DAK-KINDER- UND JUGENDREPORT : Wenn Kinder leise leiden: Psychische Probleme bei Schüler*innen weit verbreitet

21. November 2019 // Ulrike Günther

Über 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden unter seelischen Störungen, Mädchen mehr in der Pubertät, Jungen stärker in der Kindheit. Von Depressionen und Angststörungen sind hingegen weibliche Jugendliche am häufigsten betroffen. Zu diesen Ergebnissen kommt der diesjährige Kinder- und Jugendreport (KJR) der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK), der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde.

Bild: pexels
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zwd Berlin. Demnach ließen sich mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen im Jahr 2017 aufgrund von psychischen Erkrankungen oder auffälligem Verhalten ärztlich behandeln. Zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr verzeichnet die Studie der DAK einen deutlichen Anstieg der Störungen auf ca. 3,5 Prozent aller gleichaltrigen Kinder. Bis die Jugendlichen 15 Jahre sind, verringert sich das Auftreten der seelischen oder verhaltensbezogenen Erkrankungen auf insgesamt ca. 2,3 Prozent. Mädchen erleben vom 12. bis zum 17. Lebensjahr eine leichte Zunahme psychischer Belastungen (ca. 2,5 Prozent). Jungen sind andererseits mit fünf Jahren am stärksten (ca. 4,7 Prozent) seelisch beeinträchtigt, die Werte sinken jedoch im Folgenden in der Jugendzeit auf knapp unter zwei Prozent.

Den Fokus legte der KJR von 2019 auf die psychische Gesundheit bei Schulkindern, vor allem die Erfahrung von Ängsten und depressiven Erkrankungen, da Angaben der DAK gemäß in diesem Gebiet bisher systematische Untersuchungen fehlen. Der repräsentativen Studie liegen die von 2016 bis 2017 durch die Krankenkasse aufgenommenen, anonymisierten Daten von 786.574 Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren zugrunde, welche die Universität Bielefeld für die DAK auswertete. Damit stellt der KJR die derzeit umfassendste Gesundheitsstudie an Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik dar. Bei allen in dem Bericht gelieferten Zahlen ist allerdings zu beachten, dass hier nur die vonseiten der Ärzt*innen bzw. der Krankenkasse registrierten Fälle berücksichtigt sind. Fachleute gehen daher von einer ziemlich hohen Dunkelziffer aus.

Menge psychischer Störungen bei Kindern ist „beunruhigend“

„Wenn psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen an fünfter Stelle stehen, dann ist das sehr beunruhigend“, kommentierte Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), die Faktenlage. Von allen bei Kindern und Jugendlichen ärztlich festgestellten Krankheiten sind Erkrankungen der Atemwege (59,6 Prozent) und Infektionen (40,1 Prozent) am häufigsten vertreten. Die psychischen Störungen liegen nach Krankheiten an Augen und Haut auf dem fünften Rang der meisten von Ärzt*innen diagnostizierten gesundheitlichen Einschränkungen. Darunter finden sich bei Kindern und Jugendlichen vielfach gestörte Verläufe ihrer Entwicklung, besonders im Bereich des Sprachlernens und Sprechverhaltens.

Mädchen häufiger von Depressionen und Ängsten geplagt

Depressionen und Angststörungen, die laut Weltgesundheitsorganisation zu den schwerwiegendsten psychischen Erkrankungen zählen, treten bei jugendlichen Mädchen deutlich öfter auf als bei Jungen. Insgesamt ist das Vorkommen von depressiven Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen der DAK-Studie zufolge im Vergleich zum Vorjahr bundesweit um 5 Prozent gestiegen, während sich die Quote der bei ihnen vorfindlichen Angststörungen nicht erhöhte. Insbesondere Schulkinder zwischen 10 und 17 Jahren sind davon betroffen, im Mittel zu rund zwei Prozent. Meistens sind bei ihnen mittelschwere Depressionen (ca. 34 Prozent) festzustellen, wobei Mädchen mit 12,5 Prozent fast dreimal so oft unter diesen zu leiden haben wie Jungen (4,6 Prozent).

„Mädchen gehen bei Problemen mehr nach innen“, erklärte die klinische Psychologin und Psychotherapeutin Prof.´in Silke Wiegand-Grefe von der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung der Universität Hamburg die bei weiblichen Kindern und Jugendlichen höhere Tendenz zu depressiven und von Ängsten geprägten Störungen. Sie würden eher „internalisierte Reaktionen“ zeigen, während Jungen stärker nach außen hin agierten. Das ADHS genannte Syndrom mangelhafter Aufmerksamkeit und Hyperaktivität sei daher weitaus häufiger bei Jungen als bei Mädchen anzutreffen. Rund sieben Prozent der 17-jährigen Schülerinnen sind depressiv und ca. 4,9 Prozent von Ängsten geplagt, mehr als doppelt so viele wie die gleichaltrigen Schüler (2,8 bzw. 2,2 Prozent). Nicht selten werden die Kinder und Jugendlichen von beiden Störungen gleichzeitig beeinträchtigt, wiederum mehr Mädchen als Jungen. Die Quote der 15- bis 17-jährigen Schülerinnen ist mit 1,4 Prozent mehr als dreimal so hoch wie das ihrer männlichen Mitschüler*innen (0,4 Prozent).

Höheres Risiko für chronisch oder körperlich kranke Kinder

Prof. Wolfgang Greiner vom Fachbereich für Gesundheitsökonomie an der Universität Bielefeld und Leiter der Studie weist auf Risikofaktoren hin: „Wer (von den Kindern) schon eine chronisch verlaufende Krankheit oder eine psychische Erkrankung hat“, werde auch leichter depressiv oder von Ängsten beeinträchtigt. Ebenso Patient*innen, die körperlich krank sind. Der DAK-Untersuchung zufolge erhöhen eigene chronische Krankheiten für Kinder das Risiko, depressiv zu werden, um das 4,5-fache. Dabei laufen 15- bis 17-jährige, chronisch erkrankte Mädchen mit 14,9 Prozent mehr als doppelt so häufig Gefahr, depressiv zu werden, wie Jungen desselben Alters (7,2 Prozent). Das Risiko wächst in beiden Geschlechtern fortwährend mit höherem Lebensalter von durchschnittlich 0,5 Prozent bei jüngeren Kindern auf 7,6 Prozent bei Jugendlichen.

Ähnliches gilt für die parallel mit chronifizierten Krankheiten auftretenden Angststörungen. 5,5 Prozent der weiblichen wie männlichen Jugendlichen mit einem chronischen Leiden riskieren, außerdem von einer Angsterkrankung befallen zu werden. Wieder liegen die Werte in allen Altersklassen bei den chronisch kranken Mädchen höher als bei Jungen, wobei die Differenz mit den Lebensjahren zunimmt. Für übergewichtige Kinder (sog. Adipositas) steigt die Gefahr, depressiv zu werden, um das Dreifache, bei vorliegender Diabetes um das 2,3-fache, bei Kindern und Jugendlichen, die mindestens einmal pro Jahr wegen Schmerzen - an Kopf, Bauch, Becken oder Rücken - einen Arzt aufsuchen, sogar um das 2,6-fache.

Auch das Umfeld beeinflusst das Auftreten seelischer Störungen

Die Forscher*innen konnten über die ihnen verfügbaren Datensätze der Krankenkasse auch somatische, chronisch verlaufende oder psychische Erkrankungen bei Eltern als Einflüsse kenntlich machen, durch welche Kinder eher von Depressionen oder krankhaften Ängsten betroffen werden. Hat ein Elternteil eine depressive Störung, erhöht sich für die Kinder das Risiko um das 3,3-fache, selbst depressiv zu werden. Sind Mutter oder Vater in irgendeiner Form suchtkrank, steigt die Gefahr um das 2,4-fache. Der sozioökonomische Status der Eltern spielt in diesem Kontext ebenfalls eine Rolle: Kinder von Eltern mit mittlerem Bildungsstandard besitzen ein um neun Prozent höheres Risiko, eine Depression oder Angsterkrankung zu bekommen, als Kinder aus Elternhäusern mit geringem oder hohem Bildungsniveau.

Unsichere Versorgungslage nach Aufenthalten in Kliniken

Weiterhin hat die Untersuchung der DAK ergeben, dass 17 Prozent der als depressiv diagnostizierten Schulkinder überwiegend von Fachärzt*innen Anti-Depressiva verschrieben bekommen. Rund acht Prozent der an depressiven oder Angststörungen erkrankten Kinder und Jugendlichen mussten sich in Krankenhäusern einer stationären Behandlung unterziehen. Vor allem nach Klinikaufenthalten von depressiven oder durch Ängste gestörten Kindern und Jugendlichen konstatieren Forscher*innen wie Ärzt*innen Lücken in der Versorgung. Es gebe für die jungen Patient*innen zu wenige Angebote, sagte Andreas Storm, Vorsitzender der DAK. Außerdem würden die psychisch gestörten und in Krankenhäusern therapierten Kinder und Jugendlichen häufig durch ihre Mitmenschen stigmatisiert, geringschätzig beurteilt und behandelt, was für sie zusätzlich seelische Belastungen mit sich bringen würde. Daher dürfe „Depression bei Kindern und Jugendlichen kein Tabuthema bleiben“, forderte er.

Viele Kinder würden „leise leiden“, erklärte Storm, und empfiehlt, aufmerksamer gegenüber dem veränderten Verhalten von Kindern und Jugendlichen in Schule, Familie und Vereinen zu werden. Die psychologische Psychotherapeutin Dr. Gitta Jakob stellte ebenfalls fest, „dass es nach Krankenhausaufenthalten Hilfen gibt, aber die sind sehr fragmentiert“, und plädierte für integrierte Versorgungsangebote, welche u.a. verhindern sollen, dass die Patient*innen wieder in Kliniken eingeliefert werden. Im untersuchten Zeitraum 2016 - 2017 lag die Quote der depressiven Kinder, die aufgrund ihrer Störung mehrfach auf Stationen zur ärztlichen Betreuung im Krankenhaus bleiben mussten, bei 24 Prozent. Auch Prof.´in Wiegand-Grefe weist auf Engpässe bei der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher hin. Für viele Familien seien die „Zugangslagen zu ambulanter Psychotherapie sehr schwierig“, der Übergang vom Krankenhaus zur nicht-stationären Therapie sei häufig nicht gewährleistet. Das wichtigste Mittel in den Familien, psychischen Erkrankungen entgegenzuwirken, sei es, „in Kontakt zu sein mit den Jugendlichen“, um ihre Ängste und Sorgen besser mitzuerleben und nachzuvollziehen. Alle bei der Präsentation des Reports anwesenden Forscher*innen und Ärzt*innen verlangten wirksame Maßnahmen zur Prävention der Erkrankungen und zum Vermeiden chronischer Verläufe.

Bild im Text: zwd

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