ELKE FERNER ÜBER "GEWALT AN FRAUEN" : Femizide sind nur die Spitze des Eisberges

16. Oktober 2022 // Elke Ferner

In der Kolumne "feministisch beleuchtet" beschäftigt sich Elke Ferner, Vorstandsmitglied des Deutschen Frauenrates, Präsidentin von UN Women Deutschland und ehemalige Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfrauenministerium, mit der aktuellen polizeilichen Bundeskriminalstatistik (PKS 2021). Sie bemängelt, dass frauenfeindliche Verbrechen (Ehrenmorde/Femizide) in der Statistik nicht erfasst und im Strafrecht nicht normiert worden sind. Gefordert sind die Bundesinnenministerin und der Bundesjustizminister. Der Beitrag ist im aktuellen zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 393, erschienen.

zwd-POLITIKMAGAZIN 393
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Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2021 muss aufschrecken: Nicht nur am Tag der Veröffentlichung, sondern alle 365 Tage im Jahr! Erst seit 2011 wird die Tatverdächtigen-Opfer-Beziehung im Hinblick auf die Beziehungsarten (Ehepartner, eingetragene Lebenspartnerschaft, Partner nicht ehelicher Lebensgemeinschaften, ehemalige Partnerschaften) und den räumlich-sozialen Kontext in der PKS erfasst und jedes Jahr sind die Befunde erschreckend:

  • 2020 ist die Anzahl der Opfer partnerschaftlicher Gewaltdelikte erneut angestiegen (+ 4,4%). 2020 gab es 148.031, in 2019 141.792 Opfer von Partnerschaftsgewalt - 80% der Opfer waren Frauen.
  • Fast jeden Tag versucht ein Mann seine (Ex-)Frau zu töten und jeden 3. Tag gelingt es ihm. Im Jahr 2021 wurden insgesamt 359 Frauen Opfer von versuchtem oder vollendetem Mord oder Totschlag. 139 von ihnen haben nicht überlebt.
  • Jeden Tag erleiden 197 Frauen vorsätzliche einfache Körperverletzungen und 34 Frauen sogar gefährliche Körperverletzungen durch ihren (Ex-)Partner.
  • Jeden Tag werden 9 Frauen von ihrem (Ex)-Partner vergewaltigt, sexuell genötigt oder zum Opfer sexueller Übergriffe.

Es geht hier nicht um Kavaliersdelikte, sondern um schwere Straftaten. Deshalb führen Begriffe wie „Beziehungstat“, „Eifersuchtstragödie“ oder „Trennungsdrama“ in die Irre. Sie verharmlosen die Taten und schreiben den Opfern zumindest unterschwellig eine Mitschuld zu. Aber nicht die Opfer sind schuld, sondern die Täter.

Es gibt schlicht keine Rechtfertigung für körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt. Die Menschenwürde ist und bleibt unantastbar – immer!

Sogenannte „Ehrenmorde“ oder andere frauenfeindliche Tötungen von Frauen durch Männer sind in der Statistik bisher nicht ausgewiesen und auch im Strafgesetzbuch nicht explizit normiert.

Im Kern geht es hier um patriarchale Machtverhältnisse. Es geht um die Missachtung des (sexuellen) Selbstbestimmungsrechts der Frau und um Machtdemonstrationen von Männern gegenüber Frauen – auch innerhalb von Partnerschaften oder gegenüber der Ex-Partnerin.

Da die polizeiliche Kriminalstatistik geschlechtsbezogene Beweggründe nicht erfasst, stellen die erfassten Fälle von Partnerschaftsgewalt nur die Spitze des Eisberges dar. Sogenannte „Ehrenmorde“ oder andere frauenfeindliche Tötungen von Frauen durch Männer sind in der Statistik bisher nicht ausgewiesen und auch im Strafgesetzbuch nicht explizit normiert.

Nun will die Bundesregierung in den Katalog der Strafzumessung des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB aufnehmen, dass „geschlechtsspezifische“ und „gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Beweggründe von Gerichten straf(ver)schärfend zu berücksichtigen sind.

Der Begriff „geschlechtsspezifisch“ soll auch Fälle einbeziehen, in denen die Tat handlungsleitend von Vorstellungen geschlechtsbezogener Ungleichwertigkeit geprägt ist. Dies ist laut Entwurf etwa dann der Fall, wenn der Täter gegenüber seiner (Ex-)Partnerin mit Gewalt seinen vermeintlichen Herrschafts- und Besitzanspruch durchsetzen will. Die ausdrückliche Erwähnung in § 46 StGB soll auch dazu führen, dass die Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen frühzeitig solche Motive aufklärt und berücksichtigt.

Das ist ein wichtiger erster Schritt, dem weitere folgen müssen.

Diese straf(ver)schärfenden Beweggründe müssen bei der Strafverfolgung, vor allem aber auch in der Rechtsprechung angewandt werden. Offenbar haben Gerichte aber bisher frauenverachtende Motive nicht (immer) als „menschenverachtend“ gewertet und auch die klaren Vorgaben der Istanbul Konvention nicht ausreichend beachtet.

Das Thema Gewalt gegen Frauen muss in seiner Gänze in die Aus- und Fortbildung von Polizei, Staatsanwält*innen und Richter*innen aufgenommen werden, damit in akuten Situationen richtig gehandelt und den Opfern mit der notwendigen Sensibilität begegnet wird. Thematisch darf dies nicht nur auf die nationale Gesetzgebung beschränkt sein, sondern muss auch die Regelungen der einschlägigen von Deutschland ratifizierten Übereinkommen, wie z.B. der Istanbul Konvention oder der Frauenrechtskonvention erfassen. Das Gewaltschutzgesetz von 2002 ist zwar ein wichtiges Instrument, kommt aber leider nicht konsequent zur Anwendung. Es hängt davon ab, wie sensibilisiert die Strafverfolgungsbehörden für geschlechtsspezifische Gewalt sind. Deshalb müssen bei diesen Schwerpunkteinheiten gebildet werden, die sich mit Gewalt gegen Frauen und geschlechtsspezifischen Straftaten beschäftigen und schon in einem frühen Stadium eingreifen. Stalking Opfern wird z.B. häufig erst geholfen, wenn aus Drohungen schon Taten geworden sind. Das Ziel muss sein, Taten zu verhindern, insbesondere dann, wenn es schon Anzeichen dafür gibt.

Die bestehenden Hilfsangebote für Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland sind im Vergleich zu manchen anderen Ländern zwar gut, aber längst nicht ausreichend. Es fehlen immer noch Frauenhausplätze und sog. second stage Angebote sowie eine bedarfsgerechte psychosoziale Betreuung. Damit der Zugang zum Hilfesystem für alle Opfer sichergestellt ist, braucht es einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Auch bei den familienrechtlichen Regelungen, insbesondere beim Umgangsrecht brauchen wir Änderungen. Das Umgangsrecht von getrenntlebenden Vätern, darf kein Einfallstor für die Fortsetzung von Partnerschaftsgewalt werden. Im Zweifel muss der Opferschutz Vorrang vor dem Umgangsrecht oder anderen familienrechtlichen Regelungen haben.

Die Bundesregierung hat sich die vorbehaltlose Umsetzung der Istanbul Konvention auf die Fahnen geschrieben. Dazu gehört auch, dass von Gewalt betroffene Frauen einen eigenständigen Aufenthaltsstatus erhalten müssen, damit sie nicht allein wegen aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen in einer Gewaltsituation bleiben müssen.

Gewalt gegen Frauen kommt nicht von allein. Femizide und Gewalt gegen Frauen stehen am Ende einer Kette von frauenverachtenden Strukturen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft.

Im Prinzip beginnt geschlechtsspezifische Gewalt beim Alltagssexismus und hört auf bei Femiziden. Dabei ist stets eines gemeinsam: Die Täter sind meist Männer, die Macht über Frauen beanspruchen und auch durchsetzen wollen.

Fast jede Frau hat zumindest schon verbal sexuelle Belästigung erlebt und stand dann vor der Frage: Reagiere ich darauf oder sehe ich besser zu, dass ich wegkomme, um Schlimmeres zu vermeiden? Das ist eine Situation, in die Männer selten geraten. Allein das macht schon einen geschlechtsspezifischen Unterschied, der aber vielen nicht bewusst ist – ebenso wenig wie entsprechende Übergriffe und Straftaten.

„Es hat noch bis 1997 gedauert, bis die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Und es hat fast weitere 20 Jahre gedauert, bis 2016 im Vergewaltigungsparagraphen § 177 StGB das Prinzip „Nein heißt Nein“ verankert wurde.“

Lange galt häusliche Gewalt als Privatangelegenheit. Die Frauenbewegung in den 1970er Jahren hat dieses gesellschaftliche Tabu gebrochen: es wurden Frauennotrufe und autonome Frauenhäuser gegründet, Gewalt gegen Frauen wurde sichtbar gemacht, Strafverfolgungsbehörden wurden sensibilisiert, Angebote zur Prozessbegleitung für Opfer etabliert und vieles mehr. Es hat noch bis 1997 gedauert, bis die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Und es hat fast weitere 20 Jahre gedauert, bis 2016 im Vergewaltigungsparagraphen § 177 StGB das Prinzip „Nein heißt Nein“ verankert wurde. Seitdem werden mehr Straftaten von sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung angezeigt und auch mehr Täter verurteilt. Auch die Denkweise hat sich verändert: die Schuld wird nicht mehr bei der Frau gesucht; dem Wort „Nein“ wird die Bedeutung zugeschrieben, die ihm gebührt und so den betroffenen Frauen der Schutzraum geschaffen, der in einer derart sensiblen Thematik notwendig ist. In Spanien ist jetzt der nächste logische Schritt erfolgt: dort gilt jetzt das Prinzip „nur Ja heißt Ja“.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt muss als strukturelle Diskriminierung anerkannt werden. Vergewaltigungen und andere physische und verbale Übergriffe sind Menschenrechtsverletzungen, die durch ein frauenfeindliches System begünstigt werden, das auf individueller, kultureller und institutioneller Ebene wirkt. Konkret heißt das: Der Täter ist als Einzelperson verantwortlich, bewegt sich aber in einem System, das Gewalt gegen Frauen nicht ausreichend verurteilt und bestraft sowie die Benachteiligung von Frauen oder Sexismus duldet. Wichtig ist auch, dass die Kriminalstatistiken differenzierter werden. Es muss klar werden, dass Femizide existieren.

Wir müssen dabei auch die Entwicklung in Ländern wie Mexiko, Argentinien und Brasilien im Auge behalten, in denen „Femizid“ einen eigenen Straftatbestand darstellt.

Ob die geplante Ergänzung „geschlechtsspezifische Beweggründe“ in den Katalog der straf(ver)schärfenden Beweggründe (§46 Abs. 2 S.2 StGB) ausreicht, wird sich erst noch erweisen. Auf alle Fälle müssen diese straf(ver)schärfenden Beweggründe in den einschlägigen Statistiken ausgewiesen werden und die Wirkung der Gesetzesänderung muss evaluiert werden.

Neben einer zeitgemäßen Gesetzgebung und einem bedarfsgerechten Zugang der Opfer zum Hilfesystem brauchen wir mehr Maßnahmen zur Gewaltprävention und mehr Zivilcourage.

Wenn Menschen lernen würden, anderen Menschen unabhängig von deren Geschlecht mit gleichem Respekt zu begegnen; wenn Männer sich bewusst machen würden: Würde ich wollen, dass das, was ich gerade tue, meiner Freundin, meiner Schwester, meiner Tochter, meiner Mutter passiert? Und wenn in einer Gewaltsituation das jeweilige Umfeld – Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen, Ärzt*innen oder auch Passant*innen – sich einmischen oder zumindest die Polizei verständigen würden. Dann würde sich so manches ändern.

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