STUDIE BMFSFJ : Zehntausende Opfer weiblicher Genitalverstümmelung in der Bundesrepublik

26. Juni 2020 // Ulrike Günther

Mehr Mädchen und Frauen in der Bundesrepublik sind Opfer weiblicher Genitalverstümmelungen (FGM). In drei Jahren ist die Zahl der Betroffenen um 44 Prozent gestiegen. Das geht aus einer vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen Studie hervor. Das BMFSFJ und Nichtregierungsverbände (NGO) prangern FGM als Menschenrechtsverletzung an. Eine Arbeitsgruppe, eine verbesserte Studienordnung für Hebammen und eine Petition des NALA-Frauenvereins sollen im Kampf gegen die schädlichen Praktiken helfen.

Aktivisti*innen im Kampf gegen FGM - Bild: Wikimedia.org / Magnus Manske
Aktivisti*innen im Kampf gegen FGM - Bild: Wikimedia.org / Magnus Manske

zwd Berlin. Laut der von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) am 25. Juni präsentierten Studie mussten rund 68.000 der in Deutschland lebenden Frauen eine Genitalverstümmelung erleiden. Die meisten der von FGM betroffenen Frauen sind Migrant*innen aus Eritrea, Somalia und Indonesien, aus Ägypten sowie Nigeria. Der erhebliche Anstieg der Zahlen ist nach Angaben des BMFSFJ auf die verstärkte Zuwanderung von Mädchen und Frauen aus Herkunftsländern zurückzuführen, in denen FGM praktiziert wird.

Ebenso erschreckend hat gemäß der Erhebung das Risiko für in der Bundesrepublik lebende Minderjährige zugenommen, Opfer von FGM zu werden. Die Studie schätzt, dass zwischen rund 2.800 bis 14.900 Mädchen von Genitalverstümmelung bedroht sind. Gegenüber 2017 ist das eine Steigerung von bis zu 162 Prozent, je nachdem, ob man davon ausgeht, dass auch die zweite Migrantengeneration durch FGM gefährdet ist oder nicht. Die Untersuchung wurde nach einer Methode des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen erstellt.

Giffey: Genitalverstümmelung verletzt Menschenrechte

Bundesfamilienministerin Giffey prangerte anlässlich der Vorstellung der Studie die Genitalverstümmelung als „schwere Menschenrechtsverletzung und eine archaische Straftat“ an. Die Betroffenen würden dadurch in ihrem „Recht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung“ verletzt, betonte die Familienministerin. Frauen hätten lebenslang an den physischen wie psychischen Folgen der Eingriffe zu tragen. Das BMFSFJ habe sich zum Ziel gesetzt, FGM in der Bundesrepublik gänzlich zu beseitigen, Mädchen und Frauen wirksam vor der Verletzung zu schützen und Hilfe zu leisten, erklärte Giffey. In diesem Zusammenhang wertete die Familienministerin die im Januar in Kraft getretene Studienordnung für Hebammen als Erfolg. Erstmalig würden dort die Bedürfnisse von Frauen berücksichtigt, die FGM erduldet hätten. Nur indem Hebammen Kenntnisse über Genitalverstümmelung erlangen, könnten die Betroffenen angemessene Betreuung und Hilfe erfahren, hob Giffey hervor.

Frauenrechtsverein fordert Aktionspaket zur Aufklärung über FGM

Bei der Präsentation der Untersuchung nahm die Ministerin eine Petition der Frauenrechtsorganisation „NALA – Bildung statt Beschneidung“ aus den Händen der Vorsitzenden Fadumo Korn entgegen. In dem Aufruf macht der Verein auf das Problem und die schlimmen, häufig tödlichen Auswirkungen der FGM aufmerksam und fordert ein Aktionspaket für eine verbesserte Aufklärung über FGM. Es soll Maßnahmen zu Lehrplänen in Studium und Ausbildung von Gesundheits- und Sozialberufen, verpflichtende Weiterbildungen u.a. für Frauenärzt*innen und Hebammen sowie Informationsblätter für Einreisende aus betroffenen Staaten umfassen. Bisher haben über 125.800 Personen die Petition unterschrieben. Frauenministerin Giffey unterstützt den Kampf des NALA-Vereins gegen FGM. Nach Angaben von NALA werden weltweit jeden Tag Zehntausende junger Mädchen beschnitten, Tausende müssen sogar an Folgen der meist ohne Narkose und jegliche andere medizinische Vorsorge durchgeführten FGM grausam sterben.

Arbeitsgruppe diskutiert über Schutzbrief zu FGM

Eine vom BMFSFJ geleitete Arbeitsgruppe (AG), an der sechs Bundesressorts, die Länder, die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, die Bundesärztekammer, das Bundesflüchtlingsamt sowie die Dachorganisation von gegen FGM engagierten NGOs beteiligt sind, setzt sich laut Giffey für Aufklärung und Prävention zum Überwinden von Genitalverstümmelung ein. Die AG diskutiert nach Aussagen der Ministerin zurzeit über einen Schutzbrief gegen FGM. Familien sollen dadurch über in Deutschland drohende strafrechtliche Konsequenzen bis hin zu Gefängnisstrafen informiert werden, falls sie während Reisen in ihre Heimatländer Genitalverstümmelung an Mädchen oder Frauen durchführen. Betroffene ebenso wie Angehörige, Freunde oder Fachleute können sich darüber hinaus über das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ zu FGM, Schutz und Vorsorge beraten lassen.

Weltweit über 200 Millionen Frauen und Mädchen betroffen

Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemäß leben weltweit über 200 Millionen Frauen und Mädchen mit Genitalverstümmelung. Sie stammen überwiegend aus 30 Ländern in Afrika, dem Mittleren Osten und Asien, die meisten von ihnen werden in Kindheit oder Jugendalter (bis 16 Jahre) verstümmelt. Zu den unmittelbaren Folgen von FGM gehören der WHO zufolge starke Schmerzen, Infektionen, Verletzungen, Schock und Tod, längerfristig kann Genitalverstümmelung zu Menstruationsproblemen, sexuellen Störungen, Komplikationen beim Gebären bis hin zu Totgeburten, erforderlichen chirurgischen Eingriffen, Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) führen.

Schon im Jahr 2008 stimmte die Weltgesundheitsversammlung für eine Resolution (WHA 61.16) zur Beseitigung von FGM und unterstrich dabei die Bedeutung gemeinsamen Handelns auf allen Ebenen von Gesundheit, Bildung, Frauenangelegenheiten, Recht und Finanzen. Die wichtigsten Anstrengungen der WHO zum Überwinden von FGM umfassen das Entwickeln und Umsetzen von Leitlinien, Training und Maßnahmen im Gesundheitssektor zu ärztlicher Versorgung und Beratung von Opfern. Außerdem erforscht die WHO Ursachen, Auswirkungen und Kosten der Genitalverstümmelung, verbreitet Publikationen und stellt Hilfsmittel für politische Entscheidungsträger*innen bereit, um FGM weltweit, regional wie lokal zu bekämpfen.

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