NATIONALE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN LEOPOLDINA : Geschlechtergerechte Wissenschaft

16. September 2022 // ticker

Die Nationale Akademie der Wissenschaften LEOPOLDINA mahnt die Bundesländer, dem Beispiel von Nordrhein-Westfalen und der Leibnitz-Gesellschaft folgend, die Spitze zentraler Wissenschaftseinrichtungen mit mehr Frauen zu besetzen. Bisher sei die Wissenschaft nach wie vor männlich dominiert, heißt in der Stellungnahme, mit der die Akademie eine geschlechtergerechtere Wissenschaft anmahnt.

Hauptgebäude der Nationalen Akademie, Halle (Bild: NAdW)
Hauptgebäude der Nationalen Akademie, Halle (Bild: NAdW)

„Frauen, die Wissenschaft als Beruf betreiben wollen, werden sehr oft strukturell und habituell ausgebremst“, sagt die Historikerin Ute Frevert, Mitglied der Leopoldina und Sprecherin der Arbeitsgruppe, die die Stellungnahme verfasst hat. „Um begabte Frauen zu einer wissenschaftlichen Karriere zu ermutigen, sollten Strukturen und Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die kooperativ, unhierarchisch, zeitlich flexibel und nicht sexistisch sind. Es braucht außerdem verlässliche Perspektiven sowie Rollenvorbilder.“

Die Stellungnahme analysiert die großen Unterschiede in den wissenschaftlichen Karrieren von Männern und Frauen: Zwar werden inzwischen fast so viele Frauen wie Männer promoviert, auf den anschließenden wissenschaftlichen Karrierestufen sind Frauen jedoch zunehmend unterrepräsentiert. Signifikant weniger Frauen als Männer werden auf hochrangige Professuren berufen, und ihr Anteil bleibt in fast allen Fächern weit hinter der jeweiligen Studentinnen- und Doktorandinnenquote zurück. Lediglich ein Viertel aller Universitäten und Hochschulen wird von Frauen geleitet. Bis auf die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und die Leibniz-Gemeinschaft gibt es keine wissenschaftliche Akademie oder außeruniversitäre Forschungsorganisation mit einer Frau an ihrer Spitze.

Die Arbeitsgruppe benennt mehrere Faktoren, die Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft behindern, u. a. die Dominanz von Männern in institutionellen Entscheidungsgremien, eine oft implizite Voreingenommenheit gegenüber Wissenschaftlerinnen, aber auch einen Mangel an Rollenvorbildern sowie die traditionelle Arbeitsteilung in Partnerschaften. Frauen leisten nach wie vor die meiste Familienarbeit in einer Lebensphase, in der gleichzeitig die Weichen für eine wissenschaftliche Karriere gestellt werden.

Um diesen Faktoren konsequent entgegenzuwirken, muss Gleichstellung zu einer fest verankerten und priorisierten Aufgabe von Organisationsleitungen werden. Die Arbeitsgruppe empfiehlt konkrete Maßnahmen wie die Einführung flacher Hierarchien sowie transparente und geschlechtergerechte Gehaltsstrukturen. Die Vergabe institutionsgebundener Mittel und persönlicher Leistungszulagen sollte an die Bedingung geknüpft sein, dass Gleichstellungsziele erreicht werden. Unbefristete Positionen und Tenure-Track-Modelle können Frauen ermutigen, ihre akademische Karriere nach der Promotion fortzuführen. Ermutigung erfahren sie auch durch persönliche Beratungen und Mentoringprogramme. Flexible Arbeitszeiten, Betreuungsangebote für Kinder – auch bei wissenschaftlichen Tagungen – sowie die Unterstützung junger Familien bei einem gerade in der Postdoc-Phase üblichen Auslandsaufenthalt helfen bei der Vereinbarkeit wissenschaftlicher Karrieren und Familie. Außerdem sollen Leistungen von Frauen sichtbarer gemacht werden. Konferenzen und daraus hervorgehende Publikationen mit einer nur marginalen Präsenz von Wissenschaftlerinnen sollen weder hochschulintern noch -extern finanziell unterstützt werden. Wichtig ist zudem, die Fortschritte zu dokumentieren und Entwicklungen regelmäßig zu überprüfen.

Die Stellungnahme wurde von der interdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe „Gendergerechte Wissenschaft“ erarbeitet. Beteiligt waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Geistes-, Human-, Ingenieur-, Natur- und Sozialwissenschaften.

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