BUCHREZENSION VON DIETMAR NIETAN (MdB/SPD) : Von vielen zu Unrecht vergessen: Reichskanzler Hermann Müller (SPD)

31. Mai 2019 // Dietmar Nietan

Viele kennen Philipp Scheidemann, Friedrich Ebert, Hugo Haase oder Marie Juchacz. Aber was wissen wir über Hermann Müller? Peter Reichel ist zu danken, dass er Hermann Müller in seinem lesenswerten Buch „Der tragische Kanzler“ jetzt die Würdigung widerfahren lässt, welche dieser große Sozialdemokrat ohne Zweifel verdient.

Dietmar Nietan (SPD) - Bild: Sebastian Niehoff
Dietmar Nietan (SPD) - Bild: Sebastian Niehoff

zwd Berlin. Reichels Buch erschien im vergangenen Jahr pünktlich zu den neuen geschichtspolitischen Debatten rund um den 100. Jahrestag der Novemberrevolution von 1918. Debatten, die sich auch um eine neue Würdigung der Errungenschaften der Weimarer Republik bemühen. Dabei sind zwei Diskussionsstränge besonders zu erwähnen: Zum einen wenden sich endlich viele Autor*innen der ersten erfolgreichen demokratischen Revolution nicht nur mit dem Blickwinkel des Scheiterns der Weimarer Republik in den dreißiger Jahren zu, sondern betrachten die großen demokratischen Errungenschaften dieser Republik vom Anfang her. Zum anderen kann man aber feststellen, dass es auch Beiträge gibt, die nunmehr in der Rückschau die großen Leistungen der deutschen Sozialdemokratie für die erste deutsche Demokratie bewusst vernachlässigen. Sie arbeiten sich stattdessen lieber an den wirklichen oder auch vermeintlichen Fehlern und Fehlleistungen der damaligen sozialdemokratischen Führungselite ab. Da fällt dann schon einmal gerne unter den Tisch, dass es weder die bürgerlichen Kräfte, noch die linksradikalen kommunistischen Kräfte waren, die diese Demokratie gewollt und durchgesetzt haben.

Und so bekommt dann die Frage, wie viel Schuld die Sozialdemokratie an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatte, eine viel existenziellere Bedeutung als die Frage, wie es denn nicht nur Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, sondern die Kommunisten und auch die heutigen politischen Kräfte, die sich auf sie berufen, mit der parlamentarischen Demokratie gehalten haben bzw. halten.

Damit kommen wir auch schon zu der Frage, aus welchem Blickwinkel man das spannende und historisch gesehen längst überfällige Buch von Peter Reichel betrachtet:

Sieht man es als eine Biografie über einen großen deutschen Politiker, der einen ewigen Kampf zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik führt? Oder bestätigt das Buch diejenigen, die die Sozialdemokratie, ohne die es die erste demokratische Republik auf deutschem Boden so nicht gegeben hätte, am Ende auch noch für deren Scheitern verantwortlich machen wollen? In dieser Hinsicht ist Reichels Buch durchaus ambivalent.

Ich habe es mit großem Vergnügen gelesen, weil es endlich die wichtige Rolle von Hermann Müller als sozialdemokratischen Reichskanzler ausführlich würdigt. Ich habe es auch deshalb mit viel Erkenntnisgewinn gelesen, weil es noch einmal deutlich macht, welche große Verantwortung auch für heute politisch Handelnde darin besteht, immer zwischen den Interessen des Landes und den parteipolitischen Interessen eine gute Balance zu finden.

Wenn Peter Reichel den aus heutiger Sicht unnötigen und somit letztlich unverantwortlichen Sturz Hermann Müllers vom Amt des Reichskanzlers durch die eigenen Genoss*innen sehr pauschal als Verrat an der Weimarer Demokratie schildert, geht er aber eindeutig zu weit und wird – sicherlich ungewollt – zum Stichwortgeber für diejenigen, die es weder mit der Sozialdemokratie noch der parlamentarischen Demokratie so richtig gut meinten und meinen.

Wenn man die Fragen des „was wäre wenn“ – also spekulative Fragen – so eindeutig wie Peter Reichel beantwortet, zum Beispiel im Fall seiner These, dass die SPD damals sehenden Auges zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen habe, wird man der Komplexität der damaligen politisch-gesellschaftlichen Prozesse nicht gerecht. Man darf eben nicht darüber hinweg gehen, dass die damals handelnden Akteur*innen eben nichts von all dem wussten und exakt vorhersehen konnten, was wir heute wissen.

Trotzdem lohnt es sich das Buch zu lesen, weil es in einer sehr profunden Weise einen großen Sozialdemokraten würdigt, den viele in der SPD zu Unrecht bis heute vergessen haben.

Peter Reichel: „Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik“. dtv, München 2018, 464 Seiten, 29 Euro

Diese Rezension erschien zuerst im zwd-POLITIKMAGAZIN Nr. 368 (Mai 2019).


Dietmar Nietan (54) ist seit drei Legislaturperioden Mitglied des Deutschen Bundestages. 2010 wurde er zum Schatzmeister der SPD gewählt. Nietan ist ein engagierter Europapolitiker und auch Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft.


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