SCHWANGERSCHAFTSVORSORGE : Wahlfreiheit der Frauen wird unrechtmäßig beschränkt

30. April 2021 // Dr. Dagmar Hertle

Frauen können selbst entscheiden, wem sie sich während der Schwangerschaft anvertrauen: Ärzt*innen, Hebammen oder beiden Professionen. So steht es im SGB V, §24 d: „Die Versicherte hat während der Schwangerschaft, bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung sowie Hebammenhilfe einschließlich der Untersuchung zur Feststellung der Schwangerschaft und zur Schwangerschaftsvorsorge.“ In der Praxis ist die Wahlfreiheit aber eingeschränkt – Schwangerschaftsvorsorge ist zur Kampfzone der Berufsgruppen geworden.

Eine falsche Formulierung in der Mutterschaftsrichtlinie beschränkt unrechtmäßig die Wahlfreiheit der Frauen

von Dr. med DAGMAR HERTLE

Hebammen und Gynäkolog*innen sind mit unterschiedlichem Fokus in der Betreuung Schwangerer tätig: Der Blick der Hebammen ist auf Gesundheitsförderung und die Begleitung einer natürlichen Lebensphase ausgerichtet, Ärzt*innen setzen von ihrer Ausbildung her den Fokus auf Risiken und pathologische Veränderungen. Eine gute Sache könnte man meinen: In einer kooperativen Versorgung kann beides abgedeckt werden, mit dem Schwerpunkt mehr bei der Hebamme oder der Gynäkolog*in, je nachdem was die Frau wünscht und braucht. Aber so einfach ist es nicht: Aktuell dominiert die ärztliche Schwangerschaftsvorsorge bei Weitem und Frauen haben auch bei normalem Schwangerschaftsverlauf faktisch oft nicht Wahl, vom wem sie betreut werden wollen.

Schuld daran sind – neben der dominierenden Risiko-Kultur des Medizinsystems – strukturelle Vorgaben, die eine Kooperation von Ärzt*innen und Hebammen auf Augenhöhe blockieren. Auf der Basis der Mutterschafts-Richtlinie und der Abrechnungsmodalitäten sehen sich Gynäkolog*innen nicht selten in der Pflicht, der Schwangeren die Vorsorge durch die Hebamme auszureden. Hebammen dürfen nur dann Schwangerschaftsvorsorgen durchführen, wenn dies ärztlicherseits als unbedenklich angesehen werde, so die Mutterschaftsrichtlinie. Der Berufsverband der Frauenärzte sieht dementsprechend Haftungsprobleme für die Gynäkolog*in bei Fehlern der Hebamme. Außerdem stehe die Vorsorgepauschale, über die die Gynäkolog*innen abrechnen, einer kooperativen Versorgung entgegen, denn diese erfordere, dass alle Vorsorgen von der Frauenärzt*in selbst durchgeführt werden, ansonsten liege Abrechnungsbetrug vor. Die Ängste der Gynäkolog*innen vor Haftung und „Regress“, gehen soweit, dass Frauen gar per Unterschrift zusichern müssen, keine Hebammenvorsorge in Anspruch zu nehmen, ansonsten könnten sie nicht von der Gynäkolog*in betreut werden. Dies schafft große Verunsicherung bei den Schwangeren.

Allerdings beruhen die Ängste der Frauenärzt*innen auf einem Irrtum, denn das Hebammengesetz und die Berufsordnungen der Hebammen treffen klare Regelungen: Hebammen können und dürfen eigenverantwortlich Schwangerschaftsvorsorgen durchführen, sie sind im Erkennen von Regelwidrigkeiten geschult und müssen nur dann zur Ärzt*in schicken, wenn dies erforderlich ist. Sie haften selbst für das, was sie tun. Es gibt keine Abrechnungsprobleme: Der Abrechnungskatalog der niedergelassenen Ärzt*innen (EBM-Katalog) verbietet eine Abrechnung nicht, wenn einzelne Vorsorgeleistungen nicht von einer Ärzt*in, sondern von einer Hebamme erbracht wurden oder die Schwangere darauf verzichtet hat. Im Mutterpass können die Vorsorgeuntersuchungen von beiden Berufsgruppen gleichberechtigt dokumentiert werden, so dass eine unzulässige doppelte Leistungserbringung ausgeschlossen ist. Auch eine komplette Vorsorge durch die Hebamme ist möglich, denn die vorgesehenen Ultraschalluntersuchungen können ärztlicherseits auch einzeln abgerechnet werden.

Das 2017 fertiggestellte Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ plädiert ausdrücklich für die Stärkung kooperativer Versorgung und den präventiven Ansatz der Hebammenbetreuung (Teilziel 1.7), die Studien zufolge zu geringeren Interventionsraten bei der Geburt, zur Vermeidung von Frühgeburten, zu einer höheren Stillrate und zu mehr Zufriedenheit bei den Frauen beiträgt. Das Gesundheitsziel geht vom weiblichen Ur-Können schwanger zu sein und gebären aus, denn die Mehrzahl der Frauen ist gesund und erlebt eine normale Schwangerschaft. Niemand bestreitet die lebensrettenden Errungenschaften der Geburtshilfe, wenn pathologische Verläufe vorliegen. Eine überbordende Risikofokussierung hingegen, wie sie das mittlerweile hochtechnisierte Medizinsystem vertritt, führt zu vermehrten, oft nicht indizierten Eingriffen, erkennbar z.B. an den hohen Kaiserschnittraten, die mit Nachteilen für Mutter und Kind verbunden sind.

Was kann die Politik tun?

Um den Frauenärzt*innen ihre Ängste zu nehmen, braucht es eine Richtigstellung der Mutterschaftsrichtlinie. Der dort verankerte Delegationsvorbehalt ist zu streichen, denn er führt zu einer unrechtmäßigen Einschränkung der Wahlfreiheit von Schwangeren. Das Bundesministerium für Gesundheit beaufsichtigt die Richtigkeit der Umsetzung der Gesetzgebung in den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses und ist hier in der Pflicht, eine Korrektur durch den G-BA herbeizuführen.

Die Autorin: Dr. med. Dagmar Hertle war Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.; die Fachärztin für innere Medizin ist jetzt beruflich in der Abteilung Gesundheitssystemforschung des BIFG (Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung) tätig.

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