LANGZEITSTUDIE ZU KINDERARMUT : Ein Drittel der armen Kinder lebt auch Jahre später in bedürftigen Verhältnissen

8. November 2019 // Ulrike Günther

Aus Kindern werden Jugendliche, später Erwachsene. Was aber wird aus armen Kindern, wenn sie heranwachsen? Ein Drittel der Menschen, die ihre Kindheit in Armut verbracht haben, lebt einer Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gemäß auch im jungen Erwachsenenalter in bedürftigen Verhältnissen.

Kinderarmut - Bild: pixabay / Marko Lovric
Kinderarmut - Bild: pixabay / Marko Lovric

zwd Berlin. Zwei Drittel vormals armer Kinder schaffen den Sprung in ein sozial abgesichertes Dasein. Bei gleichem Bildungsniveau ist die Gefahr, in Armut zu geraten, für junge Frauen doppelt so hoch wie für Männer. Zu diesen Ergebnissen kommt eine am Mittwoch veröffentlichte Studie vom Bundesverband der AWO. Die Untersuchung bildet den fünften Teil der im Auftrag der AWO vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) seit 1999 durchgeführten Langzeitstudie zu Lebenslagen von Kindern und den Folgen von Armut für den Lebenslauf. Dazu befragte das Institut 205 im Jahr 2018 noch erreichbare, inzwischen 25-jährige Personen, d.h. 23 Prozent der ursprünglich über 890 Studienteilnehmer*innen. 23 Prozent der Befragten leben aktuell in unterprivilegierten, 77 Prozent in normalen Verhältnissen. 73 Prozent unter den materiell Bedürftigen sind Frauen und rund 35 Prozent Migrant*innen.

Übergänge zum jungen Erwachsenenalter als Chance und Gefahr

Durch die als Kinder erfahrene Armut seien die Lebenswege für die Personen zwar nicht unausweichlich vorgezeichnet. In einem sozial benachteiligten Umfeld aufzuwachsen könne allerdings das Schicksal der Betroffenen ein Leben lang belasten, resümiert die AWO die Erkenntnisse der Forschungsarbeit. Es gebe „keinen Automatismus, der aus armen Kindern zwingend arme Erwachsene werden lässt“, erklärt die Leiterin der Studie Dr. Irina Volf vom ISS. Viele der jungen Erwachsenen mit einem in Hinsicht auf ihre wirtschaftliche Lage prekären Hintergrund würden jedoch der Armut nicht entkommen, sagte Volf. Die Übergänge von der Jugend zum Erwachsensein sieht sie als „Chance, der Armut der Familie zu entwachsen“. Doch für die von Deprivation betroffenen Personen stellt diese Phase laut der AWO-Studie eine „höhere Herausforderung“ dar, die Aufgaben dieses Lebensabschnittes – eine Ausbildung absolvieren, in den Arbeitsmarkt eintreten, Familien gründen - erfolgreich zu bewältigen.

Wolfgang Stadler, Bundesvorsitzender der AWO, nennt diese Übergänge „Scheidewege“. Soziale Dienstleistungen und funktionierende Netzwerke würden die Chancen dieser Menschen steigern, den Weg aus der Falle der materiell unterversorgten Lebenssituation zu finden, so der Bundesvorsitzende. Etwa der Hälfte derjenigen, die in verfestigter Armut großgeworden sind, ist während dieser Übergangszeit der Ausstieg aus der sozialen Benachteiligung gelungen. Andererseits bleiben den meisten der aus finanziell abgesicherten Verhältnissen stammenden Kindern ökonomische Entbehrungen erspart. Die Resultate der Untersuchung zeigten, „wie wichtig es ist, die entsprechenden Kinder und Familien frühzeitig und zielgenau zu unterstützen“, kommentierte Katja Dörner, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag, das Erscheinen der Studie. Aus dieser ergebe sich „ein klarer politischer Auftrag“, hob Dörner hervor.

Die Grünen: Kindergrundsicherung soll Armut bekämpfen

Anstelle der durch die Bundesregierung geplanten „Minimalkorrekturen am Kinderzuschlag“ fordern die Grünen daher eine Kindergrundsicherung, um das Armutsrisiko der jüngsten Mitglieder der Gesellschaft wirksam zu bekämpfen. Die Vizefraktionschefin beruft sich auf einen Antrag der Grünen (Drs. 19/ 14326), über den der Bundestag im Oktober dieses Jahres debattierte und in dem sie eine Grundsicherung vorschlagen, die allen Kindern zugutekommen und sicherstellen soll, dass sie ohne Armut heranwachsen. Auch die AWO zieht Konsequenzen aus der Studie und ruft dazu auf, durch verbesserte Rahmenbedingungen guter und die Lebensgrundlage absichernder Arbeit die auf zu geringen Einkünften basierende Familienarmut zu bekämpfen. Die Wohlfahrtsorganisation möchte die familienpolitischen Leistungen reformieren und verlangt daher ebenfalls, dass über eine Kindergrundsicherung der soziokulturelle Mindestlebensstandard der Heranwachsenden zu gewährleisten sei. Zudem appelliert die AWO an die Länder, Bildungseinrichtungen verstärkt auf die Vorsorge gegen das Armutsrisiko auszurichten.

Frauen leiden stärker unter eingeschränkten Lebenslagen

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede erweisen sich der Langzeitstudie zufolge bei den armen jungen Erwachsenen als auffällig: Junge, unterprivilegierte Frauen sind häufiger von spezifischen eingeschränkten Lebenslagen betroffen als benachteiligte Männer. Demnach leiden sie mit 64 Prozent deutlich mehr unter geringem Lebensstandard, mangelhaftem Wohnumfeld und Schulden als männliche junge Erwachsene (50 Prozent). Ihr Beziehungsumfeld – Familie, Freunde, Partnerschaft – gestaltet sich um 10 Prozent problematischer als das von Männern (17 Prozent). Am größten sind die Differenzen auf dem Feld der Gesundheit: Frauen sehen sich zu 55 Prozent physisch und psychisch beeinträchtigt, aber nur 33 Prozent der Männer. Dabei sind sie insbesondere stärker seelisch belastet als männliche Erwachsene. Über die Dauer der Kindheit und Jugend bereitgestellte Hilfsangebote und unterstützende Ressourcen innerhalb und außerhalb der Familien wären der Studie zufolge imstande, die Armutsspirale zu durchbrechen. Vor allem nahestehende familiäre Bezugspersonen wie Mütter würden, wie die ISS-Forschungsarbeit belegt, als Quelle von Rat und Beistand fungieren, welche die Entwicklung der Heranwachsenden fördert. Bei 20 Prozent der von Armut betroffenen Kinder sind die Väter abwesend.

Grundsätzlich bietet Angaben der Studie gemäß der Bildungsstandard allein keinen hinreichenden Schutz vor einem durch materielle Defizite gekennzeichneten Leben. Umgekehrt ist das Aufwachsen unter unzureichend abgesicherten Bedingungen mit schlechteren Bildungsmöglichkeiten und weniger qualifizierten Schul- und Berufsschulabschlüssen verbunden. Knapp 25 Prozent der Jugendlichen aus einem benachteiligten Milieu erreichen nur eine niedrige Bildungsstufe (bis maximal Hauptschule), gegenüber ca. 2 Prozent der Personen aus finanziell normal gut gestellten Familien. Zwar erlangt mit 51 Prozent über die Hälfte der armen Kinder später die Hochschul- oder Fachhochschulreife, bei den Sprösslingen aus besser situierten Elternhäusern liegt die Quote jedoch sogar bei 78 Prozent. Menschen, die in jungem Lebensalter schon Familien gründen, geraten der Studie zufolge mit 40 Prozent überdurchschnittlich häufig in eine sozial benachteiligte Lebenslage. Personen, deren Biographien zahlreiche Brüche sowie verzögerte Bildungsverläufe auf tendenziell niedrigem Niveau prägen, sind mit 58 Prozent sogar in der Mehrheit arm.

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