HILDA LÜHRIG-NOCKEMANN ÜBER DIE IGLU-STUDIE (2) : Lesekompetenz als Spiegel sozialer Disparitäten - Leseband als Lösungsansatz

1. August 2023 // Hilda Lührig-Nockemann

Ebenso wie es seit 2001 nicht erreicht wurde, den Unterschied in der Lesekompetenz zwischen Mädchen und Jungen dauerhaft abzubauen, ist es in 20 Jahren auch nicht gelungen, den Unterschied in der Lesekompetenz von Kindern aus sozial privilegierten gegenüber weniger privilegierten Familien deutlich zu verringern. Mit 40 Punkten Unterschied ist dieser seit zwanzig Jahren praktisch unverändert, bestätigt das Studien-Ergebnis. Erste Konsequenzen haben die Bundesländer schon gezogen. Beispielhaft: das Leseband der Hamburger Schulbehörde.

Hilda Lührig-NockemannKinder, deren Erziehungsberechtigte der oberen Dienstklasse angehören, erreichten 2021 im Durchschnitt 567 Punkte, während Kinder, deren Erziehungsberechtigte der (Fach-)Arbeiter-Gruppe angehören, nur 527 Punkte erreichten. Wichtige Indikatoren für die Lesekompetenz sind Armut (nur in Deutschland erhoben) und die deutsche Sprache. Aufwachsen in armutsgefährdeten Familien erhöht das Risiko, eine schwache Leser:in zu werden. Insgesamt lag 2021 die Lesekompetenz bei Kindern aus armutsgefährdeten Elternhäusern 47 Punkte niedriger als bei Kindern aus nicht armutsgefährdeten Elternhäusern. In der sozioökonomischen Stellung „Routinedienstleistungen“ zum Beispiel beträgt die mittlere Lesekompetenz bei armutsgefährdeten Schüler:innen 496 Punkte, 49 Punkte weniger als bei nicht armutsgefährdeten dieser Stellung. Nicht armutsgefährdete Kinder von un- und angelernten Arbeiter:innen haben gegenüber armutsgefährdeten nur noch einen Vorsprung von 19 Punkten (517 zu 498 Punkten), bei Selbstständigenm beträgt dieer Vorsprung nur 11 Punkte (siehe Grafik Seite .....).

Einen Vorsprung in der Lesekompetenz von 41 Punkten haben die Schüler:innen, bei denen zu Hause immer oder fast immer deutsch gesprochen wird (537 Punkte). Schüler:innen, bei denen manchmal oder nie deutsch gesprochen wird, erreichen nur 496 Punkte. Dieser Unterschied ist in Deutschland stärker ausgeprägt als im Durchschnitt der EU-Staaten, in den Niederlanden zum Beispiel beträgt er 20 Punkte und in Italien 19 Punkte. Das Fazit von IGLU 2021 lautet: „Im Trend zeigt sich, dass soziale Disparitäten in der Lesekompetenz in Deutschland seit 2001 nicht reduziert werden konnten – sich aber auch nicht verstärkt haben“ (Seite 173). Diese Einschätzung muss jedoch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass einerseits 2001 die mittlere Lesekompetenz der Viertklässlerinnen noch bei 539 Punkten (2021 bei 524 Punkten) lag, andererseits es einer Reihe von anderen teilnehmenden Staaten gelungen ist, die mittlere Lesekompetenz von 2001 bis 2021 zu verbessern. Verließ 2001 noch jede 6. Viertklässler:in in Deutschland die Grundschule ohne ausreichende Lesefähigkeit, war es 2021 schon jede(r) Vierte.

Gymnasialempfehlung: Seit 20 Jahren Ausdruck der Bildungs(un)gerechtigkeit

Bei der Gymnasialempfehlung – die laut Deutschem Bildungsserver in Bayern, Brandenburg und Thüringen verbindlich ist – orientieren sich Lehrer:innen neben anderen Leistungen auch an denen im Lesen, aber nicht unvoreingenommen: die soziale Herkunft der Schüler:innen bleibt ein Ressentiment in den Köpfen der Lehrkräfte. Während für Kinder aus der oberen Dienstklasse ein Schwellenwert der Lesekompetenz von 510 Punkten – 14 Punkte unter dem nationalen Mittelwert – für eine Gymnasialpräferenz reicht, liegt dieser bei Kindern von (Fach-)Arbeitern bei 559 Punkte. Sind beide Eltern im Ausland geboren, erwarten die Lehrkräfte von deren Kindern eine um 12 Punkte höhere Kompetenz – 544 Punkte – als von Kindern, deren beide Elternteile in Deutschland geboren sind.

Eine ernüchternde Bilanz wird in der Studie auf Seite 172 gezogen: „In den 20 Jahren seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten IGLU-Studie hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland praktisch nichts verändert. Weiterhin gilt, dass sowohl der sozioökonomische Status als auch der Migrationshintergrund von Familien einen deutlichen Zusammenhang mit dem Bildungserfolg ihrer Kinder aufweisen . (…) In einigen Bildungssystemen gelingt es entscheidend besser als in Deutschland, Lösungen für die Verringerung von sozialen Disparitäten im Bildungssystem umzusetzen. (...)

Der hessische Kultusministers Prof. Dr. Alexander Lorz (CDU) forderte im Deutschlandfunk (Dlf) „neue Strategien“ für Kinder, deren Eltern nicht deutsche Muttersprachler:innen seien.

Skepsis beim Grundschulverband: Umschichtung des Englischunterrichts auf den Leseunterricht

Mit seiner ironischen Vermutung „Wahrscheinlich wird es sogar jemanden geben, die nun als Konsequenz auf die katastrophalen Ergebnisse der IGLU-Studie ein neues Schulfach ‚Lesen‘ fordert“, lag der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung Gerhard Brand fast richtig – auf Bayern bezogen. Der dortige Vorsitzende des Philologenverbandes Michael Schwägerl will zwar nicht mehr Lese-, aber mehr Deutschunterricht. Er schlug vor, „die Englischstunden in der dritten und vierten Klasse für Deutschunterricht zu verwenden“. Den Englischunterricht hält auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger für verzichtbar. Die dafür vorgesehenen Stunden möchte er „umschichten“ – auf den Leseunterricht. Skepsis wird von Seiten des Grundschulverbandes geäußert. Der Streichung des Englischunterrichts steht dieser skeptisch gegenüber. Dessen Vorsitzender Edgar Bohn sieht die Lösung in einer besseren Finanzierung und im qualifizierten Personal.

Leseband: in vier Bundesländern nach Hamburger Modell

Anders als Schwägerls Vorschlag soll in Rheinland-Pfalz (RP) der Englisch- bzw. Französischunterricht nicht strichen werden, aber dessen Start von der ersten auf die dritte Klassenstufe verschoben werden, dann jedoch mit zwei anstatt bisher einer Wochenstunde erteilt werden. Dafür solle ab 2024/25 in der 2. Klasse eine Stunde Deutsch mehr erteilt werden. In die Lernzeiterweiterung für Deutsch solle eine verbindliche Lesezeit, ein sogenanntes Leseband, fest verankert werden, kündigte Bildungsministerin Dr.in Stefanie Hubig (SPD)an. Neben Rheinland-Pfalz wollen als Konsequenz auf den Iglu-Schock auch andere Bundesländer eine verbindliche Lesezeit im Stundenplan einführen: Nordrhein-Westfalen (NRW) und Brandenburg (BB) direkt ab dem Schuljahr 2023/2024, Mecklenburg-Vorpommern (MV) ab 2024/2025 – ebenso die Erhöhung der Stundenzahl für das Fach Deutsch (wie das Bildungsministerium MV schon am 11.Mai, fünf Tage vor der Vorstellung von IGLU 2021, bekannt gab). Während in Rheinland-Pfalz eine tägliche Lesezeit – ohne Angabe des Zeitumfangs – eingeplant werden soll, soll die Lesezeit in den anderen drei Bundesländern 20 Minuten umfassen: in Nordrhein-Westfalen dreimal pro Woche (Projekt „Drei mal 20 Minuten“), in Brandenburg (evtl auch 15 Minuten) an vier bis fünf Tagen pro Woche, in Mecklenburg-Vorpommern an drei bis fünf Tagen pro Woche unabhängig vom zu unterrichtenden Fach.

Orientieren wollen sich diese Länder am Hamburger Leseband. Nicht ohne Grund, denn Hamburg hatte sich im bundesweiten IQB-Bildungstrend 2021 im Bereich Lesen vom 14. auf den 3. Platz verbessert – obwohl ein Viertel aller Viertklässer:innen zu Hause kein Deutsch spricht. Der Erfolg wird der Einführung des Lesebandes zugeschrieben, das 2015 gestartet wurde. Im Rahmen der Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift (BISS)“ wurde es als kleines Pilotprojekt unter Schulsenator Ties Rabe (SPD) an sechs Hamburger Grundschulen eingeführt. Derzeit wird es an mehr als einem Drittel aller Grundschulen der Hansestadt umgesetzt – zusätzlich zum Unterricht. Eingesetzt werden verschiedene Lautlese-Verfahren wie „Lesen durch Hören“, „chorisches Lesen“ und „Tandem-Lesen oder Lesetheater“.

Aufgrund seiner verpflichtenden Lesezeit gilt das Leseband als Schritt in die richtige Richtung. Denn die IGLU-Studie hatte bescheinigt, dass deutsche Grundschulen im Zeitaufwand für Lesen mit 28 Minuten pro Schultag (141 Minuten pro Woche) den europäischen Schulen weit hinterherhinken. Dort beträgt der Anteil „lesebezogener Aktivitäten“ 39 Minuten pro Tag – durchschnittlich 194 Minuten pro Woche –, in der OECD-Vergleichsgruppe sogar 41 Minuten pro Tag (205 pro Woche). Deutsche Grundschüler:innen lesen also in der Woche 53 bzw. 64 Minuten weniger.

Paradigmenwechsel: Sprachförderung in der frühkindlichen Bildung und in jedem Schulfach

Verbindliche Lesezeiten sind zwar ein wichtiger Schritt, aber abhängig von anderen Fakten.Nicht geklärt ist, wie bei dem ohnehin gravierenden Lehrer:innenmangel zusätzlich professionelle Lehrkräfte sowohl für das sogenannte Leseband als auch für den in einigen Bundesländern angekündigten zusätzlichen Deutschunterricht eingestellt werden können. Offen bleibt, ob dieser auf Kosten anderer Fächer erteilt soll – das wäre eine problematische Lösung. Ein Paradigmenwechsel ist auch im Verständnis vom Fachunterricht angesagt. Unabhängig davon welches Fach – Mathematik, Sachunterricht oder Musik – auf dem Stundenplan steht, muss Lesekompetenz trainiert werden – als Technik und verstehendes Lesen. Denn Lesen ist eine Basiskompetenz für nahezu alle Schulfächer, nahezu alle Berufe und die individuelle Lebensqualität.

Die notwendige und angekündigte „bildungspolitische Trendwende“ hat sich zum Ziel gesetzt, den Lese- und damit auch Bildungserfolg eines Kindes von seiner Herkunft zu entkoppeln. Das jedoch dürfte nur gelingen, wenn die Trendwende die Kita einbeziehen. Der Paradigmenwechsel muss Kitas neu denken: Spielen ja, aber auch spielerisch lernen, zum Beispiel die Sprache. Die Sprachförderung kann so schon einen Platz in der frühkindlichen Bildung haben, wie die Schulministerinnen Hubig und Oldenburg postulieren. Profitieren würden davon 92,2 Prozent der Kinder im Vorschulalter ab drei Jahren. (BMFSFJ, Stand 01.03.2021). Doch an den sogenannten Brennpunktschulen werden nicht 7,8 Prozent, sondern 17,4 Prozent Kinder ohne Kita-Besuch eingeschult – und diese haben nach Aussage von Dreiviertel der befragten Schulleitungen einen großem bzw. sehr großen Unterstützungsbedarf im Bereich der Sprachkompetenzen (Wübben-Stiftung: Schule im Brennpunkt 2023). Schon rufen die ersten Bundesländer nach einer Kita-Pflicht. Längst Standard ist in Berlin eine 18-monatige Kita-Plicht für Kinder mit Sprachförderbedarf, ersatzweise auch eine Förderung außerhalb der Kita. In Hamburg ist für Kinder mit Sprachproblemen, die keinen Kita-Platz haben, der Besuch einer Vorschule verpflichtend. Doch auch wenn die Kita-Pflicht in den Bundesländern gesetzlich verankert würde, stellt sich in der frühkindlichen Bildung das gleiche Problem wie in der schulischen: erstens das Kontingent für die dafür notwendigen Erzieher:innen ist ausgeschöpft und zweitens bedarf es qualifizierten Personals für die Sprachfördermaßnahmen sowohl für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache als auch mit Sprachentwicklungsverzögerungen.

Conclusio: Mangelnde Sprachkompetenz kann in den Bildungseinrichtungen Kita und Schule nur überwunden werden, wenn Bund und Länder im selben Boot sitzen und in dieselbe Richtung rudern. Als reiches Industrieland muss Deutschland der Bildung auf der Prioritätenliste – auch der finanziellen – einen oberen Platz einräumen.

Ergänzende Infos im zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 397

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