zwd-INTERVIEW: FRAUKE HEILIGENSTADT (SPD) : „Mehr Zeit für nachhaltige Bildung in Kitas und Schulen ist mein Programm“

10. Oktober 2017 // Dr. Dagmar Schlapeit-Beck

Kurz vor der Landtagswahl am 15. Oktober sprach zwd-Chefredakteurin Dr. Dagmar Schlapeit-Beck mit der niedersächsischen Kultusministerin über die Ausweitung der Betreuungszeiten, Lehrmittelfreiheit und das Erstarken der AfD.

Bild: zwd
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zwd-POLITIKMAGAZIN: Frau Ministerin, was waren Ihre wichtigsten bildungspolitischen Erfolge in der zurückliegenden Legislaturperiode?

Kultusministerin Frau Heiligenstadt (SPD): Vorrangig haben wir die Ganztagsschulen ausgebaut. Wir haben jetzt 1.800 Ganztagsschulen, das sind rund 70 Prozent aller Schulen in Niedersachsen. Über 50 Prozent aller Schülerinnen und Schüler besuchen in Niedersachsen jetzt eine Ganztagsschule. Die Ganztagsschulen sind nicht nur offen, sondern auch teilgebunden und gebunden. Darin sehe ich auch eine qualitative Stärkung des Bildungsangebots.

Wir haben in Niedersachsen als erstes Bundesland das Turbo-Abitur abgeschafft. Beides, die Ganztagsschulen und G9, gehören zu unserem Programm: Mehr Zeit für nachhaltige Bildung. Als weiteren wichtigen Schritt möchte ich die Einführung der Schulsozialarbeit als Landesaufgabe nennen, mittlerweile haben wir 1.000 Schulen mit schulischer Sozialarbeit versorgt.

In der frühkindlichen Bildung haben wir die 3. Kraft in den Krippen eingeführt, das hat zu einer erheblichen Qualitätsverbesserung in den Einrichtungen geführt, weil den Erziehern und Erzieherinnen jetzt wesentlich mehr Zeit für das einzelne Kind bleibt. Zudem haben wir einen deutlichen Ausbau der Betreuungszeiten vorgenommen. Auch dort gibt es den Trend zum Ganztag. Beim Krippenausbau haben wir aufgeholt, aber wir müssen hier weiter am Ball blieben. Wir standen ganz unten und hatten die rote Laterne, jetzt liegt Niedersachsen bei 30 Prozent. 2006 gab es erst rund 10.000 Krippenplätze, 2017 bereits 64.000 Plätze in Niedersachsen durch die enormen Anstrengungen der Kommunen und des Landes.

Das niedersächsische Kindertagesstättengesetz gilt als restriktiv im Hinblick auf die Vorgaben zu den Betreuungszeiten von Kindern. Dabei wird die Lebenswirklichkeit in vielen Frauenberufen, wie etwa der Schichtbetrieb in der Pflege, hinter einem vermeintlichen Kindeswohl ausgeblendet. Haben Sie die Absicht, hieran etwas zu ändern?

Wir haben in Niedersachsen jetzt eine deutliche Ausweitung der Betreuungszeiten hinbekommen, gegenüber der engen Begrenzung von Halbtagsplätzen von 8 Uhr bis 12 Uhr bisher. Der Rechtsanspruch von vier Stunden steht auch noch immer im Kita-Gesetz, wir leisten aber Finanzhilfe des Landes im vollen Umfang nach der tatsächlichen Betreuungszeit. Wir müssen aber das Kindertagesstättengesetz anpassen, um genau solche Fragen zu klären: Wie ist das mit den Betreuungszeiten, die außerhalb der Kernbetreuung von 7 bis 18 Uhr liegen und wie lange ist dann die Höchstdauer der Betreuung? Wir müssen auch die Inklusion regeln in den Kitas und den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Und wir wollen auch die Kindergartengebührenfreiheit weiterführen. Eingestiegen sind wir ja schon, das 3. Kita-Jahr ist bereits gebührenfrei. Ich bin auch der Auffassung, dass wir die Qualitätsverbesserung in den Krippen auch auf den Kindergarten ausdehnen müssen. Das bedeutet, wir brauchen auch die 3. Kraft in den Kindergartengruppen mit bis zu 25 Kindern. Das würde aber alleine eine halbe Milliarde Euro pro Jahr erfordern.

Welche Schwerpunkte hat das Land in der beruflichen Bildung gesetzt?

Wir haben als einziges Bundesland ein besonderes Angebot für die 18- bis 21-jährigen jugendlichen Flüchtlinge bereitgestellt, nämlich sog. „Sprint“ und „Sprint-Dual“ Klassen, die einer Berufsausbildung vorgeschaltet sind. In den Sprint-Klassen wird der deutsche Spracherwerb gefördert und die Berufsorientierung vermittelt, auch durch Praxistage im Betrieb. Dort hat häufig ein Klebeeffekt eingesetzt. So haben jetzt 2.100 eine duale Berufsausbildung begonnen. Andere Länder haben sich häufig auf den Standpunkt gestellt, dass sie für die über 18-jährigen jugendlichen Flüchtlinge kein schulisches Angebot vorhalten müssen, sondern diese Aufgabe Sache der Bundesagentur für Arbeit sei.

Sie haben in Ihrer Amtszeit erhebliche schulpolitische Kontroversen durchstehen müssen. Es fing an mit Ihrem Vorschlag, die Unterrichtsverpflichtung von Gymnasiallehrern anzuheben.

Dieser Vorschlag war rückblickend betrachtet nicht gut und würde auch nicht wieder von mir kommen. Es ist dann vom Oberverwaltungsgericht entschieden worden, dass eine Änderung der Arbeitszeitverordnung von Lehrern nur dann vorgenommen werden kann, wenn wir ein entsprechendes Verfahren vorgeschaltet haben, mit dem wir belegen können, inwieweit die Unterrichtsverpflichtung der Lehrenden nach unten oder oben korrigiert werden muss. Dieses Verfahren gab es bisher nicht in Niedersachsen. Wir haben jetzt aufgrund dieses OVG Urteils ein Expertengremium eingesetzt, in dem wir mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Schulleitern und Schulleiterinnen und anderen objektive Kriterien erarbeiten, wie die Lehrerarbeitszeit bemessen werden kann. Die Göttinger Studie von der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften Dr. Frank Mußmann ist eine der Grundlagen. Wie kommt man zu einer solchen objektiven Bemessung, unterscheidet man nach Fächern, nach Schulformen oder nach Schulstufen? Wir haben es mit einer komplexen Sachlage zu tun. Umso mehr freue ich mich auf die Erkenntnisse.

In diesem Sommer gab es doch den großen Streit um den Einsatz von Gymnasiallehrern an den niedersächsischen Grundschulen? Warum war das notwendig?

Wir hatten dazu schon im Sommer 2016 einen 17-Punkte-Aktionsplan aufgelegt, der verschiedene Maßnahmen enthielt, etwa die Aktivierung von Pensionären, Teilzeitkräfte bitten, Stunden aufzustocken, Referendare einzusetzen sowie vorzeitige Einstellungen. Alles wirksame und berechtigte Maßnahmen mit Blick auf den akuten Lehrermangel. Und einer von 17 Punkten ist das Programm: Schulen helfen Schulen. Damals schon haben wir gesagt: Wenn ein Gymnasium 20 Stunden an eine andere Schule auch anderer Schulform abgibt, dann bekommt das Gymnasium eine neue Stelle. In diesem Jahr hatten wir alleine 8.200 Abordnungen und davon lediglich 421 Abordnungen von Gymnasien an Grundschulen, das sind 2.100 Stunden, also nur 72 Vollzeiteinheiten, die zu diesem Aufregerthema führten. Das zeigt die begrenzte Dimension des Themas. Zugegebenermaßen ist das Verfahren, das die Landesschulbehörde dabei gewählt hat und die Kommunikation recht kurz vor oder in den Sommerferien, nicht glücklich gewesen. Wir hatten schon im März den Einstellungserlass dazu herausgegeben und die Landesschulbehörde informiert. Die Umsetzung war jedoch zeitlich zu eng.

Da kamen viele Faktoren zusammen, u.a. das frühe Schuljahr und die Umstellung der Grundschullehrerausbildung (GHR 300). Die angehenden Grundschullehrkräfte sind jetzt ein Jahr länger an den Unis. Ich hatte 480 Stellen an Grundschulen ausgeschrieben und konnte jedoch nur 320 Stellen besetzen, im nächsten Jahr werden wieder 1.000 Bewerber erwartet. Dann werden wir wieder die 100 Prozent Unterrichtsversorgung erreichen können.

Was kann das Land gegen den Investitionsstau an Schulen unternehmen, obwohl ja die Kommunen die Schulträger sind?

Wir geben jetzt Landesgeld! Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir den Kommunen 30 Millionen Euro für Inklusionsfolgekosten bereitstellen, das bedeutet 20 Millionen Euro für Barrierefreiheit in Schulen pro Jahr und der Betrag wird auch baupreismäßig pro Jahr angepasst. Daneben fördern wir aus Bundesmitteln 285 Millionen Euro für Schulbauten und Schulsanierungen, energetische Sanierungen. Das Gesetz ist gerade in die Anhörung gegangen. Es kann nur leider nicht mehr in dieser Legislaturperiode beschlossen werden.

Und das wird nicht reichen. Die fünf Milliarden Euro im so genannten Digitalpakt von Frau Bundesbildungsministerin Wanka, die sie angekündigt, aber nicht einen Cent davon im Haushalt hinterlegt hat, brauchen wir dringend für die digitale Ausstattung der Schulen.

Welche bildungspolitischen Ziele wollen Sie in Zukunft verfolgen?

Wir wollen die Chancengleichheit ausbauen. Zur Chancengleichheit gehört, mehr Zeit zum Lernen durch mehr Ganztag. Gerade Kinder aus Familien, die kein breites Sport- oder musisches Angebot finanzieren können, sollen durch Ganztagsangebote gefördert werden. Wir wollen auch die Schülerbeförderungskosten für die Sekundarstufe II übernehmen, das ist für viele Schüler und Schülerinnen im ländlichen Raum ein Problem. Gleichzeitig wollen wir die Ausbildung in den sozialen und Gesundheitsberufen, den nichtärztlichen Heilberufen wie Altenpflege, oder Erzieher*innen gebührenfrei stellen. Damit begegnen wir auch dem großen Fachkräftebedarf.

Thema Inklusion: Wollen Sie die Förderschulen abschaffen?

Wir schaffen langsam auslaufend die Förderschule Lernen ab. Es wird jetzt Jahrgang für Jahrgang dort nicht mehr eingeschult. Alle anderen Förderschulen GE (Geistige Entwicklung), KM (Körperlich motorische Entwicklung) und E und S (Emotionale und Soziale Entwicklung) und die Förderschulen für Schülerinnen und Schüler mit Sinnesbeeinträchtigungen sind nach dem Niedersächsischen Schulgesetz weiter vorgesehen.

Da gilt der Elternwille. Bei der Förderschule Lernen wissen wir, dass es Bundesländer gibt, die diese Förderschule gar nicht haben und dass diese zu einer sozialen Selektion führte. Diese Schüler gehören in das reguläre Schulsystem und benötigen eine anregendere Umgebung für das Lernen. Es ist empirisch belegt, dass Kinder mit dem Unterstützungsbedarf Lernen an einer inklusiven Schule besser lernen, als an einer Förderschule. Inklusion heißt ja, ich fördere die Kinder mit Unterstützungsbedarf genauso wie die Kinder, die hochbegabt sind. Inklusion heißt, niemanden mehr ausgrenzen, sondern alle individuell zu fördern.

Inklusion ist nicht nur für die Kinder mit Behinderung, sondern auch für die Kinder ohne Behinderung. Inklusion ist ein Menschenrecht, dass man gemeinsam lebt und lernt und dadurch auch soziale Kompetenzen entwickelt, Rücksichtnahme, Solidarität, zu erkennen, dass jeder Mensch anders ist. Also auch aus dieser Perspektive finde ich Inklusion wichtig. Am Gymnasium etwa werden Kinder mit geistiger Behinderung zieldifferent unterrichtet. Lehrer beobachten, dass sich die Klassen sozialer entwickeln und sich die Persönlichkeit der Kinder mit Behinderung weiterentwickelt als an der Förderschule. Wir müssen mehr positive Beispiele der Inklusion herausstellen. Wir gehen sehr konsequent, aber behutsam vor. Wir schließen keine Förderschulen, sondern lassen die Förderschulen langsam auslaufen. Wir stellen jetzt dazu 650 pädagogische Mitarbeiter*innen als Assistenten im Rahmen der Inklusion an den Schulen ein. Diese Einstellungen stehen im Zusammenhang mit dem Ziel von multiprofessionellen Teams an den Schulen.

Wie sieht die Zukunft der Gesamtschulen in Niedersachsen aus? Bedeutet nicht das Nebeneinander von Gesamtschulen und Gymnasien eine Benachteiligung der Gesamtschulen?

Gesamtschulen sind jetzt gleichberechtigt und können ersetzende Schulform sein. Bei Bedarf können weitere Gesamtschulen entstehen und die vorhandenen können sich erweitern. Es können sich auch andere Schulen in Gesamtschulen umwandeln, wenn der Schulträger und die Eltern zustimmen.

Welchen Stellenwert hat für Sie als Kultusministerin die Bekämpfung des Rechtspopulismus?

Ich bin sehr froh, dass wir die Landeszentrale für politische Bildung wieder eingerichtet haben, die die politische Bildung in den Schulen befördert. Auch als Vorsitzende des Stiftungsrates niedersächsischer Gedenkstätten möchte ich zu einer besseren Verankerung der politischen Bildung in den Schulen beitragen. Daneben haben wir zusätzliche Maßnahmen wie den Schülerfriedenspreis oder Schülerprojekte, die sich gegen eine Gesellschaft wenden, die ausgrenzt oder demokratiefeindlich ist.

Was unternehmen Sie als Ministerin gegen die fehlende Lehrmittelfreiheit? Aus unserer Sicht sind Kinder aus einkommensschwachen Familien schulisch benachteiligt.

Wir haben das Thema in unserem Wahlprogramm hinterlegt. Wir wollen prüfen, ob wir auch dieses Ziel finanziell umsetzen können. Dadurch, dass wir uns in der Bildung eine ganze Menge vorgenommen haben - wie etwa die Kita-Gebührenfreiheit oder kostenlose Schülerbeförderung - weiß ich nicht, wie schnell wir die Lehrmittelfreiheit einführen können. Bei mir steht das Thema jedenfalls auf der Agenda.

Und wie fördern wir Kinder, bei denen es zu Hause keinen Internet-Anschluss gibt?

Dazu müssen wir natürlich die nötige Infrastruktur schaffen.

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