 Kompetenzpunkten weniger gemessen. Demzufolge beträgt der Unterschied im mathematischen Kenntnisstand dieser Altersgruppe zwischen dem besten (Bayern) und dem leistungsschwächsten Bundesland (Brandenburg) ungefähr zwei Schuljahre.

Zusammensetzung der Schülerschaft als Ursache für Leistungsabfall

IPN-Direktor Köller erklärte die schwachen MINT-Leistungen der Jugendlichen überwiegend mit der sich seit ein bis zwei Jahrzehnten wandelnden Zusammensetzung der Schülerschaft, d.h. durch einen wachsenden Anteil von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen, von Schüler*innen mit Migrationshintergrund sowie – durch die Zunahme des inklusiven Unterrichts – von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Ein weiteres vorrangiges Problem sieht der Pädagoge Köller in der Beschäftigung von qualifizierten Lehrkräften an Schulen. Aufgrund des bundesweit vorherrschenden Lehrermangels werden gemäß der Studie in fast allen Ländern Lehrer*innen sehr verschiedener fachlicher und pädagogischer Qualifikation, also Seiteneinsteiger*innen ebenso wie fachfremde Lehrpersonen, eingestellt. Fachfremden Unterricht findet man in erster Linie an den nicht-gymnasialen Schularten, aber selbst an den Gymnasien werden rund 10 Prozent der mathematischen Schulstunden nicht von Fachlehrer*innen abgehalten. Vor allem fachfremd unterrichtete Schüler*innen zeigen im MINT-Bereich nach Aussagen von acatech und IPN deutlich schwächere Leistungen, als wenn ihnen ausgebildete Fachlehrkräfte den Stoff vermitteln. In Mathematik entspricht die Differenz in den Schulleistungen laut der Studie je nach dem fachbezogenen oder fachfremden Hintergrund der Lehrer*innen einem Kenntnisrückstand von fast einem halben Jahr.

Förderprogramme, digitale Technik und Weiterbildungen als Maßnahmen

Um die Fähigkeiten der Schüler*innen zu steigern, müsste man nach Ansicht von Köller und dem Forscher*innen-Team der Studie folglich die Qualität des Unterrichts verbessern, d.h. verstärkt „Unterrichtsentwicklung“ betreiben. Digitale Medien könnten dabei laut Köller neue Möglichkeiten im Bereich der Schulbildung eröffnen. Von der derzeitigen Corona-Krise und den damit einhergehenden Schutzmaßnahmen erwartet er für den Unterricht „einen deutlichen Schub in Richtung Digitalisierung“.

Durch den Einsatz intelligenter Software, digitaler Lernsysteme und ein insgesamt gestärktes Schulfach Informatik würden sich nach Auffassung des Experten besonders die computerbezogenen Fähigkeiten der Schüler*innen steigern lassen. Zudem sollte aus Köllers Sicht die Professionalisierung der Lehrkräfte vorangetrieben werden. Diese seien dem IPN-Fachmann zufolge besser zu qualifizieren und die Potenziale von Seiteneinsteiger*innen sinnvoller zu nutzen. Die Verfasser*innen der Studie wollen zu diesem Zweck die digitale Bildung auch im Lehramtsstudium sowie in Weiterbildungen für Lehrer*innen verankern. Fachfremd eingesetzte Lehrkräfte sollten sich nach Auffassung der acatech- und IPN-Forscher*innen systematisch parallel zum Unterrichten in fachlicher wie didaktischer Hinsicht fortbilden können.

Im Sinne der angestrebten gleichen und gerechten Bildungschancen sollten gemäß der Studie sowohl sozial als auch sprachlich benachteiligte Schüler*innen eine flächendeckende Förderung erhalten. Um der Risikogruppe der leistungsschwächeren Schüler*innen einen gelingenden Berufsweg zu ermöglichen, schlägt Köller vor, für sie zusätzliche Förderprogramme anzubieten. Das Problem, für solche „additiven Angebote“ auch genügend Personal verfügbar zu machen, ließe sich Köllers Meinung nach lösen, indem man Studierende und pensionierte Lehrkräfte mit derartigen Aufgaben betraut sowie digitale Lernprogramme in den Förderunterricht mit einbezieht.

Mädchen holen in MINT-Fächern auf, haben aber weniger Selbstvertrauen

Während sich die Leistungen von Mädchen und Jungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern auf der Sekundarstufe I gemäß der Studie aneinander angleichen und Schülerinnen ihre männlichen Mitschüler in den computer- und informationsbezogenen Kenntnissen inzwischen sogar überflügelt haben, haben die Mädchen immer noch deutlich geringeres Selbstvertrauen in der MINT-Domäne und entwickeln (mit Ausnahme des Schulfachs Biologie) auch weniger Interesse an den Inhalten.

Die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern tritt stärker auf dem Gebiet der beruflichen Bildung hervor. Von über 160.000 im Jahr 2018 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen wurden mit 20.4000 gerade einmal 11 Prozent von weiblichen Auszubildenden unterzeichnet. Obwohl die Zahl der Azubis in MINT-Fächern 2018 mit rund 530.000 2018 höher war als je zuvor, herrscht in den technisch-naturwissenschaftlich geprägten Berufen ein erheblicher Mangel an Fachkräften. Die mit Abstand meisten Azubis im MINT-Bereich wählten einen technischen Beruf, die wenigsten einen mathematisch orientierten. 14.300 Ausbildungsplätze blieben nach den Daten der Studie 2018 unbesetzt, ca. fünfmal so viel wie 2009 (2.700 freie Stellen).

Einige Erfolge: Mehr Studierende in MINT-Fächern an Hochschulen

Als wesentlich erfolgreicher als die Entwicklung im schulischen Bereich hat sich nach Aussagen von acatech und IPN das MINT-Studium an Hochschulen erwiesen: Von allen Studienabsolvent*innen schlossen 2017 in der Bundesrepublik 35 Prozent ein MINT-Studium ab, im OECD-Vergleich belegten sie damit noch vor Österreich (34 Prozent) und Finnland (29 Prozent) den ersten Platz. Der Frauenanteil in MINT-Fächern an Hochschulen betrug 2018 genau ein Drittel, rund 6 Prozent mehr als noch 2011. Schwierigkeiten bereiten allerdings weiterhin die mit 35 Prozent in den Ingenieurwissenschaften und 41 Prozent in Mathematik und Naturwissenschaften hohen Quoten von Personen, die ihr MINT-Studium vorzeitig abbrechen, das Fach oder die Hochschule wechseln.

Einen Zuwachs verzeichnet wiederum die Rate der Studienanfänger*innen in MINT-Lehramtsfächern. In Mathematik nahmen acatech und IPN zufolge 2018 sogar 24 Prozent mehr Personen ein Lehramtsstudium auf als noch 2015. Frauen sind unter den Lehramtsstudierenden in Informatik mit 30 Prozent und Physik mit 36 Prozent weiterhin unterrepräsentiert, in Chemie sind beide Geschlechter mit 50 Prozent gleichmäßig vertreten, Biologie und Mathematik studieren deutlich mehr Frauen auf Lehramt als Männer.


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