zwd-GESPRÄCH: DIE NEUE ASF-BUNDESVORSITZENDE MARIA NOICHL : „Mein Job ist nicht die Verteidigung des Koalitionsvertrages, sondern gesellschaftliche Debatten vorzubereiten”

8. Oktober 2018 // Holger H. Lührig und Sibille Heine

zwd Berlin. Die neugewählte Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) Maria Noichl sieht die Hauptaufgabe ihrer Organisation darin, Vordenkerin der Partei für das zu sein, was Frauen innerhalb der SPD erreichen wollen. Für das zwd-POLITIKMAGAZIN trafen zwd-Herausgeber Holger H. Lührig und Sibille Heine die neue Stimme der SPD-Frauen zum Gespräch in Berlin.

Bild: zwd
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zwd-POLITIKMAGAZIN: Frau Noichl, auf welcher politischen Ebene können aus Ihrer Erfahrung frauenpolitische Anliegen am besten vorangebracht werden – Kommune, Land, Bund oder Europa?

Maria Noichl: Das sind kommunizierende Röhren, man kann die Systeme nicht isoliert betrachten. Für Frauen hat Europa dann einen Mehrwert, wenn die Mitgliedstaaten sich austauschen und voneinander lernen, best pratices übernehmen und eine gemeinsame Vision von Gleichstellung entwickeln. Dazu gehört einerseits, dass man sich der eigenen Stärken bewusst ist, denn in manchen Bereichen ist Deutschland Vorreiter, wenn es um Frauenrechte geht. Es ist schön, wenn unsere sogenannten Standards Exportschlager werden, denn Deutschland sollte nicht nur Exportweltmeister bei Autos sein. Dazu gehört andererseits aber auch die Achtung, dass andere Länder auch gute Ideen haben. So müssen wir mit Demut sehen, dass auch wir noch Nachholbedarf haben und dass wir zum Beispiel von Schweden oder von Spanien lernen können. Gerade Spanien hat eine vorbildhafte Kampagne im Kampf gegen Häusliche Gewalt geführt – davon können wir lernen und besser werden.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung im Bereich der Prävention von Häuslicher Gewalt?

Es war ein Trauerspiel, dass Deutschland so lange gebraucht hat, um die Istanbul-Konvention zu ratifizieren. Wir wissen, dass das Thema in Deutschland häufig nach dem Motto diskutiert wird: „Gleichstellung ist toll, aber kosten darf sie nichts.“ Prävention gegen Gewalt kostet aber Geld. Leider wird heute von manchen ein Bild gezeichnet, als wäre Häusliche Gewalt ein Problem der Migranten. Dabei wissen wir ganz genau, dass Häusliche Gewalt auch vor 2015 ein großes Problem in Deutschland war. Häusliche Gewalt gibt es aber in jeder Bevölkerungsgruppe, bei arm und reich, in der Stadt oder auf dem Land, in bildungsnahen oder bildungsfernen Familien. Frauen gehen aber unterschiedlich mit ihrer Betroffenheit um. Die einen suchen sich Hilfe im Frauenhaus. Das sind die Frauen, die noch die Kraft haben, sich Hilfe zu holen. Es gibt aber auch Frauen, die haben diese Kraft nicht mehr. Die Abhängigkeiten, die Demütigungen haben nichts mit der einen oder anderen Bevölkerungsgruppe zu tun. Deshalb braucht Deutschland die klare Ansage: Häusliche Gewalt ist nicht privat, und wer wegsieht, unterstützt die Täter. Wenn ich bei einer Nachbarin wiederholt ein blaues Auge feststelle, aber immer so tue, als hätte ich es unter der Sonnenbrille nicht gesehen, dann stütze ich ein System, das es unbedingt heißt aufzubrechen. Gewalt gegen Frauen ist numerisch gesehen die größte Menschenrechtsverletzung, die wir in Europa haben. Sie findet tagtäglich statt, in den Häusern, auf der Straße, an den Arbeitsplätzen.

Wir haben die Situation, in der von Frauen erkämpfte Rechte wieder bedroht sind durch gewisse politische Strömungen. Wie können wir in der EU darauf reagieren, um diese Rechte zu schützen – und übrigens auch in Deutschland?

Das beste Wehren ist, die Situation umzudrehen – und zu fragen, was wollen die? Wenn jetzt in Polen davon gesprochen wurde, Abtreibungen unter allen Umständen – also auch nach einer Vergewaltigung – zu untersagen, was zum Glück nicht geklappt hat, dann müssen wir fragen: Welche Gesellschaft will die polnische Regierung? Wir müssten die Rechtspopulisten dazu zwingen zu formulieren, was sie wollen. Wollen sie wirklich, dass Frauen – obwohl sie das Kind in ihrem Bauch nicht austragen möchten – durch äußere Umstände dazu gezwungen werden sollen? Mir scheint: Sie wollen Kriminalisierung, Stigmatisierung und den Frauen professionelle und damit sichere medizinische Hilfe verweigern. Mit uns wird es jedoch eine Rückkehr zur Abtreibung mit dem Kleiderbügel nicht geben. Ich kämpfe dafür, dass unsere hart erkämpften Frauenrechte in der EU nicht dem Populismus geopfert werden. Wer Frauenrechte opfert, greift die Demokratie an, und wer Demokratie abbaut, braucht klare Sanktionen innerhalb einer Staatengemeinschaft. Bei den europäischen Haushaltsverhandlungen wird jetzt darüber gesprochen, dass die Mittelvergabe an einen Rechtsstaatsmechanismus gebunden wird.

Stichwort Konditionalität...

Wenn der EU-Haushalt in direkter Konditionalität mit dem Einhalten der Rechtsstaatlichkeit steht, dient das dem Ziel, dass demokratische Gelder nicht in undemokratische Staaten umgelenkt werden können. Wir können schließlich nicht mit europäischen Geldern einen Abbau der Demokratie und europäischer Grundwerte finanzieren. Wir müssen alles tun, damit dieses Prinzip bereits im nächsten Haushalt greift.

Wie sehen Sie die Rolle der ASF bei der Entwicklung des neuen SPD-Selbstverständnisses und wie kann sie junge Frauen ansprechen?

Mein Job als ASF-Bundesvorsitzende ist nicht die Verteidigung des Koalitionsvertrages. Mein Job ist, den Koalitionsvertrag zu begleiten und zu loben, wenn etwas gut gemacht wird, oder es zu bemängeln, wenn etwas zu langsam geht. Für mich steht im Vordergrund, gemeinsam mit den Frauen in der ASF, der SPD und vielen Frauenrechtsorganisationen gedanklich für weitere Koalitionsverträge zu arbeiten, also inhaltlich voranzuschreiten und vor allem laut und sichtbar zu sein. Unsere Aufgabe ist es, die nächsten frauenpolitischen Ziele der SPD klar abzustecken. Es ist toll, wenn sich das direkt mit der Position der Parteispitze deckt. Ist dies nicht der Fall, muss weiter diskutiert werden. Die Aufgabe der ASF ist, Vordenkerin zu sein und weit über diesen Tag hinaus gesellschaftliche Debatten vorzubereiten. Wir haben verschiedenste Themen nicht im Koalitionsvertrag stehen. Das bedeutet nicht, dass diese Themen nicht existieren, wie z.B. das Thema Leihmutterschaft. Der ASF-Bundesvorstand muss formulieren, was unsere gleichstellungspolitischen Ziele in vier oder acht Jahren sein sollen. Dazu wird es für uns extrem wichtig sein, uns eng mit den Jusos zu vernetzen. Sie sind die nächste Generation, sie sind besonders nah an den jungen Frauen, ihren Vorstellungen und Forderungen. Die Jusos ist unsere größte Unterstützer*innengruppe innerhalb der Partei. Wenn die ASF für bestimmte Dinge eintritt und die Jusos ebenfalls deutlich machen, wir unterstützen das, dann hat das im Rahmen eines Parteitages ein großes Gewicht. Und deshalb ist unser Credo, dass die Arbeitsgemeinschaften sich in ihren Anliegen gegenseitig stärken müssen.

Was macht die ASF, wenn sich beim § 219a nichts bewegt?

Natürlich steht die ASF hundertprozentig für die Abschaffung des § 219a. Ebenso klar gibt es einen Beschluss des Parteivorstands, dass 219a abgeschafft werden muss. Jetzt liegt es in den Händen der Regierung, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Denn dass 219a fallen muss, ist für uns klar. Da machen wir keine halben Sachen. Im Zusammenhang mit 219a zu glauben, man könnte Frauen Informationen über Anlaufstellen und Methoden vorenthalten, ist entmündigend und hat eigentlich nur ein Ziel: Ärztinnen und Ärzte, die Abtreibungen durchführen, an den Pranger zu stellen und einzuschüchtern. In einer Zeit, in der selbst in einem Land wie Deutschland nicht mehr flächendeckend wohnortnahe Schwangerschaftsabbrüche gewährleistet werden können, da die Ärztinnen und Ärzte dafür fehlen, ist dies einfach unglaublich. Keine SPD-Frau findet Abtreibungen gut, keine SPD-Frau klatscht, wenn ein Kind abgetrieben wird. Wir als Partei haben seit Jahrzehnten dafür gekämpft, alle Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Frauen sich für das Kind entscheiden. Die Kitas, die Nachmittagsbetreuung, die Ganztagsschulen, das Elterngeld – da waren immer die SPD-Frauen die Treiberinnen. Die Frage ist, was tut eine Gesellschaft, wenn sich eine Frau trotz der familienpolitischen Leistungen für einen Abbruch entscheidet. Eine Gesellschaft hat dann verschiedene Möglichkeiten: sie wendet sich ab und lässt die Frau alleine: „Du tust etwas Illegales, schau doch, wo du Hilfe findest und wie du diese finanzierst.“ Das macht die SPD nicht. Entscheidungen von Frauen werden ernstgenommen. Dazu gehört, dass wir Frauen drei Dinge zusichern: Straffreiheit, einen richtigen Arzt oder Ärztin und Wohnortnähe. Fahrten nach Holland müssen für immer der Vergangenheit angehören.

Angelehnt an die Debatte um Paragraf 219 a gibt es einen erneuten Vorstoß der Linken, auch den Paragrafen 218 abzuschaffen, halten Sie das für angebracht?

Klar ist aus ASF-Perspektive, dass der § 218 nicht ins Strafgesetzbuch gehört. Doch in der Politik geht es um Mehrheiten und Kompromisse. Es ist jetzt sicher nicht der Zeitpunkt, den Kompromiss, den der Paragraf ja darstellt, aufzudröseln. Es gibt derzeit Parteien, die unter dem Deckmantel des Schutzes des Lebens Frauen disziplinieren und bevormunden wollen. Diese lassen zurzeit keine rationalen Diskussionen zu. In diesem momentanen Klima ist eine Neuverhandlung des Paragrafen sogar eher gefährlich.

Wie kann die Organisationskraft der ASF neu formiert werden? Die ASF hat nicht mal ein eigenes Sekretariat, nur eine Referentin. In welcher Weise kann man dann frauenpolitische Anliegen überhaupt noch transportieren?

Ja, ich wünsche mir natürlich eine bessere Ausstattung für die Bundes-ASF. Es ist normal, dass ich mir als Bundesvorsitzende der ASF eine Aufstockung des Budgets und der Personalstellen wünsche. Da sind noch dicke Bretter zu bohren. Eine große Forderung der ASF ist jedoch bereits am 1. September in Erfüllung gegangen: Es wurde eine Stabstelle Gleichstellung im Willy-Brandt-Haus eingerichtet, die als durchgängiges Prinzip für Gleichstellung sorgen wird. Denn, wie meine Vorgängerin Elke Ferner schon immer betont hat: Gleichstellung betrifft nicht nur Frauen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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