In Deutschland ist der qualifizierte Unterricht für die insgesamt 8,4 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen nicht mehr gesichert. An den rund 40.000 Schulen fehlen Lehrkräfte, momentan mehr als 12.000. Das ergab eine Nachfrage des Redaktionsnetzwerkes Deutschland (RND) in den 16 deutschen Kultusministerien. Deren Angaben zufolge fehlen in dem bevölkerungsreichsten Bundesland mehr als 8.000 Lehrkräfte, in einem Bundesland gibt es sogar ein Überangebot und in vier Bundesländern keinen Mangel (siehe Tabelle auf dieser Seite). „Geschönt“ haben die Ministerien diese Zahlen nach Auffassung des Präsidenten des Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Er geht von 32.000 bis 40.000 unbesetzten Lehrer:innenstellen aus. Dass „das Problem des Lehrkräftemangels aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben wird“, prognostiziert die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz in ihren am 27. Januar 2023 vorgestellten „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“. Ein Grund dafür sei, dass den Pensionierungswellen nur kleine Geburtskohorten gegenüberstünden, aus denen Lehramtsstudierende gewonnen werden könnten.
Klemm: Bis 2035 ein Lehrkräftemangel von mindestens 85.293 Stellen
Die Schüler:innenzahlen aber werden in den kommenden Jahren steigen. Allein mit Beginn dieses Schuljahres sind laut Statistischem Bundesamt 810.000 Kinder – so viel wie seit 17 Jahren nicht mehr – eingeschult worden, 40.000 (5,2 %) mehr als im Vorjahr. Auf Basis der heute geltenden Lehrer:in-Schüler:in-Relation (1 : 16) geht das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (iw) von einem Lehrkräftemangel von 68.000 im Schuljahr 2030/31 und fünf Jahre später sogar von 76.000 aus. Bei Berücksichtigung der Zuwanderung, wie derzeit aus der Ukraine, würden die Schüler:innenzahlen und damit auch der Lehrkräftebedarf steigen, gab es zu bedenken. Um etwa 10.000 Pädagog:innen höher war der Lehrkräftemangel (85.293), den Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm bis zum Jahr 2035 in einer Studie für den Verband Bildung und Erziehung 2022 ermittelte. Unter Berücksichtigung der politisch gesetzten Reformvorhaben – dem Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung im Grundschulalter (17.830 zusätzlich bis 2030), dem Unterricht an inklusiv arbeitenden Schulen (25.650 zusätzlich bis 2030) sowie der Unterstützung von Schulen in herausfordernden sozialen Lagen (24.300 zusätzlich bis 2030) – müsse jedoch von einem Gesamtvakuum von 158.323 Lehrkräften ausgegangen werden – unter dem Vorbehalt, dass tatsächlich Lehrkräfte eingestellt würden.
KMK: ab 2035 Lehrkräftebedarf rückläufig
Nach Berechnungen der KMK, die bis 2035 von einem Neuangebot ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer in Höhe von 477.580 ausgeht, werden bis 2035 jedoch nur 23.840 Stellen – rund 11.000 weniger als 2030/31 – nicht besetzt. Folglich geht die KMK ab dem Schuljahr 2031/32 von sinkenden Schüler:innenzahlen aus, denn bis zum Schuljahr 2030/31 hat sie noch einen bundesweiter Zuwachs der Schüler:innenzahl von 9 Prozent prognostiziert – in der Bandbreite zwischen 17,3 Prozent (Berlin) über 8,5 Prozent (Schleswig-Holstein) bis zu 1,4 Prozent (Thüringen). Nur in Sachsen-Anhalt (- 0,6 %) und im Saarland (- 1,6 %) sinken die Zahlen.
Für Andrej Priboschek, Herausgeber von News4teachers, ist es nach Veröffentlichung des SWK-Papiers klar, dass es „ihnen (den Kultusminister:innen – Red.) auf absehbare Zeit nicht gelingen wird, ein Bildungssystem zu gewährleisten, das dem Status von Deutschland als einem der reichsten Industrieländer der Welt entspricht.“ Unbegründet ist diese Sorge nicht: Im Abgangsjahr 2021 haben laut statista 47.492 Schulabgänger:innen eine allgemeinbildende Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, 22.157 von ihnen besuchten eine Förderschule. Bekommen die Länder den Lehrer:innenmangel nicht in den Griff, wird sich dieses Problem verschärfen.
GEW-15-Punkte-Programm: keine Erhöhung von Klassensequenz und Arbeitszeit
Empfehlungen zum Umgang mit der Situation hatten sowohl die SWK als auch die GEW ausgesprochen. Am 10. November brachte die Lehrer:innengewerkschaft „Ein 15-Punkte-Programm gegen den Lehrermangel“ heraus (siehe Seite 31) – unter anderem von multiprofessionellen Teams über die Einstellung von IT-Fachleuten bis hin zur besseren Ausstattung von Schulen im schwierigen Umfeld. Knapp drei Monate später folgte das wissenschaftliche Beratergremium der Kultusministerkonferenz mit einem Katalog von sechs Empfehlungen (Seite 31) – von der Weiterqualifizierung von Gymnasialkräften für andere Schulformen über die Einstellung von nicht vollständig qualifiziertem Personal bis zum Hybridunterricht. In der Qualifizierung von Quer-und Seiteneinsteiger:innen, der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen sowie der Entlastung von Verwaltungsaufgaben sehen beide Gremien eine Möglichkeit, den Lehrkräftemangel zu reduzieren. Gegensätzlich argumentieren sie bei der Klassenfrequenz und Arbeitszeit, die jeweils die SWK erhöhen und die GEW senken will.
Teilzeitbeschäftigte: an allgemeinbildenden Schulen 241.000 Frauen, 35.910 Männer
Mit der Gewinnung von Lehrkräften im Ruhestand, Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung aus Altersgründen, Begrenzung von Teilzeitarbeit und einer befristeten Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung will die SWK Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften erschließen. Explizit dem Thema Teilzeit wird in dem 40-seitigen Papier eine Seite gewidmet, denn in deren Reduzierung sieht die SWK erhebliches Potenzial. Fakt ist nach Angaben der SWK, dass die Teilzeitquote im Lehramt mit rund 47 Prozent um nahezu 20 Prozentpunkte höher liegt als bei anderen Erwerbstätigen. Je nach Bundesland schwankt sie zwischen 25 und 57 Prozent an allgemeinbildenden Schulen (siehe auch Grafik unten) und 38 und 59 Prozent an berufsbildenden Schulen. Von den rund 447.000 Teilzeitkräften an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen waren laut Bildungsbericht 2022 im Jahr 2020 rund 130.000 Lehrkräfte, also knapp 30 Prozent, mit einem Stundendeputat von weniger als 50 Prozent beschäftigt. Teilzeitarbeit im Schuldienst ist – wie auch in anderen Berufsfeldern – weiblich dominiert, denn laut dem nationalem Bildungsbericht 2022 lag der Frauenanteil im Schuljahr 2021/22 bei 74 Prozent. Von denen befanden sich laut SWK rund 54 Prozent in Teilzeit – mit 59 Prozent an Gymnasien am höchsten –, von den männlichen nur 30 Prozent. Für die allgemeinbildenden Schulen berechnete Destatis für das Schuljahr 2020/21, dass von den insgesamt 513.000 weiblichen Lehrkräften 47 Prozent (241.110) in Teilzeit arbeiteten, von den 189.000 männlichen dagegen nur 19 Prozent (35.910). Ein erheblicher Anteil, konstatiert die SWK, sei der Familiengründungsphase zuzuordnen, wenngleich auch gesundheitliche und organisatorische Gründe bei der Entscheidung für die Reduzierung der Unterrichtsstunden von Relevanz seien. Dennoch empfiehlt die SWK weniger Teilzeitoptionen für Lehrer:innen (siehe nebenstehenden Kasten).
Kontraproduktiv: Abschaffung von Teilzeit
Demgegenüber fordert die GEW in ihrem 15-Punkte-Programm eine Senkung der Arbeitszeit, mehr Ausgleichsstunden sowie eine höhere Altersermäßigung, denn die meisten Lehrkräfte würden unter hohen Belastungen leiden. „Die Folge: Überdurchschnittlich hohe Teilzeitquoten, (…), Langzeiterkrankungen, Frühpensionierungen“, heißt es in dem Papier unter Punkt 1 „Arbeitszeitreserven heben“. Für kontraproduktiv hält auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Mei-dinger, die Erhöhung der Teilzeit. „Wer Teilzeit und Altersermäßigung abschaffen will, treibt noch mehr Lehrkräfte in die Frühpensionierung und den Burnout“, warnte er Ende Januar in ARD-aktuell. „Eine beispiellose Krankheitswelle“, die die Situation verschlechtere anstatt sie zu verbessern, prognostiziert der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Gerhard Brand, wenn die Lehrkräfte zur Aufstockung der Stundenzahl gezwungen würden. „Und das möchten die Kultusministerien nicht gerne hören: es ist die enorme Arbeitsbelastung, welche dazu führt, nicht in Vollzeit arbeiten gehen zu können“, moniert er mit Blick auf die staatlichen Arbeitgeber:innen. Die Lösung des Problems „auf dem Rücken der Lehrkräfte“ auszutragen, wiesen GEW und VBE strikt zurück.
Forderung: KMK mit Lehrer:innen-Organisationen an einen Tisch
Dennoch – bei aller Kritik – signalisieren die drei Organisationen Kooperationsbereitschaft. In den Worten der GEW-Vorsitzenden Maike Finnern heißt das: „Die Kultusministerinnen und Kultusminister müssen mit Gewerkschaften und Verbänden an einen Tisch kommen und gemeinsam Kompromisse finden.“ Vor dem Hintergrund von fehlenden Schulabschlüssen – jährlich ca. 50.000! – und dem Nicht-Erreichen des Mindeststandards – am Ende des 4. Schuljahres in Lesen (18,8 Prozent!), Orthografie (30,4 Prozent!) und Mathematik (21,8 Prozent!) – dürfte ein gemeinsamer Weg eine notwendige Option sein.
Diesen hat Mecklenburg-Vorpommern – zumindest mit der GEW – schon betreten. Der „GEW, unserem Partner im Bildungspakt“ hatte Bildungsministerin Simone Oldenburg (Die Linke) zugesagt, die Teilzeitmöglichkeiten nicht zu beschränken. In Anbetracht der riesigen zu bearbeitenden Baustellen kündigt auch Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg (B90/Die Grüne) Zusammenarbeit an: „Ich werde mit den Lehrerverbänden und Gewerkschaften, den Eltern- und Schülervertretungen zu diesen Fragen in einen intensiven Austausch gehen.“
Rabe: „Tiefgreifende Wende in der Bildungspolitik“
Doch in der KMK besteht offensichtlich zumindest aktuell kein Bedarf an einer weitergehenden Kooperation. Sie teilte am 27.Januar in ihrer Stellungnahme zu den von ihr in Auftrag gegebenen SWK-Empfehlungen mit, dass sie aktuell an einem Gutachten zur Lehrkräftegewinnung und -qualifizierung arbeite, von der Einbeziehung von anderen Gremien war jedoch nicht die Rede. Nicht rütteln will die Kultusministerkonferenz an „qualitativ hochwertigem Unterricht“, wie Astrid Busse (SPD, Berlin), Präsidentin der Kultusministerkonferenz, zu Protokoll gab. Deshalb müsse die Verantwortung für den Unterricht bei qualifizierten Lehrkräften liegen, betonte Dr.in Felicitas Thiel, Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin und Co-Vorsitzende der SWK. Ein erhebliches Potenzial dafür sieht Prof. Dr. Alexander Lorz (CDU, Hessen), Länderkoordinator für die B-Länder1, in den Teilzeitkräften durch Erhöhung ihrer Arbeitszeit. Für Ties Rabe (SPD, Hamburg), Länderkoordinator für die A-Länder2, gehört – mit Berufung auf die Prog-nose der Wissenschaftler:innen – zur Schulrealität, auf Dauer nicht genügend Lehrkräfte finden zu können. Doch wie will die KMK dem Lehrkräftemangel entgegenwirken? „Mit dem Drehen an mehreren Stellschrauben“ (Busse), mit „Kreativität“ (Lorz), mit einer „tiefgreifenden Wende in der Bildungspolitik“ (Rabe), mit „neuen Formen der Unterrichtsorganisation“ (Thiel)! Damit kündigt die KMK einen Kurswechsel an, schweigt jedoch (noch) zu konkreten Maßnahmen. Diese werden dann, wovon auszugehen ist, in dem angekündigten Gutachten nachgereicht.
von Bedeutung: „Instanz, (…) losgelöst von der Logik der Politik, die Defizite kleinzureden“
Für die KMK darf es kein Tabu sein, mit den Gremien – von Elternverbänden über Gewerkschaften bis zu Hochschulen – neue Konzepte zur Sicherung eines qualifizierten Unterrichts zu entwickeln. Diese erfordern der aktuellen Notlage entsprechend zunächst eine kurzfristige, grundsätzlich jedoch eine langfristige Strategie. Dazu bedürfe es, sagte der Ex-Staatssekretär für Bildung in Berlin, Mark Rackles, dem Schulportal der Robert Bosch Stiftung, „einer Instanz, die von außen drauf schaut, losgelöst von der Logik der Politik, die Defizite kleinzureden“. Als „hausgemachtes Versäumnis der Schulministerien“ hatte Meidinger den Lehrkräftemangel schon im September 2018 im Deutschlandfunk Kultur ausgemacht. Sie hätten auf den Geburtenanstieg, den es seit 2012 gebe, nicht reagiert. Auf die „Schönrechnerei der KMK“, auf die seit Jahren Bildungsforschende, Verbände und die GEW hingewiesen hätten, machte auch Finnern erneut am 27. Januar vor dem Hintergrund der Empfehlungen der SWK aufmerksam „Passiert ist: nichts“, registrierte sie in Hinsicht auf den akuten Lehrkräftemangel. Der von Rackles avisierte Blick von außen scheint vor dem Hintergrund dringend notwendig zu sein.
1 Der Begriff „B-Länder“ wird - seit 1971 - gebräuchlich verwendet für Vorabsprachegremien der unionsgeführten Länderminister:innen.
2 Als „A“-Länder gelten die Gremientreffen von Vertreter:innen der SPD-geführten Länder.