Der Kommentar von Holger H. Lührig hat folgenden Wortlaut
Es passt so gut zueinander. Am 1. September hat das offizielle Berlin an den Beginn des 2. Weltkrieges erinnert, mit dem das nationalsozialistische Deutschland schreckliches Leid über Millionen Menschen in Europa gebracht hat. Die Blutspur durchzog nicht nur das eigene Land, sondern auch Polen, das Baltikum, Russland mit Belarus sowie die Ukraine bis hin zu Griechenland. Auch wenn der Polen-Feldzug und das weitere Vorgehen mit dem Namen des NS-Führers Adolf Hitler verbunden war – es waren seine Schergen und Mitläufer in NSDAP und SS, aber auch in der deutschen Wehrmacht, die sich als willige Helfer der NS-Mordmaschinerie aktiv zur Verfügung stellten und dabei sogar noch ihre persönliche Lust an Morden (Vernichtung von "minder"wertigem Lebens) zur Schau stellten.
Einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit leistet die deutsche Bundesregierung mit der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses von 2020, auf dem ehemaligen Standort der Kroll-Oper (die nach dem Reichstagsbrand als Ersatz diente und nach Kriegszerstörung nicht wieder aufgebaut wurde) ein Deutsch-Polnisches Haus als Gedenk- und Begegnungsstätte zu errichten (siehe die ausführliche Berichterstattung in der Ausgabe 398 im Produktteil "Kultur & Politik").
Im starken Kontrast dazu steht die Affäre Aiwanger. Wenige Tage vor jenem 1. September, am 25. August 2023, veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Bericht, mit dem ein antisemitisches Hetzflugblatt in den Blickwinkel der Öffentlichkeit rückte, das im Schuljahr 1987/88 im Schulranzen des Elft-Klässlers Hubert Aiwanger gefunden worden war. Damals wurde der heutige stellvertretende bayerische Ministerpräsident und Wirtschaftsminister lediglich mit einer Strafarbeit sanktioniert. Mehr offenbar nicht. Warum, erklärt sich nicht aus der damaligen Zeit, denn die Nachkriegs-Jahrzehnte, in denen die Auswüchse des nationalsozialistischen Unrechtsregimes unter den Tisch gekehrt wurden, waren spätestens in der zweiten Hälfte der 1960-er Jahre vorbei. Das Bewusstsein über die nationalsozialistische Judenverfolgung war nicht zuletzt aufgrund der Ausschwitz-Prozesse Mitte der 60-er Jahre in breiten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung gewachsen. Ein Marine-Richter namens Filbinger (CDU), der sich in den letzten Tagen vor Kriegsende mit vier Todesurteilen hervorgetan hatte, konnte sich 1978 nicht im Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten halten. Ihm fiel der Satz auf die Füße: "Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein".
Zehn Jahre später – nach Filbinger –, so lässt sich fragen, warum es die damalige Schulleitung mit einer Strafarbeit hat bewenden lassen, statt den schon strafmündigen Jugendlichen Aiwanger deutlicher zu sanktionieren. Mit der "damaligen Zeit" und seinem "jugendlichen" Alter lässt sich der Fall Aiwanger jedenfalls nicht beschönigen. Es gab in jenen Jahren 1987/88 bekanntlich den – im Aiwanger-Hetzblatt verunglimpften – Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, ein wichtiger Ansatz der politischen Bildung für die Erinnerungsarbeit.
Allein schon die Tatsache, dass Aiwanger heute noch von Mitschülern seine rechtsradikale Gesinnung und Hakenkreuzschmierereien nachgesagt wird, hätte eigentlich in der CSU die Glocken läuten lassen müssen. Doch weit gefehlt: Aus machtpolitischen Gründen hat sich der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident mit den aus auch seiner Sicht unbefriedigenden, erinnerungslücken-behafteten Antworten auf den 25-Fragen-Katalog an Aiwanger zufrieden gegeben. Eine "Jugendsünde" mit dem Argument abtun, Aiwanger habe sich doch später "nichts zu schulden" kommen lassen? Wer so den Schwamm über das Vorkommnis mit dem "ekligen" Flugblatt (Aiwangers Chef Markus Söder) wischt, zählt zu den Epigonen unserer Elterngeneration, die über die NS-Zeit lieber ungesagt und unaufgearbeitet den Deckel verschlossen. Doch so einfach geht das nicht.
Wer wie Aiwanger mit dieser Vergangenheit, einer dürftigen Entschuldigung und einem fragwürdigen Umgang mit der Wahrheit sich jetzt obendrein noch als Opfer einer Kampagne inszeniert, sollte nicht länger ein Bundesland als Vizeregierungschef repräsentieren dürfen. Und schon gar nicht hat in einem solchen Amt jemand etwas zu suchen, der ehemaligen Lehrkräften mit der Möglichkeit von Disziplinarverfahren winkt und Presseorgane mit der Androhung gerichtlicher Schritte einzuschüchtern versucht. Wes Geistes Kind dieser verharmlosend als "Populist" bezeichnete Freie-Wähler-Chef ist, hat er mit seinem demokratie-verunglimpfenden AfD-Sprech am 11. Juni 2023 in Erding klar gemacht:
"Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss und denen in Berlin sagen: 'Ihr habt's wohl den Arsch offen da oben.' Wir wollen unsere Demokratie zurückholen. Wir wollen, dass Politik das umsetzt, was der Bürger will in der Mehrheit. Und der Bürger will in der Mehrheit, dass es Papa und Mama gibt, dass wir Fleisch essen dürfen, dass wir Auto fahren dürfen, dass wir Häuser heizen dürfen, dass wir auch in den Urlaub fahren dürfen (...)"
Schon da hätte CSU-Chef Markus Söder die Reißleine ziehen müssen, um nicht selbst in den Strudel seiner oft angezweifelten Glaubwürdigkeit gezogen zu werden. Dass prominente ehemalige CSU-Spitzenpolitiker:innen heute deutlich herausstellen, ein "CSU-Minister" hätte sich in einem Fall wie Aiwanger nur zwei Tage im Amt halten können, ist ehrenwert. Es ändert aber nichts daran, dass in der CDU-Schwesterpartei gern der Dreck am Stecken, der auf ihr lastet – beispielsweide mit der Causa Andreas Scheuer, der fahrlässig Steuermilliarden mit dem Mautprojekt versenkt hat – weggeschwiegen wird. So etwas ist wohl Ausdruck christsozialer Parteikultur.
Es war berechtigt, dass der Zentralrat der Juden die "Entschuldigung" Aiwangers (wofür eigentlich?) nicht angenommen hat. Fraglich ist, ob die CSU so stark ist, sich nicht länger an solche Freien Wähler zu binden, oder ob sie weiterhin wie bisher ein rechtspopulistisches Bündnis anführen möchte.
Es ist ein Demokratie-Gebot: Aiwanger darf (gerade auch mit der CSU) nicht weiter Minister bleiben, und schon gar nicht nach dem 8. Oktober, wie positiv auch immer die Landtagswahl für seine "Jetzt-erst recht"-Partei ausgeht. Es wäre ein Menetekel für Bayern wie für die Bundesrepublik Deutschland, in dem die Erinnerungskultur Schaden zu nehmen droht. Es ist ein Warnzeichen für unsere Demokratie, sie nicht Aiwanger und seinen AfD-nahen Konsorten zu überlassen.