SCHULBAROMETER 2024 : Gewalt an Schulen, Stress bei vielen Lehrkräften

26. April 2024 // Ulrike Günther

Gewalt zwischen Schüler:innen, Personalmangel, heterogene Klassen: Das aktuelle Schulbarometer zeichnet ein erschreckendes Bild der Situation an Schulen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sieht erneut großen Handlungsbedarf in der Bildung bestätigt. Die Grünen setzen auf das Startchancen-Programm und multiprofessionelle Teams. Die GEW fordert höhere Investitionen und einen Bildungs-Staatsvertrag.

Viele Lehrkräfte erleben im Berufsalltag Stress und Erschöpfung. - Bild: gettyimages
Viele Lehrkräfte erleben im Berufsalltag Stress und Erschöpfung. - Bild: gettyimages

zwd Berlin. Für „mehr Geld für Bildung, mehr Entlastung für Lehrkräfte und mehr psychosoziale Begleitung für Lernende“ plädierte angesichts der Ergebnisse des aktuellen Schulbarometers am Mittwoch der Vize-Vorsitzende der Erziehungsgewerkschaft Dr. Andreas Keller. Demnach beobachtete fast die Hälfte der Lehrenden (47 Prozent) psychische oder körperliche Gewalt von Schüler:innen. Symptome von Burnout und Stress sind laut der Studie unter Lehrpersonal weit verbreitet, mehr als ein Viertel (27 Prozent) könnte sich sogar vorstellen, den Beruf zu wechseln. Um die Lehrer:innen „im System zu halten“, sollte man ihre Unterrichtspflichten verringern, Pädagog:innen beim Einstieg in den Beruf besser begleiten, die Klassengrößen reduzieren und die Schulen mit deutlich mehr Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen ausstatten, hob Keller hervor. Das sei auch „die beste Reaktion auf die offenbar zunehmende Gewalt“.

Stark-Watzinger: Schulen sollen sichere Orte sein

Das Schulbarometer mache erneut deutlich, „wie groß der Handlungsdruck in der Bildung“ sei , schrieb Bildungsministerin Watzinger anlässlich der Vorstellung der Studie am 24. April in einem Tweet. Die von den Lehrkräften berichtete Gewalt müsse „alle Beteiligten alarmieren“. Schulen sollten „für Schüler und Lehrer sichere Orte sein“, betonte Stark-Watzinger. Da die Lehrer:innen „entscheidend für guten Unterricht“ seien, müsse man sie „besser unterstützen“, die Gesellschaft ihnen „mehr Wertschätzung entgegenbringen", erklärte die Ministerin im Interview mit der WAZ (Westfälischen Allgemeinen Zeitung) und rief die Bundesländer auf, das Lehrkräfte-Defizit wirksamer zu bekämpfen.

Die Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV) Prof.in Susanne Lin-Klitzing zeigte sich erschüttert, dass „so viele Lehrkräfte im Alltag verschiedene Formen von Gewalt erleben müssen“. Das Schulbarometer untermauere weitere, vom DPhV über Jahre angemahnte negative Trends, wie Lehrkräftemangel oder marode Schulgebäude, die nach Ansicht von Lin-Klitzing „zusätzlichen Stress“ bei Lehrer:innen und Schüler:innen verursachten. Vom Phänomen der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen besonders stark betroffen sind gemäß der Erhebung Schulen mit sozial benachteiligtem Umfeld (69 Prozent), Förderschulen (67 Prozent) und Haupt-, Real- bzw. Gesamtschulen (62 Prozent). Nach Ansicht der Forscher:innen sind diese Daten als „besorgniserregend hoch einzuschätzen“. Für die Studie befragte das Meinungs- und Sozialforschungsinstitut forsa vom13. November bis 03. Dezember 2023 im Auftrag der Robert Bosch Stiftung online eine repräsentative Stichprobe von 1.608 Lehrkräften an Grund-, Mittel-, Berufs- und Sonderschulen sowie Gymnasien u.a. zu Herausforderungen, Bedarfen und Einstellungen in ihrem Berufsalltag. 59,7 Prozent der Studienteilnehmer:innen waren Frauen, 8,5 Prozent Schulleiter:innen oder deren Vertreter:innen.

Die Grünen: Multiprofessionelle Teams helfen Schulklassen

Das grüne Mitglied im Bildungsausschuss des Bundestages Dr. Franziska Krumwiede-Steiner unterstrich mit Blick auf die vom Schulbarometer erfassten „vielfältigen Schwierigkeiten“, mit denen Lehrer:innen täglich konfrontiert sind, wie wichtig es sei, mit dem geplanten Startchancen-Programm gerade dort anzusetzen, wo Pädagog:innen durch Schüler:innen mit „vielseitigem Unterstützungsbedarf“ in hohem Maße gefordert sind. Multiprofessionelle Teams aufzustocken, entlaste Schulklassen mit verhaltensauffälligen Kindern und schaffe Angebote bei den psychosozialen wie emotional-sozialen Kompetenzen. GEW-Vize-Chef Keller befürwortet, dass die „Startchancen“ einen Fokus auf Grund- und soziale Problem-Schulen legen, das Programm müsse jedoch „erweitert“ und „verstetigt“, die Mittel „noch mehr als bisher“ sozial gerecht verteilt werden.

Psychosoziale Unterstützung an Schulen unzureichend

Die im Schulbarometer dokumentierten Auskünfte der Lehrer:innen beurteilte auch Keller als „Alarmzeichen“. Aus seiner Sicht führen der „dramatische Personalmangel“ und die häufig ungenügenden psychosozialen Hilfsangebote dazu, dass „präventive Arbeit vor Ort oft nur stark eingeschränkt zu leisten“ sei. Daher schlug er erneut ein Bildungs-Sondervermögen von 100 Mrd. Euro und einen Staatsvertrag vor, um den Lehrkräfte-Bedarf zu decken. Über zwei Fünftel der Lehrenden (43 Prozent) bewerteten die psychosozialen Hilfen an Schulen als unzureichend, an Grundschulen und Schulen in sozial unterprivilegierter Umgebung über die Hälfte (55 bzw. 51 Prozent) der Lehrpersonen.

Was den Einsatz digitaler Medien im Unterricht betrifft, erkennt Grünen-Politikerin Krumwiede-Steiner auf der Basis der Untersuchung gleichermaßen Aufholbedarf. Das Bundesbildungsministerium und die Länder drängte sie, die Verhandlungen zum Digitalpakt 2.0 nun „zum Erfolg“zu bringen. Dadurch werde man die Lehrer:innen für den „didaktisch sinnvollen“ Gebrauch digitaler Materialien „fit (…) machen“ und dabei verlässliche, funktionsfähige Technik sicherstellen. Mehr als zwei Drittel der Lehrkräfte (69 Prozent) schätzten dem Schulbarometer zufolge ihren Umgang mit Digitalgeräten bzw. -medien grundsätzlich als kompetent ein. Dennoch fühlte sich fast die Hälfte (49 Prozent) auf deren Anwendung im Unterricht nicht gut vorbereitet.

VBE: Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben entlasten

In ihrem beruflichen Alltag als größte Herausforderungen bewertete über ein Drittel der Befragten (35 Prozent) das Verhalten der Kinder und Jugendlichen, das sie teilweise als auffällig beschrieben (35 Prozent), und die heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft (33 Prozent). Grundschullehrer:innen rückten heterogene Klassen (45 Prozent) sogar an die erste Stelle auf der Skala der sie am meisten beanspruchenden Aufgaben. 28 Prozent aller Lehrpersonen erachteten Arbeitsbelastung und Zeitmangel im Beruf für besonders problematisch. Der stellvertretende Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Tomi Neckov sprach sich ebenfalls dafür aus, der tendenziellen Überforderung der Lehrer:innen wie der Schulleitungen entgegenzutreten. Diese habe man „zeitnah von Verwaltungsaufgaben (zu) entlaste(n)“. Darüber hinaus sei an Schulen „weiteres Personal“ möglichst unterschiedlicher Berufsgruppen nötig, um Schüler:innen erfolgreicher fördern zu können.

Viele Lehrer:innen vom Berufsalltag emotional erschöpft

Die Studienresultate machen es nach Auffassung von Neckov „offensichtlich“, dass Lehrer:innen aufgrund der schwierigen Verhältnisse an den Schulen weniger motiviert sind. Deshalb sollte „alles dafür getan werden, die Gesundheit der Lehrkräfte wieder zu stärken“, so der stellvertretende VBE-Vorsitzende. Nach Angaben des Schulbarometers fühlten sich 35 Prozent der Lehrer:innen mehrmals in der Woche (emotional) erschöpft, bei 68 Prozent war das mindestens einmal pro Woche der Fall. Bei Frauen, jüngeren Lehrkräften und Grundschullehrer:innen traten die Symptome verstärkt auf, bei Seiteneinsteiger:innen seltener als bei Personen mit absolvierten Lehramtsstudiengängen. Im internationalen Vergleich litten die bundesdeutschen Lehrkräfte durchschnittlich mehr an emotionaler Erschöpfung als Lehrer:innen in anderen Ländern.

Zwar zeigte sich die Mehrheit der Befragten mit dem Beruf als Lehrer:in (75 Prozent) bzw. Schulleiter:in (83 Prozent) zufrieden. Trotzdem würden sich über ein Viertel der Lehrkräfte (27 Prozent) und 19 Prozent der Schulleitungen nach eigenen Aussagen einen anderen Beruf suchen, wenn es für sie möglich wäre. Verglichen mit dem internationalen Mittelwert (vgl. TALIS-Studie, 2020) sind die bundesdeutschen Lehrer:innen weniger zufrieden als anderswo. Als derzeit dringendste Bedarfe an ihren Schulen nannten 41 Prozent der Lehrkräfte den Mangel an Personal, unter Grundschullehrer:innen waren es 51 Prozent. Über ein Drittel der Lehrenden (35 Prozent) sah Maßnahmen zum Sanieren und Renovieren sowie Investitionen in ihre Schule als vorrangig wichtig an. Lehrer:innen an Grund- und Sonderschulen (39 bzw. 40 Prozent) meldeten hier größere Erfordernisse für Verbesserungen an als z.B. an Gymnasien (30 Prozent).

Artikel als E-Mail versenden