GASTBEITRAG DES VORSITZENDEN DES BUNDESTAGS-BILDUNGSAUSSCHUSSES, DR. ERNST DIETER ROSSMANN : Streitobjekt Nationaler Bildungsrat: Der Bedarf bleibt!

3. Dezember 2019 // Dr. Ernst Dieter Rossmann

Der nachstehende Gastbeitrag aus der Feder des Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Bildung und Forschung, Dr. Ernst Dieter Rossmann, ist in der aktuellen Ausgabe von BILDUNG DIGITAL des zwd-POLITIKMAGAZINs erschienen. Er wurde vor der jüngsten Entscheidung der Kultusministerkonferenz, einen eigenen Wissenschaftsbeirat anstelle eines Bildungsrates einzurichten, verfasst, ist aber auch danach unverändert aktuell.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD), Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Bildung und Forschung
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD), Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Bildung und Forschung

Das ist schon ein ziemlicher Schlag ins Kontor der deutschen Bildungspolitik, den das von CSU und Freien Wählern regierte Bayern und das von Bündnis 90/Die Grünen und CDU geführte Baden-Württemberg da gelandet haben. Deren Landesregierungen haben erklärt, dass sie aus den Schlussverhandlungen zur Einrichtung eines Nationalen Bildungsrates aussteigen und sich nicht an einem solchen Nationalen Bildungsrat beteiligen wollen.

Was das für die Bildungspolitik in Deutschland mittel- und langfristig bedeuten kann und welche Chancen hierbei mutwillig vertan werden, wird noch genauer zu erörtern sein. Politisch gesehen, ist mehreres bemerkenswert. Die CSU hat den Koalitionsvertrag genauso vor noch nicht einmal zwei Jahren unterschrieben wie es auch die CDU getan hat. Das hindert weder den CSU-Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden von Bayern noch die CDU-Kultusministerin von Baden-Württemberg daran, hier einen klaren Vertragsbruch zu begehen. Damit düpieren sie nicht nur den Koalitionspartner SPD, sondern auch die Bundeskanzlerin und damalige CDU-Parteivorsitzende genauso wie die neue CDU-Parteivorsitzende, unter der der Koalitionsvertrag in diesem Bereich maßgeblich ausgehandelt worden ist.

Es ist zugleich auch eine grobe Missachtung und Respektlosigkeit gegenüber der aktuellen Bundesbildungsministerin von der CDU, die konstruktive Vorschläge zur Umsetzung dieses gemeinsamen Bildungsprojektes der Großen Koalition gemacht hat und die jetzt gnadenlos in den Regen gestellt wird von den Extremföderalisten der CSU und der CDU.

Schlussstrich oder Zwischenspiel?

Diese Extremföderalisten erlauben sich diesen Schlag ins Kontor der zukünftigen Bildungspolitik im Übrigen in dem Moment, wo nach der Grundgesetzänderung nicht nur die Milliarden des Bundes für die Hochschulen und die Wissenschaft und die Forschung in den Bundesländern fest vereinbart sind, sondern auch die Digitalmilliarden des Bundes für die Schulen und die Milliardenzuschüsse des Bundes für die Kindertagesstätten fließen und die Gelder für die festen Grundschulzeiten zu Gunsten der Länder im Bundeshaushalt verankert sind.

Da gehört schon eine ordentliche Portion politische Chuzpe von Extremföderalismus und von Bildungsegoismus dazu, so zu verfahren und die Partner in 14 anderen Bundesländern, in der Bundesregierung, in den Koalitionsparteien, in den Bildungseinrichtungen, der Wissenschaft und den Verbänden derart vor den Kopf zu stoßen. Darf mensch dabei noch darauf hoffen, dass es ein Nachdenken und ein Umdenken und eine Rückkehr zur Vertragstreue und kooperativen vorausschauenden Politik geben kann. Wir müssen es. Um der Sache willen.

Die Geschichte einer Idee und die Hoffnung auf neue Perspektiven

Wenn es um mehr Zusammenarbeit in unserem föderativ verfassten und in der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern organisierten Bildungssystem geht, um Transparenz und Vergleichbarkeit, Qualität wie Zukunftsorientierung zu befördern, wird im Guten wie im Schlechten vielfach auf den Deutschen Bildungsrat abgehoben. Dieser hatte in den 60er und 70er Jahren des Bildungsaufbruchs sehr wohl wichtige Empfehlungen gegeben, gleichwohl aber keinen durchschlagenden und nachhaltigen politischen Konsens stiften können. Sein Schicksal war mit der zunehmenden politischen Polarisierung der 80er Jahre und mit dem extremen Wettbewerbsföderalismus der neoliberalen Jahrhundertwende vermeintlich endgültig besiegelt. Da die Entwicklungs- und Qualitätsprobleme und die Bedarfe an mehr Kooperation und Konsens in der deutschen Bildungspolitik eher noch zunahmen, brachten ebenso anerkannte und kompetente Köpfe der Bildungswissenschaften und des Bildungsmanagements wie der frühere Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Erich Thies oder ein Nestor der deutschen Bildungsforschung wie Elmar Tenorth oder der Bildungsforscher, Deutsche PISA-Chef und Vorsitzende des Wissenschaftsrates Manfred Prenzel bei verschiedenen Gelegenheiten eine Neuauflage, aber in veränderter Form, für einen Nationalen Bildungsrat wieder ins Gespräch.

Entsprechende Vorstöße gab es aus den Gewerkschaften, von Arbeitgeberseite wie von Stiftungen, zumal die Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten Bildungsgipfel veranstaltete und Deutschland zur Bildungsrepublik entwickeln wollte. Auch die Parteien nahmen diese Idee wieder neu auf, von Fachkommissionen über Parlamentsarbeitskreise bis hin zu Parteitagsbeschlüssen. Wenn die Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel und ihre Nachfolgerin im Parteivorsitz Annegret Kramp-Karrenbauer in den Koalitionsvereinbarungen sich hinter die Idee stellten, einen Nationalen Bildungsrat neu einzurichten, dann taten sie dies auf der Grundlage eines CDU-Parteibeschlusses aus dem Jahr 2012. Die SPD war in diesen Verhandlungen in der Gemeinsamkeit von Bundes- und Landesvertretern nur allzu gern bereit, diesen Schritt zu gehen, und die CSU war vielleicht nicht in der Person ihres Verhandlungsführers im Bildungsbereich Minister Ludwig Spaenle, aber über ihren Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten mit initiativ bei dieser Idee.

Schließlich fügte und fügt sich diese Initiative und Vereinbarung im Koalitionsvertrag auch nur zu gut ein in die neue Architektur für eine moderne Bildungspolitik, wie sie über die letzten Jahre aufgebaut worden ist seit den dramatischen Einschnitten, die mit der Föderalismusreform im Geiste des Neoliberalismus 15 Jahre zuvor erfolgt waren. Über mehrere Grundgesetzänderungen gibt es eine deutliche Abkehr von dem seinerzeit radikal durchgesetzten Kooperationsverbot von Bund und Ländern, wenn es um die Förderung von Schulen und die dauerhafte Förderung der Wissenschaft ging. Da sind wir nach 4 Grundgesetznovellierungen über die letzten 15 Jahre glücklich wieder auf dem seinerzeitigen Stand und sogar, was den Bereich der Hochschulen angeht, deutlich darüber hinaus angekommen. Bundesmittel für die Bildungsförderung in den Ländern und Kommunen gibt es in einem Ausmaß und mit einer Langfristigkeit, wie sie früher unbekannt war. Der Bund engagiert sich seit Jahren verstärkt in der Bildungsforschung. Und mit dem Nationalen Bildungsbericht gibt es ein von Bund und Ländern gemeinsam geführtes Dokument einer empirischen und evidenzorientierten Bildungsberichterstattung über die ganze Bildungsbiographie hin, das alle zwei Jahre für die nationale Bildungsdiskussion vorgelegt wird. In dieser Architektur wäre ein Nationaler Bildungsrat in der Tat der missing link, über den dann Wissenschaft im Diskurs mit politischen Vertreterinnen und Vertretern aller Ebenen von den Kommunen bis zum Bund und Persönlichkeiten aus Praxis und mit Verbandskompetenz zu Empfehlungen mit Hintergrund und Perspektive kommen könnte.

Auftrag und mutwillige Missverständnisse und Denunziationen

Der Koalitionsvertrag ist hier sehr eindeutig formuliert, wenn es heißt: „Der Nationale Bildungsrat soll auf Grundlage der empirischen Bildungs- und Wissenschaftsforschung Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen vorlegen und dazu beitragen, sich über die zukünftigen Ziele und Entwick-

-lungen im Bildungswesen zu verständigen und die Zusammenarbeit der beteiligten politischen Ebenen bei der Gestaltung der Bildungsangebote über die ganze Bildungsbiographie hinweg zu fördern.“ Da gehört dann schon viel Boshaftigkeit dazu, in diesem Rat mit seinem Auftrag und Recht zu Empfehlungen ein „Diktat aus Berlin“ oder „einen Bildungszentralismus durch die Hintertür“ sehen zu wollen oder zu müssen. Oder regiert hier bei den Landesregierungen, die von der CSU und den Grünen geführt werden, einfach die Angst, sich auch mit den Sichtweisen von Wissenschaft, von kompetenten Praktikern und von verantwortlichen Politikern aus dem Bund und den Kommunen auseinandersetzen zu müssen. Es kann auch die reine extremföderalistische Dickfelligkeit sein, wonach die Verhältnisse in den eigenen Bundesländer so grandios sind und bleiben werden, dass das gemeinsame Reflektieren schon einer Majestätsbeleidung des breitbeinigen „Mia san mia“ gleichkommt. Selbstbewusstsein, Offenheit, Kooperationsfähigkeit sprechen jedenfalls nicht aus den Haltungen dieser Bundesländer.

Auch fehlt offensichtlich der differenzierte Blick auf die Verschiedenheit von vorhandenen Institutionen der Bildungspolitik wie der KMK und dem Nationalen Bildungsrat als einer Ergänzung mit neuer Qualität.

Dieser Bildungsrat sollte nie ein reiner „Schulrat“ sein, sondern Empfehlungen zur ganzen Bildungsbiografie und ihrer Förderung entwickeln. Themen gibt es wahrlich genug, von der Entwicklung der frühkindlichen Bildung über die verschiedenen Formen der Ganztagsbildung und der Digitalisierung in ihren Chancen und Risiken für den Bildungsprozess hin zu Integration und Inklusion und zu neuen Formaten der beruflichen Bildung in Studium und Berufsausbildung und zur Stärkung der Weiterbildung und dem Lernen im Alter, die europäische und die internationale Dimension dabei nicht vergessen.

In den Vorbereitungen für den Nationalen Bildungsrat waren alle Beteiligten realistisch und klarsichtig genug, sich zugleich eine Konzentration auf Schlüsselprojekte und prioritär nachgefragte Themenstellungen zu versprechen. Und sie waren klug genug, sich nicht an dem Modell der Einstimmigkeit zu orientieren, wie es in der Kultusminister-Konferenz herrscht, sondern die Partnerschaft der drei politischen Ebenen in einem Modell zu verankern und abzusichern, dass weder die Dominanz einer politischen Ebene nach den Zwang der Einstimmigkeit kennen sollte. Dies wäre auch nicht der Wissenschaftskomponente gerecht geworden, die ja gerade die Kommissionsarbeit mit kennzeichnen sollte. Zugleich sollten die Länder als die verfassungsrechtlich stärksten und finanziell relevantesten Kräfte in diesem Zusammenspiel mit dem Einbau einer 2/3 Mehrheit unter Einschluss von mindestens 13 Ländern besonders abgesichert sein. Was soll es da eigentlich noch mehr an Garantien gegen jede einseitige Dominanz der Bundesebene? Mit 3 Sitzen für die kommunale Seite wäre nach diesem Modell zudem dieser wichtige Partner erstmals in ein verantwortliches Gremium für die zukünftige Bildungsförderung mit einbezogen worden. Die Kommunen, die ja von der frühkindlichen Bildung über die wachsenden Ansprüche an den Lern- und Lebensort Schule bis zum Ausbau der allgemeinen Weiterbildung unter dem Vorzeichen des demographischen Wandelns und des massiv anwachsenden Bedarfs an Bildungsteilhabe im Alter besonders gefordert sind, müssen jetzt erleben, dass die Landesregierungen aus Bayern und Baden-Württemberg ihnen genau diese Anerkennung und Aufwertung versagen wollen. Diesen Fall von Paternalismus von Schwarz und Grün nach Gutsherrenart sollten sich die Betroffenen gut merken.

Wie weiter?

Das Schlimmste, was dem Vorhaben des Nationalen Bildungsrates jetzt passieren kann, ist die Kombination von Protest und Aufschrei und nachfolgendem Schulterzucken und Weiterziehen zum nächsten Thema. Das könnte den Extremföderalisten von CSU und Bündnis 90/Die Grünen wohl sehr zupasskommen.

Auch die Konzentration auf einen Staatsvertrag zur Vergleichbarkeit und Qualitätssicherung im Bereich Schule kann nur als Ablenkung verstanden werden. Da ist die Grundsatzfrage noch offen, welchen Beitrag das Instrument des Staatsvertrages überhaupt leisten kann , der ja per se auf sehr dauerhafte Festlegungen ausgerichtet ist und sein Gewicht erst durch den mühsamen Ratifizierungsprozess in 16 Länderparlamenten bekommt, wenn doch die Bildungspolitik sich immer wieder mit neuen Entwicklungen und Anforderungen auseinandersetzen muss. Alle Kundigen wissen, dass Novellierungen von Staatsverträgen jedenfalls noch schwieriger sind und seltener vorkommen als Änderungen am Grundgesetz. Ein Staatsvertrag würde vor allen Dingen aber keinerlei Antworten geben auf den Bedarf an bildungspolitischer Vorausschau, an ernsthafter Beratung durch die Wissenschaft und pädagogische Praxis und an Beteiligung von Bund, Ländern und der Zivilgesellschaft. Staatsverträge sind gouvernemental. Die Bildungspolitik in der Zukunft wird genau dieses nicht sein können. Und das gilt auch für den Schulbereich. Deshalb ist ein Nationaler Bildungsrat auch keine bessere oder schlechtere Alternative zu einem Staatsvertrag, sondern eine Einrichtung mit einem eigenständigen Auftrag und einer ganz anders gelagerten Qualität.

Hierauf nimmt auch die deutliche Kritik an dem handstreichartigen Auszug der Landesregierungen von Bayern und Baden-Württemberg immer wieder Bezug, sei es von den bedeutendsten Gewerkschaften und Bildungsverbänden, sei es von den Einrichtungen der Bildungswissenschaften und der Bildungsforschung quer durch die ganze Bildungsbiographie. Auch in den Leitmedien in Deutschland überwiegt die Kritik an diesem Alleingang der zwei Bundesländer, unabhängig davon, dass Hannah Bethke in der Frankfurter Allgemeinen am 26.11. den Nationalen Bildungsrat als „bildungspolitisches Großprojekt der Großen Koalition“ anspricht und dieser dann am gleichen Tag in der Frankfurter Rundschau als „winziges Projekt“ im Leitartikel von Tobias Peter adressiert wird.

Wichtig wird jetzt gerade auch nach den überzeugenden Voten aus der ganzen Breite der Wissenschaft werden, nicht vorschnell die Flinte ins Korn zu werfen, sondern ein Nachdenken und Umdenken und Einlenken der beiden Bundesländer einzufordern, die sich hier destruktiv aus dem Konsens verabschiedet haben. Allen muss klar sein: Gerade in dem komplexen Politikgeflecht zwischen Kommunen, Ländern und dem Bund zahlen sich Mutwilligkeit und Vertragsbrüchigkeit selten aus und auf längere Sicht schon gar nicht. Das Zusammendenken mit der Wissenschaft und allen politischen Partnern wird unerlässlich werden, wenn nicht nur der in breiten Kreisen der Bevölkerung schlecht beleumdete Bildungsföderalismus, sondern auch der hohe deutsche Anspruch an eine besondere Qualität in allen Bildungsbereichen der Zukunft standhalten sollen. Anerkennung, Respekt und Legitimation in der Bevölkerung wachsen mit der Erkennbarkeit in der Suche evidenzgestützter konsensfähiger Bildungspolitik. Dafür muss jetzt ein weiterer Anlauf genommen werden, damit es im neuen Jahr dann auch zu sichtbaren Ergebnissen führt, institutionell und später dann auch in der verbesserten Praxis.

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