zwd-CHEFREDAKTEUR HOLGER H. LÜHRIG : Nach der Wahl in Hessen muss es kein frauenpolitisches „Weiter so” geben

26. Oktober 2018 // Holger H. Lührig

Die aktuellen Meinungsumfragen haben die Wahlen zum hessischen Landtag spannend gemacht. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und Grünen – nicht zuletzt aufgrund prognostizierter erheblicher Stimmenverluste für die regierende CDU und die stärkste Oppositionsfraktion SPD – rücken die Möglichkeit einer Ablösung der regierenden CDU in greifbare Nähe.

zwd-Chefredakteur Holger H. Lührig.
zwd-Chefredakteur Holger H. Lührig.

zwd Wiesbaden. Ein „Gespenst“ geht um zwischen dem nordhessischen Kassel und dem südhessischen Odenwald, zwischen Fulda und Limburg. Es ist Rot plus Grün plus Rot. Sorgsam hatten die Strategen in der Wiesbadener SPD-Zentrale vermieden, dass eine „Rote-Socken-Kampagne“ erneut im Wahlkampf und hernach im Wiesbadener Landtag sein „Unwesen“ treiben könnte. Immer noch zu tief steckt der Ypsilanti-Schock den Genoss*innen in den Knochen. Die damalige SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti hatte im Wahlkampf ein Zusammengehen mit der Linken ausgeschlossen und angesichts des Wahlergebnisses einen realpolitischen Rückzieher hin zu einem Bündnis mit der Linken versucht. Sie wurde hart zurückgepfiffen durch die Verweigerung der Gefolgschaft einiger ihrer Parteigenoss*innen. Das ist nun ziemlich genau zehn Jahre her.

Aktuell scheint das Unaussprechliche wieder denkbar und wurde auch durch den Ypsilanti-Nachfolger und SPD-Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel verbal nicht explizit ausgeschlossen. Die SPD hat daraus gelernt, solche Vorfestlegungen zu unterlassen. Interessant scheint da ein Vergleich der wichtigsten Aussagen der Wahlprogramme, die jedenfalls zwischen SPD und Grünen mehr Schnittmengen verheißen als zwischen den derzeitigen Regierungspartnern der schwarz-grünen Koalition. Dabei stecken die Grünen in einem Dilemma. Sie wissen nicht, ob und zu welchem alternativen Regierungsbündnis es reichen könnte. Sicher scheint nach den derzeitigen Wahlvoraussagen, dass es zu einer schwarz-grünen Alleinregierung nicht mehr reichen wird. Maßgeblich dafür ist die Schwäche der Union, die von den Grünen trotz ihres gegenwärtigen Höhenfluges nicht kompensiert zu werden vermag. Da sich andererseits auch die SPD auf deutliche Verluste einstellen muss, könnte das ihren Regierungsanspruch in Frage stellen. Nach ihrem desaströsen Wahlergebnis in Bayern schwankt die traditionsbewusste SPD in Hessen zwischen Bangen und Hoffen. Signale der Demoskopen deuten nun darauf hin, dass die Grünen mit ihrem populären Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir der SPD den Rang ablaufen und die Sozialdemokrat*innen auf Platz 3 verweisen könnten. Um dann überhaupt mitregieren zu können, müsste die SPD den Grünen die Führung der Regierung überlassen – schwierig für eine Partei, die jahrzehntelang regierungsgewohnt war, heute aber weit entfernt ist von Mehrheiten, in denen sie unter ihrem Regierungschef Georg August Zinn die Parole „Hessen vorn“ kreiert und das Land zu einem SPD-geführten „roten Musterländle“ entwickelt hatte. Das war in den 50er und 60er Jahren und ist lange vorbei.

Gleichwohl könnten die Hessen dank ihrer beachtlichen Wirtschaftskraft immer noch träumen. Doch der Traum ist unter den christdemokratischen Ministerpräsidenten Roland Koch und Volker Bouffier eher zu einer Fiktion verkommen. Das Musterländle ächzt unter vertanen Chancen und wenig überzeugenden Projekten. Namentlich gilt dies für den ins Stocken geratenen Kita- und Ganztagsschulausbau, aber auch für die Unzulänglichkeiten an den hessischen Hochschulen und bei den Ausbildungsstätten im Bereich der beruflichen Bildung. Noch weniger überzeugend präsentiert sich die CDU/Grünen-Koalition bei der Frauen- und Gleichstellungspolitik. Die Hessen-Union zieht sich in ihrem Wahlprogramm auf die lapidare Formel zurück: „Wir werden uns dafür einsetzen, dass Frauen genauso oft in Führungspositionen vertreten sind wie Männer“. Sie bleibt aber konkrete praktische Umsetzungsvorschläge schuldig und stellt im Gegenteil klar: „Starre Quoten halten wir nicht für das geeignete Mittel.“

Die Grünen halten sich die Verabschiedung des Hessischen Gleichstellungsgesetzes durch den Landtag in Wiesbaden im Jahre 2016 zu Gute. Damit sei das erste, 1993 unter rot-grüner Führung verabschiedete erste hessische Gleichberechtigungsgesetz neu ausgerichtet worden. Dieses Gesetz verpflichtet alle Dienststellen, moderne Instrumente der Personalführung anzuwenden („Führungspositionen in Teilzeit, Fortbildung speziell für Frauen, geschlechtergerecht budgetierte Personalkosten und eine Führungskultur, die Chancengleichheit [z.B. bei der Besetzung von Führungspositionen durch Frauen bei gleicher Qualifikation – Red.] berücksichtigt“. Die Gleichstellungsbeauftragten verfügen, falls die Regeln nicht eingehalten werden, über ein mit dem Gesetz neu eingeführtes Organklagerecht. Den hessischen Gleichstellungsbeauftragten geht – nach den Erfahrzungen der ersten zwei Jahre – die Neuregelung nicht weit genug. Sie bemängeln, dass im öffentlichen Dienst erst ab 50 Beschäftigten eine Gleichstellungsbeauftragte bestellt werden muss. Am Beispiel des Landkreises Limburg Weilburg veranschaulicht die Kreisfrauenbeauftragte Ute Jungmann-Hauff, müssten einige Rathäuser keine Gleichstellungsbeauftragten bestellen. Dort unterbleibe die Beteiligung bei Personalmaßnahmen, Arbeitsplatzgestaltung oder Gremienbesetzung. Die Landesarbeitsgemeinschaft der hessischen Frauen- und Gleichstellungsbüros hat im September dieses Jahres an alle Parteien einen sechsseitigen Forderungskatalog übergeben und sie aufgefordert, im Falle einer Regierungsbeteiligung nach den Wahlen am 28. Oktober für gut ausgestattete Büros, Rechtssicherheit und landesweite Standards für die kommunale Gleichstellungsarbeit zu sorgen.

Solche Erwartungen treffen nicht von ungefähr bei den bürgerlichen Parteien CDU und FDP, von den Rechtspopulisten ganz zu schweigen, auf keine Resonanz. Die Union anerkennt zwar, dass „keine volle Gleichstellung“ erreicht sei, möchte aber „praktische und umsetzbare Verbesserungen“ statt „ideologische Kämpfe auf dem Papier zu führen“. Zweifellos begeben sich die hessischen Christdemokrat*innen an die Seite der rechtspopulistischen AfD. Die hat in ihrem hessischen Programm die in anderen Bundesländern verwendeten Wahlparolen „Schluss mit dem Genderwahn“ aufgewärmt und würde am liebsten wohl nicht nur Gleichstellungsstellen, sondern auch Krippen und Ganztagsschulen abschaffen, um Frauen wieder die historisch überkommene Rolle als Mutter und Hausfrau zuzuweisen.

Auch die FDP bleibt frauenpolitisch dürr bis nichtssagend. Mit ihr, die mit einen geringen Frauenanteil auf ihrer Landeswahlliste glänzt, werden SPD, Grüne und Linke kaum auf einen Nenner kommen können. Nicht von ungefähr war der jetzige Spitzenkandidat der FDP, René Rock, vor seinem Aufstieg zum freidemokratischen Fraktionschef der „frauenpolitische Sprecher“ seiner an weiblichen Mitgliedern dünn gesäten Fraktion. Das wird, wie auch immer die Liberalen in den Landtag einziehen, auch so bleiben. Unter den ersten neun Plätzen der Landesliste findet sich nur eine Frau: Wiebke Knell – auf Platz drei. Die 37-jährige Landtagskandidatin aus dem nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis, die auch dem Präsidium des hessischen FDP angehört, war erst 2017 als Nachfolgerin der in den Bundestag gewählten FDP-Generalsekretärin Nicola Beer in das Wiesbadener Landesparlament nachgerückt. Insgesamt präsentieren die Liberalen auf den ersten 20 Plätzen ihrer Landesliste vier Frauen. Knapp besser präsentiert sich die CDU mit sechs Frauen auf den ersten 20 Plätzen ihrer Landesliste, wobei die Ränge 2, 5, 8, 12, 16 und 20 dem weiblichen Geschlecht zugewiesen sind.

Für den Frauenanteil im künftigen Landtag in Wiesbaden lässt das nichts Gutes ahnen. Nach demoskopischen Einschätzungen könnte der Anteil im künftigen Landesparlament infolge der Listen von CDU, FDP und AfD deutlich absinken. Die Tatsache, dass SPD, Grüne und Linke ihre Kandidat*innenlisten nach dem Reißverschlussprinzip aufgestellt haben, wird das kaum ausgleichen können. Alle drei Parteien haben sich frauenpolitisch gut aufgestellt. Die SPD widmet unter dem Motto „Zukunft jetzt machen“ der Gleichberechtigung von Frauen und Männern neun Seiten des 198-seitigen Programms zur Landtagswahl und tritt dabei für eine „emanzipatorische Frauenpolitik“ ein, die in allen Bereichen für Geschlechtergerechtigkeit sorgt. Für die Grünen ist „Feminismus ein Kernanliegen“ ihrer Politik“. Das Wahlprogramm, selbstbewusst als „Das Grüne Regierungsprogramm 2019 bis 2024“ überschrieben, widmet der Durchsetzung der Gleichstellung durch Überwindung struktureller Benachteiligungen sechs eng bedruckte Seiten. Eine Kernaussage des grünen Programms würden auch SPD und Linke unterschreiben: „Die Veränderung fängt zu allererst im Kopf an“. Gemeint sind damit die überkommenen Rollenbilder.

Die Linke, die „Mehr für die Mehrheit" wünscht, will ebenfalls die einschränkende Dominanz traditioneller Rollenbilder in Bildung, Werbung, Berufsalltag und öffentlichem Raum aufbrechen und mehr Freiraum für individuelle Entfaltung schaffen. In ihrem fünfseitigen Kapitel zu einer „linken Politik von und für Frauen“, um Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen, treten die Linken dafür ein, patriarchale Strukturen zu überwinden und dem „Sexismus die rote Karte (zu) zeigen“. Ein Vergleich der gleichstellungspolitischen Programme von SPD, Grünen und Linken zeigt deutliche Übereinstimmungen. Sie reichen von der Forderung nach Quotierung auf allen Ebenen mit dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft über die Entgeltgleichheit, den Ausbau der Kitas und Ganztagsschulen bis hin zu entschiedenen Gewaltschutz-Programmen, gegen Sexismus, für den Ausbau von Beratungsangeboten sowie den Ausbau einschließlich einer besseren Ausstattung von Frauenhäusern. Übereinstimmung gibt es auch bei der Bewältigung der Integration Geflüchteter. Vor allem SPD und Grüne machen sich für nachhaltige Unterstützungsprogramme stark und haben dabei vor allem die geflüchteten Frauen im Blick.

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