KOMMENTAR: zwd-HERAUSGEBER HOLGER H. LÜHRIG : „Siegen” dank Frustwählern in Ostdeutschland?

22. August 2019 // Holger H. Lührig

Keine Provokation ist anstößig genug, als dass sie nicht immer wieder Journalist*innen in Zeitungen und TV-Medien auf den Plan rufen und sie zur Kommentierung oder zur Vergeudung kostbarer Sendezeit in den TV-Medien veranlassen würde.

Holger H. Lührig, zwd-Herausgeber
Holger H. Lührig, zwd-Herausgeber

zwd Berlin. Die Wahlentscheidung am 1. September in Brandenburg und Sachsen wird dank medialer Mithilfe unter Nutzung täglich neuer Demoskopie-Wasserstandsmeldungen auf die vermeintlich alles entscheidende Frage herbeigeredet, ob die selbsternannte Alternative gegen die Regierungsparteien, die CDU und SPD in Sachsen und die SPD und die Linke in Brandenburg, „siegen“ wird. Dabei kann beim besten Willen aufgrund keiner einzigen Meinungsumfrage ein solcher „Sieg“ wirklich ausgemacht werden. Einiges spricht vielmehr dafür, dass eine Vierfünftel-Mehrheit der Wähler*innen den Rechtspopulisten eine Absage erteilen wird.

Offen ist vor allem in Brandenburg die Frage, welche Partei nach den Wahlen den Ministerpräsidenten stellen wird. Der amtierende Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) hat nach Bekanntwerden jüngster Meinungsumfragen (Stand 12. August) in einer E-Mail die 6.500 Mitglieder seiner Partei gewarnt, dass „es kein Schreckgespenst ist, das wir an die Wand malen, sondern ein AfD-Sieg bittere Realität werden kann“. In Potsdam wird das mit Kopfschütteln quittiert, war es doch Woidke selbst, der Wochen zuvor die Wahlrelationen gerade gerückt hatte (wir berichteten darüber in der letzten Ausgabe): Denn wer knapp mehr als zwanzig Prozent der Wählerschaft gewinnt, kann beileibe keinen Sieg reklamieren. Stärkste Partei zu werden, heißt noch lange nicht, daraus einen Regierungsauftrag herzuleiten. Dafür braucht es eine Mehrheit im Landtag. Und die wird die AfD angesichts der Absage anderer Parteien nicht erreichen. Natürlich gilt das auch für die anderen der unter 16 bis 25 Prozent dümpelnden Parteien; auch sie brauchen Koalitionspartnerinnen. Gleichwohl, so scheint es, hat inzwischen die blanke Angst vor der Masse der Frustwähler*innen den Spitzenmann, der seit 1990 regierenden Sozialdemokratie ebenso erfasst wie seinen Amtskollegen in Sachsen.

Tatsächlich gibt es keinen Grund für die rot-rote Koalition, in Sack und Asche vor die brandenburgische Wählerschaft zu treten. Sicher, Woidke ist kein Stolpe oder Platzeck. Diese Ministerpräsidenten haben das Land zwischen Oder und Spree geprägt und große Schuhe für ihre Nachfolger hinterlassen. Zu groß? Vielleicht.

Aber die 100-Seiten-Bilanz der von Woidke geführten Landesregierung erlaubt immerhin einen selbstbewussten Auftritt der Koalition von SPD und Linken. Der Regierungschef und sein Finanzminister Christian Görke (Linke) haben das im Vorwort der Regierungsbilanz mit den Worten umschrieben: „Brandenburg geht es heute besser als je zuvor in seiner fast dreißigjährigen Geschichte“. Das lässt sich auch an Fakten festmachen, wie der Koalitionsvertrag zwischen 2014 und 2019 umgesetzt wurde (einige Punkte der Bilanz haben wir in dieser Ausgabe zitiert). Der Regierungsbericht ist Ausdruck eines soliden Regierungshandelns, wenn auch vielleicht nicht für Zukunftsvisionen, wenn in dem Vorwort nicht beschönigt wird, „dass wir weiter für soziale Gerechtigkeit und gleich gute Bildungschancen für alle, für eine weitere Entlastung der Eltern von Kitagebühren und der Qualität der Kitas und Schulen, für mehr gute und tarifgebundene Arbeitsplätze, für den Ausbau der Bahn- und Verkehrsinfrastruktur und für weitere Fortschritte in der Wohnungs-, Gesundheits- und Pflegepolitik kämpfen müssen“. Für Zukunftsvisionen sind die wahlkämpfenden Parteien zuständig. Aber auch die Regierung muss darstellen, welchen Beitrag sie für die Zukunftssicherung der Mitbürger*innen erbracht hat.

Dabei zählt weniger die Integration Geflüchteter als die Bedienung der Lebens- und Verlässlichkeitsbedürfnisse der Brandenburger*innen. Zumal in einem Land, das von Überalterung der Bevölkerung, von Regionen und Landstrichen geprägt ist, wo schon lange nicht mehr der Einkaufsladen, die Kita und Grundschule im Dorf sind, geschweige denn die ärztliche Versorgung in der Nähe gewährleistet und das Internet überall und uneingeschränkt verfügbar ist. Daran werden die Regierenden gemessen, obwohl sie nicht für alle frustrierenden Entwicklungen die Verantwortung tragen.

Für die wahlkämpfenden Regierungsparteien stellt sich die Frage, warum sich im Osten der Republik, namentlich im Land Brandenburg, das doch vergleichsweise gut da steht, trotzdem eine nicht geringe Zahl von Menschen von den Regierenden abwendet und welche Rezepte sie dagegen anzubieten haben. Der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck glaubt, es gebe eine Grundstimmung, die sich teilweise von Daten und Fakten gelöst habe. Das ist wohl so, wenn doch nach einer aktuellen, am 12. August veröffentlichten Forsa-Umfrage sieben von zehn Ostdeutschen 30 Jahre nach dem Mauerfall ihre persönliche Situation besser als früher einschätzen.

Ein Drittel der befragten 55- bis 60-Jährigen – Menschen mit Hauptschulabschluss oder mittlerem Schulabschluss sowie mit niedrigem Einkommen – sieht ihren Arbeitsplatz nicht als sicher an und spricht von Zukunftsangst (21 %). Zehn Prozent halten Politiker*innen für „so korrupt wie in der DDR“ – was sich augenscheinlich aus den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten der Umfrage erschließen lässt. Nur vier Prozent finden, es gebe „zu viele Ausländer, Flüchtlinge“.

Die Antworten der Frustrierten korrespondieren mit einer anderen Forsa-Umfrage, die von den Medien unter der Überschrift „Jeder Dritte offen für die Zusammenarbeit mit der AfD“ (Tagesspiegel, 10.8.2019) verbreitet wurde. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass nur 15 Prozent der ostdeutschen Befragten an eine Verbesserung der politischen Verhältnisse im Falle der Übernahme einer Regierungsverantwortung durch die Rechtspopulisten glauben (bundesweit sind es sogar nur neun Prozent; 69 Prozent der Befragten befürchten hingegen eine Verschlechterung der Politik).

Wenn diese Wähler*innen gleichwohl der zunehmend rechtsradikalen Partei folgen, lässt sich das aus der Verunsicherung erklären, dass sie angesichts des bundesweiten Medienechos nicht mehr die Spreu der Lügen und Hassparolen vom Weizen der realen Politik zu unterscheiden vermögen. Allerdings fehlt bislang auch die Gegenöffentlichkeit, wenn die selbsternannte Alternative mit Erinnerungen an das glorreiche Preußen operiert, um unter anderem mit Hinweis auf die gebildeten, von den Preußen-Königen ins Land geholten Hugenotten die Ausgrenzung geflüchteter, nicht qualifiziert ausgebildeter Afrikaner oder Asiaten zu begründen.

Braucht es erst den Bundespräsidenten, um den AfD-Verheißungen wie „Wende 2.0“ oder „Die Revolution von 1989 vollenden“ entgegen zu halten: „Wenn politische Gruppierungen im Wahlkampf versuchen, das Erbe von ´89 für ihre Angstparolen zu stehlen, dann ist das eine perfide Verdrehung der Geschichte.“ Eine Partei, die sich nicht scheut, den sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt mit dessen Spruch von 1969 „Mehr Demokratie wagen“ zu vereinnahmen und zu plakatieren, zeugt von unlauteren und schäbigen Politikabsichten. Spät – hoffentlich nicht zu spät – haben die Wahlkämpfer*innen in Sachsen und Brandenburg gemerkt, dass es sich nicht auszahlt, nur gebannt zuzusehen, wie die Epigonen des nationalsozialistischen Regimes mit dumpfen Parolen immer dreister Schlagzeilen besetzen und – mit Steuergeldern – die Demokratie in Deutschland auszuhebeln versuchen.hlagzeile, sondern lediglich eine 17-Zeilen-Meldung wert.

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