zwd Berlin. Häusliche Gewalt in der Bundesrepublik sei „kein Randphänomen“, erklärt die Leiterin der Berichterstatterstelle für geschlechtsbezogene Gewalt am DIMR Müşerref Tanrıverdi im Jahresbericht 2023, der dem Bundestag als Unterrichtung (Drs. 20/ 12395) vorliegt. Laut Bundeskriminalamt (BKA) seien täglich 650 Personen von Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen, bei hoher Dunkelziffer. Im Lande werde „das enorme Ausmaß an häuslicher Gewalt (...) immer noch nicht ausreichend wahrgenommen“, betont Tanrıverdi.
70
Prozent der von häuslicher Gewalt Betroffenen sind nach Angaben der
Leiterin der DIMR-Berichterstatterstelle Frauen, die meisten
Tatverdächtigen Männer. Das Risiko für Frauen und Kinder,
tödlicher Gewalt zum Opfer zu fallen, steige während und kurz nach
der Trennungsphase im Vergleich zur Zeit des Zusammenlebens auf das
Fünffache an. Ebenso
fehle das Bewusstsein, dass Gewalt gegen Frauen „keine
Privatsache“ sei, sondern der Staat durch die Menschenrechte
zum „wirksamen Schutz“ davor verpflichtet sei. Das „Thema
Gewaltschutz“ werde auch in rechtlicher Hinsicht bisher nicht
hinreichend berücksichtigt, so Tanrıverdi.
DIMR: Strategie im Kampf gegen häusliche Gewalt erforderlich
Grundsätzlich begrüßt das Menschenrechtsinstitut, dass die Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode beabsichtige, auch das Umgangs- und Sorgerecht zu reformieren, dabei sollte die Koalition die an der IK orientierten Empfehlungen des DIMR einbeziehen. Für wirksames Bekämpfen und Prävention von geschlechtsspezifischer wie häuslicher Gewalt brauche man jedoch eine „evidenzbasierte, umfassende und koordinierte Strategie“. Zahlreiche politische wie gesetzgeberische Maßnahmen seien erforderlich, v.a. zur Sensibilisierung der Beteiligten bei Familiengerichtsverfahren, ein Hilfs- und Schutzsystem, das für alle Gewaltbetroffenen zugänglich ist, und „gesellschaftliche Ächtung von Gewalt gegen Frauen".
Im Umgangs- und Sorgerecht fehlen Regelungen zum Gewaltschutz
Auf
Grundlage der 2023 vom DIMR veröffentlichten Analyse zu häuslicher
Gewalt in Bezug auf das Umgangs- und Sorgerecht kritisiert das
Menschenrechtsinstitut, dass hier schon eine Definition des Begriffs
fehle. Darüber hinaus ermangele es an Regelungen, die ausdrücklich
den Schutz für den von Gewalt betroffenen Elternteil beachten. Als
insbesondere problematisch bezeichnet das DIMR Grundannahmen,
auf denen die Vorschriften basieren,
wie die Vorstellung der „gemeinsamen, kooperativen Elternschaft“
und des beiderseitigen Einigungsgebots der Eltern in Streitfällen.
Das
DIMR schlägt vor, erst einmal das geltende Recht konsequent
anzuwenden und häusliche
Gewalt bei Kindeswohl-Prüfungen
in Verfahren zum Umgangs- und Sorgerecht zu
berücksichtigen. Damit
Beteiligte die „Dynamiken von häuslicher Gewalt“ und deren
Folgen für Betroffene besser erkennen, bedürfe es „verpflichtender
Fortbildungen“ zu
diesem Thema, die
sowohl Kinder als auch gewaltbedrohte Elternteile in den Blick
nehmen. Den
Vorgaben der Istanbul-Konvention (IK) gemäß dürften,
um bei Trennung Umgang und Sorge zu regeln, weder das Kind noch der
von Gewalt bedrohte Elternteil einer Gefahr ausgesetzt sein. Bei der
derzeitigen Interpretation von Kindeswohl sei aber der Schutz des
gewaltbetroffenen Elternteils – z.B. bei gerichtlich angeordneten
Umgangsvorschriften, die faktisch Kontakt mit dem Gewalttäter erzwingen
- nicht genug gewährleistet.
Mitspracherecht bei Umgangsregelungen könnte Kindeswohl stärken
Für
das Kindeswohl sei Umgang mit Müttern und Vätern zwar in
Trennungsfamilien i.A. eine „geeignete Lösung“, nicht jedoch
bei häuslichen Gewaltkonflikten. Das
Institut empfiehlt, dass man jeden Einzelfall „sorgfältig
()prüf(en) und ab(wägen)“ müsse. Ein
„gemeinsames Umgangs- und Sorgerecht“ sei
zunächst dort nicht anzustreben, wo
Kinder Gewalt gegen ein Elternteil selbst miterleben oder
Gewalterfahrung das Verhältnis der Eltern belastet.
Umgang
von Kindern mit einem gewalttätigen Elternteil gefährde
diese selbst, mahnt das Institut,
nicht erst indem sie ebenfalls körperliche Gewalt erleiden, Auch das
Miterleben der im häuslichen Milieu verübten Aggression könne sich
„negativ auf ihre Entwicklung auswirken“, psychische Gewalt sei
IK und UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) zufolge
ebenso
eine
Form von Gewalttätigkeit. Nach Auffassung des Instituts könnte ein
Mitspracherecht bei Umgangsregelungen aufseiten der Kinder dazu
beitragen, deren Wohlergehen
entsprechend
der UN-KRK zu gewährleisten.