zwd-GESPRÄCH: DR. ERNST DIETER ROSSMANN : „2019 kann ein herausragendes und sehr ertragreiches Jahr für die Bildungspolitik werden"

8. Februar 2019 // Holger H. Lührig und Hannes Reinhardt

Was steht im Jahr 2019 bildungspolitisch an? Das zwd-POLITIKMAGAZIN hat den Vorsitzenden des Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung, Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD), zu einem exklusiven Interview getroffen.

Bild: (c) Ernst Dieter Rossmann
Bild: (c) Ernst Dieter Rossmann

zwd-POLITIKMAGAZIN: 2018 war kein gutes Jahr für die Bildung, denn die Grundgesetzänderung, mit der das Kooperationsverbot gelockert werden sollte, ist in den Vermittlungsausschuss gegangen. Der Digitalpakt liegt auf Eis. Wie konnte das passieren, warum wurden die Haushälter nicht auf die Folgen ihrer Aktion aufmerksam gemacht, so dass fast der ganze Bundestag düpiert wurde?

Dr. Ernst Dieter Rossmann: Shit happens. Die SPD hat hier ja über lange Zeit wirklich Kurs gehalten. Wir haben als SPD im Koalitionsvertrag durchgesetzt, worauf sich die auf dem Jamaika-Balkon nicht einigen konnten. Diese Vereinbarung ist dann auch als Regierungsentwurf in den Bundestag eingebracht worden. In langwierigen Verhandlungen mit FDP und Grünen haben wir uns dann im Bundestag auf einen noch weiter verbesserten Vorschlag für die Umsetzung des Digitalpaktes einigen können, der dann auch 2/ 3 mehrheitsfähig war.

Dass sich das Ganze jetzt leider blockiert hat, ist zwei Problemen geschuldet. Das erste Problem ist, dass der grüne Extremföderalist und der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann in seiner Agitation nie nachgelassen hat und dann mit dem CSU-Ministerpräsidenten Söder nach der Wahl in Bayern und dem neuen CSU-Partner von den Freien Wählern einen Verbündeten gefunden hat, dem sich die CDU-Ministerpräsidenten von Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen dann leider angeschlossen haben. Damit waren die zwei Drittel im Bundesrat futsch, weil sich hier eine grundsätzliche Gegenfront aufgebaut hat.

Und das andere Problem war die Last-Minute-Änderung im Haushaltsausschuss des Bundestages, der eine mindestens 50/50-Aufteilung bei den Finanzhilfen von Bund und Ländern zu Lasten der Länder in das Grundgesetz hineinschreiben wollte – wohlweislich nicht wegen des Digitalpaktes, sondern eher wegen der Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau und auch hier wiederum aus grundsätzlichen Begründungen des Rechnungshofes und der Haushälter aller Fraktionen. Das ist dann als Beschlussvorlage im Bundestag in der Not der letzten Frist so verabschiedet worden, obwohl es überhaupt nicht breit in den Fraktionen diskutierbar gewesen ist. Und obwohl die Verhandlungen zur Grundgesetzänderung ja wohl auf höchster Ebene der Fraktionen und Parteien geführt worden sind und eigentlich eine Bund – Länder – Koordinierung und Einigung innerhalb der Parteien unterstellt werden konnte. Da muss aber etwas gehakt haben und aus dem Ruder gelaufen sein, denn offensichtlich hat es hier keine ausreichende Vorklärung von den Bundesspitzen zu den Ländern gegeben. Da haben sich die führenden Verhandler in dem Zwang zur doppelten 2/3 Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat leider im guten Glauben oder in naiver Hoffnung oder in taktischer Raffinesse und bösartiger Hintertriebenheit ziemlich verheddert. Wie gesagt: Shit happens.

Nun müssen alle zur Besinnung kommen und das verhedderte Knäuel wieder aufdröseln. Meine Meinung ist dazu sehr klar: Das Grundgesetz muss im Artikel 104 geändert werden, so dass der Bund alle Schulen mit Finanzhilfen bei den Investitionen unterstützen kann, wenn die Länder dem in einer Verwaltungsvereinbarung zustimmen. Artikel 91 c ist ungeeignet, weil dieser nach der Verfassungsbeurteilung der zuständigen Bundesressorts für den Digitalpakt nicht geeignet ist. Eine Finanzaufteilung zwischen Bund und Ländern bei den Finanzhilfen gehört nicht in das Grundgesetz, sondern muss von Fall zu Fall ausgehandelt werden nach Problemlagen, nach dem Charakter der Finanzhilfen und nach der Finanzstärke der Länder und ihren Notlagen. Weshalb muss dasunbedingt im Grundgesetz festgelegt werden? Also müssen Ministerpräsidenten und Haushälter des Bundes in sich gehen und sich zurück besinnen auf den ursprünglichen Vorschlag von CDU/CSU und SPD und FDP und Grüne im Bundestag, der dort auch die Unterstützung der Linken gefunden hat und nur die Ablehnung der AfD. Das sagt doch alles und sollte dann auch zu einem erneuten sachorientierten Engagement der Pateivorsitzenden führen, damit der Bildungspolitik in Deutschland diese Blamage nach bald drei langen Jahren erspart bleibt. Die Schulen warten auf die 5 Milliarden und die Kommunen und Länder auch. Also: Scheuklappen weg und vernünftig gehandelt.

Perspektive 2019: Welche Erwartungen an das neue Jahr haben Sie?

Das Jahr 2019 kann ein herausragendes und sehr ertragreiches Jahr für die Bildungspolitik im Bund und auch im Zusammenwirken mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialpartnern werden. Eine Einigung zum Digitalpakt und zu einer tragfähigen Grundgesetzänderung pro Bildungskooperation von Bund und Ländern muss natürlich den richtigen Startschuss geben. Die Agenda 2019 hat dann viel Potential für nachhaltige Programme und Gesetze, für die wir als SPD lange gekämpft haben,aber wo auch viel Herzblut von anderen Parteien und ihren Bildungs- und Wissenschaftspolitikern drin steckt.

Ich denke da z.B. an den Hochschulpakt als Teil einer gesicherten Grundfinanzierung, den Pakt für die exzellente Lehre und anderes zur Stärkung der Hochschulen und der Wissenschaft. Mit dem BAföG für die Schüler und die Studierenden und dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (Meister – BAföG) für die berufliche Weiterbildung haben wir wichtige Leistungsgesetze und ein Finanzvolumen von über 2,3 Milliarden Euro zu gestalten. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes steht an und damit die erstmalige Festlegung einer Mindestausbildungsvergütung. Das sind drei zentrale Reformgesetze im Jahr 2019.

Aber das ist noch nicht alles: Wir können und müssen gestalten im Schulbereich von derder Ganztagsbetreuung in den Grundschulen über ein neues Programm für Schulen in schwierigen sozialen Lagen bis zur Lehrerausbildung, bei der Berufsbildung von einem Sonderprogramm zur Exzellenz in der beruflichen Ausbildung bis hin zur Stärkung von Grundbildung und beruflicher Weiterbildung, bei der Wissenschaft vonder Gestaltung von open science bis zum Ausbau der Wissenschaftskommunikation, bei der Forschung von der kritischen Aufarbeitung der Chancen und Risiken von Big Data und der Künstlichen Intelligenz über die Ausgestaltung der Agentur für Sprunginnovationen bis zur Profilierung der verschiedenen Forschungsbereiche wie z.B. der Gesundheitsforschung, der Forschung für mehr Nachhaltigkeit und den Geistes- und Sozialwissenschaften. Da ist also wirklich viel Musik drin im Jahr 2019. Wenn wir es gut anfangen und gut durchziehen, kann das Jahr 2019 einen echten Meilenstein für gutes Regieren pro Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit, pro Wissenschaftsqualität und Forschungsleistung setzen. So viele Chancen hatten wir lange nicht. Das dürfen wir jetzt nicht verspielen.

Welche Schwerpunkte stehen im Ausschuss an?

Bei 21 Sitzungswochen und damit wegen der Haushaltswochen nur 19 festen Sitzungstagen für den Ausschuss sehe ich schon Sondersitzungen für die Anhörungen zu den eben angesprochenen drei großen Gesetzesvorhaben und auch anderen Groß - Themen auf uns zu kommen. Denn da gibt es als Schwerpunkte die Behandlung der Hochschulpakte, die Details des Digitalpakts für die Schulen, den neuen Nationalen Bildungsbericht und auch die europäischen und internationalen Bezügen von Bildungs- , Wissenschafts- und Forschungspolitik. Der Brexit wird ja wohl leider in seinen Dimensionen von Bildung, Wissenschaft und Forschung aufzuarbeiten sein, d.h. in Dimensionen, die in ihrer Bedeutung noch viel zu sehr unterschätzt werden. Wir hoffen auf eine neue Dynamik für Bildung-, Wissenschaft und Forschung von der Europäischen Kommission nach den Europa- Wahlen, die wir natürlich im Ausschuss national begleiten werden. Und ich persönlich hoffe auch, dass es einen tragfähigen Vorschlag aus dem Bildungsministerium zum neuen Beratungsinstrument des Nationalen Bildungsrates gibt. Es liegt also eine richtig große Menge Holz vor der Tür!

Dabei ist es um die Pläne für einen Nationalen Bildungsrat still geworden. Wann ist mit dem Start dieses Gremiums zu rechnen?

Die Stille tut dieser bedeutenden Initiative ganz bestimmt nicht gut. Wir haben da einen herausragenden Punkt im Koalitionsvertrag zwischen CDU/ CSU und SPD gemeinsam vereinbart. Das muss jetzt auch halten. Die Bildungsministerin sollte hierzu im ersten Halbjahr 2019 im engen Schulterschluss mit den Bildungspolitikern aus den Bundestagsfraktionen und den Ländern einen gut abgestimmten Vorschlag in die Diskussion bringen, der dann auch bei den Sozialpartner, den Kommunen und der Wissenschaft auf Zustimmung stößt. Die SPD – Arbeitsgruppe Bildung im Bundestag hat hierzu schon klare Eckpunkte vorgelegt. Weiteres Zuwarten oder gar Aussitzen hilft der Sache nicht. Bis ein solches Gremium dann arbeitsfähig ist, sind wir im Jahr 2020 und für erste wichtige Ergebnisse braucht es ja auch eine gewisse Zeit der gemeinsamen Arbeit. Ich sehe diesen Nationalen Bildungsrat auch deshalb als große Chance, weil damit das missing link geschlossen wird zwischen der Bund – Länder – Kooperation nach Grundgesetz, dem Nationalen Bildungsbericht als evidenzgestütztem Faktenwerk und der Bildungsforschung. UnabhängigeExpertise aus Wissenschaft und Gesellschaft und gute gemeinsame Empfehlungen gehörenals vierter Baustein für eine Bildungspolitik mit Konsens, Perspektive und Langfristigkeit noch dazu. Über den Bildungsrat sollte es auch zu den Bildungsforschungsprogrammen eine Rückkopplung geben genauso wie er auchden Nationalen Bildungsbericht mit kommentieren und damit eine Orientierung geben in einem Zweijahresrhythmus. Es kommt dann die Frage dazu: Kann sich der Nationale Bildungsrat auch selbst beauftragen mit Fragestellungen oder darf er sich nur beauftragen lassen? Ich persönlich bin sehr dafür, dass er auch ein Initiativrecht Recht hat auf eigene Aufgabenstellungen.

Noch drei weitere grundsätzliche Bemerkungen hierzu: Aufgewertet werden muss im Nationalen Bildungsrat die kommunale Ebene, die bei Bund-Länder-Bildungsverhandlungen bisher nicht gleichberechtigt einbezogen war, die aber im gesamtstaatlichen Aufbau stark engagiert ist, nicht zuletzt auch bei den Finanzierungsfragen, denn die Kommunen geben deutlich mehr Geld für Bildung aus als der Bund. Die Kommunen sind im Bereich der frühkindlichen Bildung, der schulischen Bildung, auch was Schulgebäude, Schulausstattung angeht, im hohen Maße gefordert. Konkret wird dies ja in der Jahrzehntsaufgabe der Digitalisierung, bei der ja nicht umsonst der Bund den Kommunen über die Länder fünf Milliarden Euro zusätzlich als Finanzhilfe geben will.

Eine nächste Ebene ist, dass es auch einen europäischen Sachverstand gibt, den man mit einbeziehen sollte. Denn anders als zu Zeiten des ersten Bildungsrates ist Europa jetzt in der Bildungsentwicklung durchaus über Erasmus hinaus. Macron ist, was europäische Hochschulen und Netzwerke angeht, was einen europäischen Qualifikationsrahmen und berufliche Bildung angeht, eine Größe in der Politik, die wir einbeziehen müssen und können in eine Gesamtbildungsbegutachtung.

Nach allem, was man hört, gibt es gegenwärtig vor allen Dingen Schwierigkeiten bei den Stimmverhältnissen zwischen Bund und Ländern. Ich finde, man sollte dort zu einem Modell kommen, bei dem nicht eine politische Ebene allein über eine Mehrheit verfügen kann, sondernder Bund die Kommunen oder die Länder die Kommunen oder andere jeweils für sich mit gewinnen müssen, um zu einer Mehrheitsfähigkeit zu kommen. Ein Gremium, in dem eine Bank allein bestimmen kann, ist nicht so auf einen kooperativen Konsensus und Austausch ausgelegt wie eine Konstruktion, bei der immer eine Mehrheit gefunden werden muss. Das ist noch nicht verbindlich festgelegt, aber ich glaube, dies wird zu einer Lösung gebracht werden müssen.

Das wird umso leichter passieren, je mehr Sicherheit für die beteiligten Länder darin besteht, dass ihre ihnen gesetzlich zustehende Souveränität in der bildungspolitischen Exekutivpolitik nicht beschnitten wird. Es wird weiterhin so sein, dass die Länder und Parlamente und die Landesregierungen die Schulgesetze und die Hochschulgesetze machen und der Bund das Berufsbildungsgesetz und das BAföG und andere Leistungsgesetze. Wir sollten uns davor hüten, den Bildungsrat mit exekutiven Funktionen auszustatten. Wenn die Sicherheit da ist, dass der Bund nicht die Ambition hat dort ein exekutives Organ über die Bildungskompetenz der Länder hinweg zu schaffen, wird es auch möglich sein, zu einer guten einvernehmlichen Lösung zu kommen für ein zusätzliches innovatives Beratungsgremium für eine die in Zukunft immer komplexer werdenden Bildungsbiographien.

Welche Chancen hat der Bildungsrat, um Anstoß in Richtung Bundesweiterbildungsgesetz zu geben?

Wir haben eine Enquete-Kommission im Bundestag, die sich an erster Stelle mit der beruflichen Bildung in der digitalen Welt von morgen auseinandersetzen soll, aber dabei natürlich auch die berufliche Weiterbildung nicht aussparen darf, ganz im Gegenteil. Der Bildungsrat, der ja weder ein Nationaler Schulrat noch ein reiner Bundesbildungsrat ist, sondern eben der Nationale Bildungsrat, kann auch die andere Dimensionen der Weiterbildung von der allgemeinen über die musische bis hin zur sozialen und politischen Weiterbildung in den Blick nehmen. Er kann Vorschläge zur überfälligen Systematisierung der vorhandenen und zukünftigen Weiterbildungsgesetze machen. Wir brauchen auch neue Impulse bei der Alphabetisierung und der Grundbildung. Das weite Feld der Weiterbildung ist in Deutschland noch nicht wirklich ausgeleuchtet. Hier sehe ich eine wichtige, aber gewiss nicht die einzige Aufgabe für dieses Nationalen Bildungsrat.

Im Plenum fallen AfD-Abgeordnete immer wieder – vorsichtig ausgedrückt – unangenehm auf. Wie ist die Zusammenarbeit mit ihnen im Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung?

Wir müssen die politisch-kulturelle Auseinandersetzung auf- und annehmen, bei der wir nicht durch Weggucken gewinnen können, sondern nur durch klare Abgrenzung und Zurückweisung. Diese Auseinandersetzung müssen wir aus tiefer Überzeugung von unserem Menschenbild, von unserem Verständnis von Chancengleichheit und Gerechtigkeit und von unserem humanistischen Bildungsverständnis her führen. Trotzdem ist das Andere auch wichtig, dass die AfD, dass der rechte Nationalismus und Extremismus, nicht der archimedische Punkt der deutschen und internationalen Politik ist und werden darf. Es muss darum gehen, sich nicht von der AfD eine Agenda aufdrücken zu lassen‚ sondern seine eigenen positiven politischen Vorstellungen nach vorne zu stellen, dafür zu werben und dafür Bündnisse zu finden.

Zwei Bemerkungen zur Analyse und zur Bewertung will ich mir hier dennoch gestatten:

Erstens: Gewiss nicht alle, aber viel zu große Teile der AfD im Bundestag, und hier speziell im öffentlichkeitswirksamen Plenum, pflegen eine schlimme Mischung aus alt-konservativem Elitendenken, aus Chauvinismus und leider, ja, auch aus Rassismus und einem Überlegenheitsgefühl, das eben nicht im Respekt vor anderen Nationen, Religionen und Kulturen, sondern in der Überhebung und Überheblichkeit seine vermeintliche „deutsche AfD – Identität“ findet. Was die Höckes und die Gaulands versuchen, ist eine hintertriebene Art der Doppelbödigkeit. Natürlich verurteilt z.B. der AfD-Vorsitzende Gauland den Nationalsozialismus, aber genauso gezielt verniedlicht er auch den Nationalsozialismus, indem er ihn als „Vogelschiss“ bezeichnet.

Zweitens: Tatsächlich findet sich Elemente aus der Persönlichkeitsanalyse des autoritären Charakters, wenn wir an die sozialpsychologische Faschismusanalyse von Erich Fromm bis zu Theodor Adorno denken, auch in den Angststrukturen, die bei AfD-Politikern durchdringen, die sie mit entsprechenden markigen Worten unterdrücken, mit denen sie aber auch gleichzeitig gezielt spielen, um Verhetzung und einen Kulturwandel im Sinne einer Angstgesellschaft in die Bevölkerung hineinzubringen. Der autoritäre Charakter hat mit der AfD eine Wiederauferstehung erlebt. Das lässt sich auch bei den Bundestagsdebatten sehr klar beobachten.Da gibt es dann bei der AfD immer wieder direkt den Weg aus einer Sachdebatte hin zu den Angstphobien, die die AfD auch über die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in die Welt setzen will, gegenüber Migration, gegenüber Gender, gegenüber Klimawandel, gegenüber Europa. Da reagieren sie zwanghaft.

Konkret will ich aber festhalten: Für Kollegenschelte in Bezug auf das konkrete Mitwirken im Ausschuss bin ich als Ausschussvorsitzender nicht zuständig und auch in der Ausschussleitung nicht zu haben, wohl aber für eine geordnete auf das Thema bezogene Auseinandersetzung. Diese gelingt nach meiner Einschätzung im Ausschuss ziemlich gut, bei aller Gegensätzlichkeit und auch sehr schrillen und fragwürdigen Tönen, die dort in dem einen oder anderen Beitrag von AfD-Seite angeschlagen werden. Die Fraktionen wahren hier wechselseitig die Distanz, die in der Sache wirklich gegeben ist und sie halten dabei bisher auch wechselseitig die notwendigen Umgangsformen ein. Das muss auch die Basis für die nächsten Jahre in der Ausschussarbeit sein.

In 2018 jährten sich die Gründungen der ersten Gesamtschulen zum 50. Mal. Wie schätzen Sie die Entwicklung der Gesamtschulen in Deutschland ein?

Die Reformbewegung für die Gesamtschulen war ein entscheidender Motor für wichtige Verbesserungen im deutschen Schulsystem. Für weniger Auslese, mehr Offenheit der Bildungswege, längeres gemeinsames Lernen, Ganztagsschule und Inklusion. Sie hat Wege bereitet auch für die innere Schulreform und eine neue Didaktik und Methodik bis hin in die klassischen Gymnasien. Dass wir in vielen Bundesländern auf dem Weg hin zu einem Zwei – Wege – Modell sind, ist auch das Verdienst der Gesamtschulen. Auch für den ländlichen Raum hat die Idee der Gesamtschulen neue Perspektiven in der schulischen Versorgung aufgezeigt. Ich sehe die Idee des längeren gemeinsamen Lernens gerade unter dem Gesichtspunkt von Integration und Inklusion noch lange nicht am Ende. Im Gegenteil: Schauen wir uns die langen Linien in der Bildungspolitik und der Schulgestaltung an, sind das pädagogische Konzept der Gesamtschule und auch der strukturelle Ansatz sehr erfolgreich.

Ihre Fraktion setzt sich für eine Stärkung der Fachhochschulen ein. Die in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz beschlossenen Programme wurden allerdings finanziell nur minimal aufgestockt. Was kann die SPD hier tun?

Ja, die SPD hätte sich deutlich mehr gewünscht. Aber minimal ist es nun auch nicht, was sich für die Fachhochschulen jetzt zusätzlich entwickelt. Wir haben eine Anhebung der Mittel für die Forschung an Fachhochschulen in der Programmförderung des Bundes. Das neue Programm Innovative Hochschule soll schwerpunktmäßig mit mindestens 50% Anteil die Fachhochschulen fördern. Auch für die Fachhochschulen soll es ein Nachwuchsförderprogramm geben, damit die Quantität und Qualität der Fachhochschulen auf dem Wege hin zu Hochschulen für Angewandte Wissenschaft gesichert und rechtzeitig ausgebaut werden kann. Entscheidend wird sein, dass die FHs/HAWs fair behandelt werden bei der Verstetigung der Mittel aus dem Hochschulpakt. Sie haben entscheidendes bei der Bewältigung der massiv angewachsenen Studierendenzahlen geleistet. Und das muss auch für die Zukunft zählen. Ich hoffe sehr, dass es auf mittlere Sicht nicht nur eine Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), eine neue Deutsche Lehrgemeinschaft (DLG), sondern auch eine Deutsche Transfergemeinschaft (DTG) geben wird. Das muss die Perspektive für die FHs/HAWS sein, und dafür braucht es dann auch deutlich größere Mittelzuwächse als wir sie bisher erreichen konnten. Deshalb mit Verlaub: „Minimal“, um die Behauptung aus der Frage aufzugreifen, ist das Gesamtprogramm schon jetzt nicht.

Wie schätzen Sie die Zukunft des Europäischen Hochschulraumes ein? Was ist wichtig, um die Entwicklung positiv fortzusetzen?

Nach Macrons großartiger Rede an der Sorbonne hätte da mehr passieren können und müssen. Wir brauchen den Europäischen Hochschulraum nicht nur als Raum von Bachelor und Master und einem intensiven Studierenden und Lehrendenaustausch, sondern wir brauchen auch mehr Hochschulen, die sich ausdrücklich als Europa-Universitäten begreifen, in der Vernetzung und inhaltlich von der Orientierung ihrer Lehre und Forschung her. Wir brauchen Europa-Professoren, die durch Erfahrungen von Lehre und Forschung in mehreren europäischen Ländern geprägt sind. Europa ist eine Zukunftsgemeinschaft für die junge Generation. Wo, wenn nicht in den Schulen, den Berufsbildungsstätten und vor allen Dingen auch den Hochschulen muss und kann ein neuer Spirit von gemeinsamer Freiheit und gemeinsamer Verantwortung gelegt werden? Nach dem Pathos das Konkrete: Für jeden Studierenden ein Europäisches Semester als Pflicht, Vervielfachung der Mittel für Erasmus, in jedem Land eine ausgewiesene Europa-Hochschule im Sinne Macrons als Teil eines europäischen Netzwerkes von allen Hochschulen, ein gezieltes Bund-Länder-Programm zur Profilierung von Europa-Hochschulen und Europaorientierung als Bonus-Kriterium im Hochschulpakt der Zukunft.

Familienministerin Giffey hat mit dem Gute-Kita-Gesetz und der Fachkräfteoffensive wichtige Projekte in diesem Bereich auf den Weg gebracht. Was ist Ihrer Einschätzung nach in der frühkindlichen Bildung noch die größte Baustelle?

Es geht um Qualität und Quantität und allgemeine Zugänglichkeit. Also geht es um den weiteren Ausbau von Platzkapazitäten in modernen kindgemäßen Räumlichkeiten; es geht um die noch bessere Vernetzung von Kita mit den Grundschulen. Ich persönlich bin für einen verpflichtenden Besuch in einer „Vorschul-Kita“-Gruppe ein Jahr vor der Schule für jedes Kind. Wir brauchen deutlich mehr und deutlich besser bezahlte Erzieherinnen und Erzieher. Die Einführung einer Ausbildungsvergütung wäre hier ein erster ganz wichtiger Schritt. Unsere Familienministerin macht hierzu echt gute Politik und gibt die richtigen Anstöße, sei es mit dem Gute-Kita-Gesetz oder auch mit ihrem 300-Millionen-Impuls für einen Einstieg in die Ausbildungsvergütung. Die dritte Baustelle sind die viel zu hohen Kita-Gebühren. Von Rheinland-Pfalz über Hamburg und Berlin bis Mecklenburg-Vorpommern geht die SPD hier den richtigen Weg. Es muss einen Rechtsanspruch auf gute Kita ohne Gebühren geben. Weil es also nicht nur eine große Baustelle, sondern mindestens drei davon gibt, muss die SPD-Linie von Franziska Giffey jede Unterstützung bekommen, auch aus bildungspolitischer Sicht. Gute frühkindliche Bildung bringt nun einmal nicht nur die größte ökonomische Rendite, sondern auch den größten persönlichen Lern- und Lebensgewinn und die größten Verbesserungen an Chancengleichheit.

Herr Dr. Rossmann, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte zwd-Chefredakteur Holger H. Lührig.

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