GENDER PAY GAP : Eine bahnbrechenden Neubewertung der Frauenarbeit

19. Oktober 2022 // Dr. Barbara Stiegler

Eine Wissenschaftler:innen-Gruppe unter Leitung der Geschäftsführenden Direktorin des Instituts Arbeit und Qualifikation Professorin Ute Klammer u.a. hat den Gender Pay Gap (GPG) neu berechnet und in die ihn bedingenden Faktoren erstmals die Minderbewertung weiblicher Arbeit einbezogen. zwd-POLITIKMAGAZIN-Autorin Dr.in Barbara Stiegler schätzt diese Neubewertung des GPG als ein bahnbrechendes Ergebnis ein, weil endlich die Minderbewertung der weiblichen Arbeit – auch in den Tarifen –thematisiert wird. Zusammen mit den europarechtlichen Bestimmungen für eine geschlechtergerechte Arbeitsbewertung könnte darin ein neuer Anstoß für die Aufwertung der Frauenarbeit auch für die Tarifparteien liegen. Ein Beitrag in Ausgabe 393.

Bildquelle: Frauenarbeit - Pixabay
Bildquelle: Frauenarbeit - Pixabay

Dr. Barbara Stiegler (Bild): "Die Unterbewertung der Frauenarbeit bleibt Ausdruck der Geschlechterhierarchie"

Wir sind es schon gewohnt: Jedes Jahr gibt das Statistische Bundesamt den neuen Gender Pay (GPG) bekannt. Der GPG in Deutschland ist im europäischen Vergleich sehr hoch und er sinkt nur äußerst langsam. Diskutiert werden die verschiedensten (vermeintlichen) Gründe für diesen Gap: Frauen verhandeln zu schlecht, sie wählen die schlechter bezahlten Berufe, sie interessieren sich weniger für Technik und für Führungspositionen fehlt ihnen auch der Mut. Mit anderen Worten, Frauen sind selbst schuld. Solche Argumente beruhen auf misogynen Unterstellungen, das ist klar. Aber wo liegen die eigentlichen Gründe für den GPG?

Gleichstellung erfüllt?

Der GPG besteht aus zwei verschiedenen Werten: der erste Wert, bedauerlicher Weise „unbereinigt“ genannt, erfasst den realen Unterschied in den Bruttostundenlöhnen von Männern und Frauen. 2021 lag dieser bei 18 Prozent. Der zweite Wert, bedauerlicherweise „bereinigt“ genannt, versucht, die Gründe hierfür zu berücksichtigen. Der bereinigte GPG betrug 2018 (letzte Berechnung) nur 6 Prozent. Gerne wird dieser so sauber klingende Wert dann auch von all denen zitiert, die behaupten, dass die Gleichstellung bereits erfüllt sei.

Bei der Berechnung des bereinigten Wertes werden nur noch die Verdienstunterschiede zwischen denjenigen Männern und Frauen einbezogen, die vergleichbare Qualifikationen, vergleichbare Tätigkeiten (hier werden 5 Leistungsgruppen berücksichtigt) und vergleichbare Erwerbsbiografien haben. Diese Faktoren werden Ausstattungsfaktoren genannt. Die Logik, die dahintersteckt: Wenn nur Personen mit den gleichen Ausstattungsfaktoren in die Berechnung einbezogen werden, kommt man auf den „wahren“ Diskriminierungswert. Der so „bereinigte“ GPG ist also das Ergebnis einer statistischen Ursachenanalyse, bei der Ausstattungsfaktoren, die als Gründe für den weitaus höheren „unbereinigten“ GPG herangezogen werden, mit einer sogenannten „Dekompositionsanalyse “ wieder „heraus gerechnet“ werden. Er soll nur noch den Wert der „eigentlichen“ Diskriminierung anzeigen.

Allerdings wird dabei übersehen, dass erstens die Ausstattungsfaktoren, die hier herausgerechnet werden, bereits Ausdruck von tiefer liegenden, strukturellen Diskriminierungsfaktoren sind, ohne dass diese als solche benannt werden. Es gibt z.B. unterschiedliche Chancen von Frauen und Männern überhaupt zu bestimmten Positionen oder Jobs zu gelangen. Auch die Erwerbsbiographien beruhen auf der diskriminierenden, geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, insbesondere was Haus- und Pflegearbeiten angeht. Darüber hinaus werden zweitens mit den hier statistisch erfassten Ausstattungsfaktoren überhaupt nicht alle relevanten Faktoren erfasst. Bei den Berechnungen des statistischen Bundesamtes fehlt vor allem der Faktor Arbeitsbewertung komplett.

Eine angemessene Berechnung und Analyse des GPG muss alle strukturellen Diskriminierungsfaktoren einbeziehen, erst dann kann ihr jeweiliger Einfluss richtig bestimmt werden. Eine solche Analyse hat Ute Klammer (Bild links) mit ihrem Team1 jetzt vorgelegt. Entscheidend bei dieser neuen Analyse ist, dass erstmalig die Arbeitsbewertung als Faktor in die Berechnung des Entgeltunterschiedes einbezogen wurde.

Der sogenannte bereinigte Wert, der bekanntlich nach den Unterschieden zwischen Männern und Frauen fragt und diese dann „herausrechnet“, ist danach höher und nur zur Hälfte durch Unterschiede in der Ausstattung von Frauen und Männern mit einkommensrelevanten Merkmalen (z.B. Berufserfahrung, Arbeitszeit, Alter, Branche, Unternehmensgröße), = „Ausstattungseffekt“ zu erklären. Genauso hoch ist der Einfluss der unterschiedlichen Bewertung dieser Merkmale bei Frauen und bei Männern, = „Bewertungseffekt“. Der bereinigte GPG beträgt dieser neuen Studie zufolge 9,75 Prozentpunkte.

Die Unterbewertung der Frauenarbeit bleibt Ausdruck der Geschlechterhierarchie

Ausgangspunkt dieser Analyse ist die Debatte über die Unterbewertung (Devaluation) von Frauenarbeit, wie sie in der Geschlechterforschung, aber auch in der Arbeitswissenschaft international schon lange geführt wurde und wird. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen es tariflich einen generellen Frauenabschlag im Stundenlohn gab. Das war der einfachste und krasseste Ausdruck der Unterbewertung von Frauenarbeit. Der Abschlag ist schon 1955 vom Verfassungsgericht verboten worden, die Unterbewertung aber blieb und kommt seither in versteckter Form in den gängigen Arbeitsbewertungssystemen wieder zum Tragen. Unterbewertung ist und bleibt Ausdruck der Geschlechterhierarchie, in der Männliches mehr wert ist als Weibliches, auch heute noch.

Geschlechtsneutrales Arbeitsbewertungssystem als Berechnungsgrundlage

Gewerkschaftlich organisierte Frauen haben schon in den 90er Jahren in Aufwertungskampagnen laut nach einem geschlechtergerechten Arbeitsbewertungsinstrument gerufen. Die ersten Studien hierzu wurden Anfang der 2000er Jahre vorgelegt. Ein wichtiger Beitrag folgte 2018 von Ute Klammer u.a. in einem von der Hans Böckler Stiftung finanzierten Projekt: dort entwickelten sie den Comparable Worth Index (CW Index)2. Dieser Index, der für (fast) jeden Beruf errechnet wurde, zeigt den „Wert“ der jeweiligen beruflichen Tätigkeit an.

Und das Wichtigste: Bei der Berechnung dieses Wertes wird ein geschlechtsneutrales Arbeitsbewertungssystem zugrunde gelegt, das die Anforderungen und Belastungen in den Dimensionen Wissen und Können, psycho-soziale Aspekte, physische Aspekte sowie Verantwortung misst. Eine wesentliche Verbesserung liegt auch in der Methodik der Erfassung der beruflichen Anforderungen. Erstmals werden Daten aus Befragungen der Beschäftigten selbst verwendet (aktualisiert mit den neuesten verfügbaren Daten der BiBb/BAuA-Befragung). Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man zur Erfassung der beruflichen Tätigkeiten nur die vom Arbeitgeber bestimmte Eingruppierung in Leistungsgruppen zugrunde legt – wie es das Statistische Bundesamt tut – oder Aussagen der Beschäftigten über ihre eigenen Tätigkeiten. Die Autor_innen setzen in einem weiteren Schritt den CW Index mit den für die jeweiligen Berufe üblichen Entgelten in Beziehung.

Barbara Stiegler: „Nach diesen Erkenntnissen müssten die Tarifvertragsparteien an die Verhandlungstische eilen, um diese Diskriminierungen durch die Arbeitsbewertung endlich zu beseitigen. Ebenso müsste der Gesetzgeber endlich realisieren, dass selbst Tarifverträge diskriminieren können.“

Ergebnis: die beruflichen Anforderungen und Belastungen im Rahmen überwiegend weiblicher Erwerbsarbeit werden geringer entlohnt als die gleichen Anforderungen und gleichen Belastungen im Rahmen überwiegend männlicher Erwerbsarbeit! Ein Beispiel: Trotz eines vergleichbaren Ausmaßes an Arbeitsanforderungen und -belastungen (der CW Index ist also gleich) verdienen Führungskräfte im Bereich IT-Dienstleistungen knapp 17 Euro mehr die Stunde als Fachkräfte in Pflege und Gesundheit.

Damit war mit Hilfe des CW Index erstmals die Unterbewertung vorwiegend weiblicher Arbeit wissenschaftlich belegt. Bislang war aber nicht klar, welchen Einfluss die Arbeitsbewertung auf den GPG hat. In den aktuellen Neuberechnungen des GPG von Klammer u.a., wurde nun in einer Dekompositionsanalyse statt der beim statistischen Bundesamt üblichen 5 Leistungsgruppen der CW Index der Berufe einbezogen. Die Hauptkritik an der Verwendung dieser vom Statistischen Bundesamt benutzten Leistungsgruppen liegt darin, dass dabei als Kriterien nur Qualifikationsanforderungen und Führungsverantwortung berücksichtigt werden, und dies auch nur in grober Unterteilung. Außerdem fehlen die psycho-sozialen Anforderungen und alle anderen Formen von Belastungen.

Der Faktor Arbeitsbewertung als Diskriminierungsfaktor

Die Ergebnisse dieser neuen Berechnungen sind bahnbrechend:

  • Etwa 13 Prozentpunkte des GPG, also fast drei Viertel des gesamten „unbereinigten“ GPG lassen sich auf die unterschiedliche Bezahlung gleich hoher Anforderungen und Belastungen zwischen Frauen und Männern, also eine nicht geschlechtsneutrale Arbeitsbewertung, zurückführen.
  • Der Einfluss der übrigen, bislang erfassten Einflussfaktoren wird relativiert: die geschlechterdiskriminierende Unterbewertung der Frauenarbeit erklärt einen größeren Teil des GPG als es die sogenannten Ausstattungsfaktoren (Berufserfahrung, Arbeitszeit, Alter, Branche, Unternehmensgröße) tun .
  • Eine Einbeziehung des Faktors Arbeitsbewertung als Diskriminierungsfaktor führt auch dazu, dass der „bereinigte“ GAP nicht nur bei 6 Prozent, sondern bei etwa 9 Prozent liegt.
  • Warum ist es so wichtig, das zu wissen? Ein Abbau der hohen Entgeltungleichheit kann nur gelingen, wenn alle Faktoren, die zu den großen Entgeltunterschieden zwischen Männern und Frauen führen, bekannt sind, wenn die Höhe des Einflusses bestimmter Faktoren berechnet ist, und der Beweis erbracht wird, dass es sich um Diskriminierungen handelt. Das geschlechtergerechte Arbeitsbewertungssystem, auf dem der CW Index beruht, und der nun in die Neuberechnung des GPG einbezogen worden ist, ist ein wesentliches Instrument, um Entgeltgleichheit zu erreichen. Es steht jetzt für die Praxis in Betrieben und Gewerkschaften zur Verfügung.

    Spätestens nach diesen Erkenntnissen müssten die Tarifvertragsparteien an die Verhandlungstische eilen, um diese Diskriminierungen durch die Arbeitsbewertung endlich zu beseitigen. Ebenso müsste der Gesetzgeber endlich realisieren, dass selbst Tarifverträge diskriminieren können. Hat er doch im (ansonsten zahnlosen) Entgelttransparenzgesetz von 2017 immerhin schon mal in seinem Artikel 4 festgelegt:

    (4) Verwendet der Arbeitgeber für das Entgelt, das den Beschäftigten zusteht, ein Entgeltsystem, müssen dieses Entgeltsystem als Ganzes und auch die einzelnen Entgeltbestandteile so ausgestaltet sein, dass eine Benachteiligung wegen des Geschlechts ausgeschlossen ist. Dazu muss es insbesondere

    1. die Art der zu verrichtenden Tätigkeit objektiv berücksichtigen,

    2. auf für weibliche und männliche Beschäftigte gemeinsamen Kriterien beruhen,

    3. die einzelnen Differenzierungskriterien diskriminierungsfrei gewichten sowie

    4. insgesamt durchschaubar sein.

    Leider heißt es gleich im folgenden Paragrafen, dass für tarifvertragliche sowie gesetzliche Entgeltregelungen eine Angemessenheitsvermutung gilt, d.h., dass sie per se nicht diskriminierend sein können. Damit werden die richtigen Bestimmungen für die tariflichen Entgeltsysteme wieder außer Kraft gesetzt, obwohl sie auf europäischer Rechtsprechung beruhen und danach für alle Entgeltregelungen gelten müssten. Mit dem Entgelttransparenzgesetz geht es aber leider, wie so oft, wieder einmal drei Schritte voran und wieder zwei zurück.

    Aber vielleicht ist ja die neueste Untersuchung der Wissenschaftler_innen um Ute Klammer ein Anlass, noch einmal Schwung in die Aufwertung der Frauenarbeit zu bekommen und zwei Rückwärts-Schritte aufzuholen. Anregungen und Empfehlungen für die Umsetzung gibt es bereits:

  • Es gibt den Leitfaden der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für eine genderneutrale Tätigkeitsbewertung, der der IL0-Kernarbeitsnorm zur Entgeltgleichheit (Übereinkommen 100) entspricht.
  • Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) hat den Paarvergleich von Karin Tondorf und Andrea Jochmann-Döll3 aus dem Entgeltgleichheits-Check (eg-check) als Instrument für eine geschlechtsneutrale Arbeitsbewertung empfohlen.
  • In einigen Anträgen auf gewerkschaftlichen Frauenkonferenzen ist die Forderung nach geschlechtergerechten Arbeitsbewertungssystemen schon wieder auf der Agenda.
  • Die CEDAW Allianz hat vom Gesetzgeber strengere Regelungen zur Beseitigung der Unterbewertung von Frauenarbeit gefordert.
  • Auswirkungen auch auf die SAGE-Berufe

    Die Neuberechnung des GPG wird auch den Frauen und Männern in den SAGE-Berufen (Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung) helfen, ihre Kämpfe um ein angemessenes und geschlechtergerechtes Entgelt erfolgreich weiter zu führen. Die neuen Analyseergebnisse sind nicht mehr zu übersehen, die Arbeitsbewertung muss schleunigst auf den Prüfstand, auch bei den Tarifvertragsparteien. Der öffentliche Arbeitgeber wäre als erster verpflichtet, diesen Schritt zu tun und den Dialog mit den Gewerkschaften zu beginnen.

    1 Evaluative Diskriminierung“: Arbeitsbewertung als blinder Fleck in der Analyse des Gender Pay Gaps – Ute Klammer · Christina Klenner · Sarah Lillemeier · Tom Heilmann. In: Köln Z Soziol (2022) 74:233–258

    2 „COMPARABLE WORTH“ Arbeitsbewertungen als blinder Fleck in der Ursachenanalyse des Gender Pay Gaps? – June 2018 Ute Klammer, Christina Klenner, Sarah Lillemeier 2018; https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS...

    3 Tondorf, Karin, und Andrea Jochmann-Döll. 2010. Entgeltgleichheit prüfen mit eg-check.de. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Hier wird dasselbe Arbeitsbewertungssystem genutzt wie zur Berechnung des CW Index.

    Artikel als E-Mail versenden