VERFASSUNGSBESCHWERDE | FRAGWÜRDIGER TAGESSPIEGEL-KOMMENTAR : Karlsruhe pro Künast: Ein Signal gegen Hass und Hetze

11. Februar 2022 // Redaktion

„Welch eine Ohrfeige für die Berliner Zivilgerichte“! Mit dieser Bemerkung verband zwd-Herausgeber Holger H. Lührig seine Gratulation an die Grünen-Politikerin Renate ­Künast. Das von ihr beim Bundesverfassungsgericht erstrittene Urteil sei Mutmacher für alle, die sich gegen unsägliche Beschimpfungen, Verunglimpfungen sowie gegen die Persönlichkeitsrechte verletzenden Herabsetzungen zur Wehr setzen. Ein Beitrag im Berliner TAGESSPIEGEL wirft Fragen auf.

Das Bundesverfassungsgericht hatte ein Urteil des Berliner Kammergerichts (OLG) aufgehoben, das entschieden hatte, Künast könne gegen 11 von 22 Kommentaren vorgehen, müsse jedoch 10 andere hinnehmen. Künast hatte den Internet-Konzern Facebook verpflichten wollen, die Daten von Nutzer:innen herauszugeben, um gegen diese vorgehen zu können. Ursprünglich hatte ein Berliner Landgericht befunden, Künast müsse wüste Beschimpfungen wie „Drecksfotze“ und „Gehirn amputiert“ hinnehmen.

Aber auch die Abschwächung des LG-Urteils durch das Kammergericht wurde nun vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Die Gerichte hätten „unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts die verfassungsrechtliche Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht unterlassen“ (1 BvR 1073/20). Was die Politikerin Künast ebenso wie viele Persönlichkeiten in Politik und Medien als einen Meilenstein für die Rechtsgeschichte im digitalen Zeitalter begrüßen, ist hingegen für den Berliner TAGESSPIEGEL (TSP) kein Grund „zu feiern“, wie es in einem Kommentar von Jost Müller-Neuhof heißt. Der Jurist und presserechtliche Berater der Tageszeitung erkennt sogar mögliche „negative Folgen“ des Verfassungsgerichtsurteils und schreibt dazu:

„Selbstverständlich haben Politikerinnen und Politiker, auch wenn sie mehr aushalten müssen, denselben Achtungsanspruch wie alle Bürger. Klagen sie ihn aber ein, kann es so wirken, als wollten sie Kritiker mundtot machen. Künast für ihren Aktionismus ausgerechnet in dieser Sache zu feiern, fällt deshalb schwer. Auch gegen Politiker wie etwa Björn Höcke sollte man anlässlich ihres Geredes Abscheu ausdrücken können, ohne dass deswegen der Staatsanwalt kommt“.

Es ist schon fragwürdig, wie hier Müller-Neuhof eine gerade Linie zwischen Künast und Höcke zieht und dabei außer Acht lässt, dass die Eine sich gegen Hass und Hetze zur Wehr setzen muss, während der Andere mit neonazistischen-völkischen und offensichtlich verfassungsfeindlichen Parolen Anstalten unternimmt, das demokratische System der Bundesrepublik zu unterlaufen und genau deshalb zur Rechenschaft gezogen werden muss, ohne dass es einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft bedarf - die kann nämlich selbstständig entsprechende Ermittlungen in Gang setzen.

In einem weiteren Twitter-Tweet bedauert der zwd-Herausgeber, dass der TSP die Grünen-Politikerin und den AfD-Rechtsaußen auf eine Stufe stellt. Es sei nach 16-jähriger Verharmlosung der rechtsextremistischen Tendenzen und Reichsbürger-Aktivitäten gut, dass seit 8. Dezember eine Regierung im Amt sei, die mit den Minister:innen Nancy Faeser (SPD), Anne Spiegel (Grüne), Claudia Roth (Grüne) und Marco Buschmann (FDP) entschlossen sind, den Rechtsstaat gegen demokratiefeindliche Kräfte zu schützen.

Fraglich bleibe, ob der Tagesspiegel eine solche Lektion zu lernen bereit sei, nachdem er sich inzwischen täglich im Ampel-Bashing übt.

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